Die Woodcote-Kurve vor Augen. Copse, Maggots, Becketts, Chapel, Stowe, Club und Abbey im Kopf. Die Geschwindigkeit der Hangar Straight im Gefühl. Jeder der 21 Fahrer, der sich an diesem 13. Mai 1950 auf seinem Startplatz bereit machte, wusste, welch Herausforderungen ihn auf dem Silverstone Circuit erwarten würden. Und jeder wusste: Heute ist ein Tag zum Geschichteschreiben. Heute findet das erste Rennen der neugegründeten Formel 1 statt.
Natürlich war am damaligen Samstag - nach englischer Tradition wurden sonntags keine Sportveranstaltungen ausgetragen - niemandem bewusst, dass es sich hierbei schon bald um die Königsklasse des Motorsports handeln würde, die Milliarden umsetzt und Weltstars produziert. Doch einer besonderen Anziehungskraft konnte sich die Formel 1, deren Einführung bereits Ende der 40er Jahre von der FIA beschlossen wurde, schon bei ihrem Debüt gewiss sein.
So kamen fast 200.000 Zuschauer auf das ehemalige Flugplatzgelände der Royal Air Force. Selbst Englands König George und seine Tochter Elisabeth ließen es sich nicht nehmen, dem wilden Treiben vor Ort zuzusehen.
Alfa Romeo: Die ersten Dominatoren der Formel 1
Eigentlich freute sich dabei alles auf das große Duell zwischen Ferrari und Alfa Romeo. Doch weil die Scuderia kurz zuvor im französischen Pau eine böse Niederlage gegen Maserati erlitt, zog Firmenboss Enzo Ferrari vorübergehend den Stecker und ließ sein Team nicht in England auffahren. Damit war klar: Der erste Formel-1-Sieg konnte nur über Alfa Romeo gehen. Mit ihrem 158er Modell waren die Mailänder der Konkurrenz meilenweit überlegen, wie sich schon bei den Saisonläufen, die noch nicht unter dem Deckmantel der Formel 1 ausgetragen wurden, zeigte.
In der Qualifikation bestätigte sich dann das Bild. Alle vier Alfas parkten ihre Autos auf den ersten vier Startplätzen - angeführt von Giuseppe "Nino" Farina, der sich die Pole Position in 1:50,8 Minuten vor den Teamkollegen Luigi Fagioli, Juan-Manuel Fangio und Reginald Parnell schnappte.
Die Zeitabstände waren dabei gewaltig. Johnny Claes, seines Zeichens ein bekannter Jazz-Künstler, war mit geschlagenen 18 Sekunden Rückstand als Letzter am weitesten weg von der Musik. Dazwischen qualifizierten sich mit Birabongse Bhanutej Bhanubhandhu unter anderem ein thailändischer Prinz und mit Emmanuel "Toulo" de Graffenried ein Schweizer Baron für den GP. Insgesamt kam das Fahrerfeld auf ein Durchschnittsalter von 39 Jahren.
Für den Renntag standen dann 70 Runden an. 70 Runden auf einer 4,649 Kilometer langen Strecke, die Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 290 km/h zuließ und deren einziges Sicherheitskonzept aus ein paar Strohballen am Streckenrand bestand. Umfahren mit 300 PS starken Boliden, denen jeglicher Schutz fehlte. Von Piloten, die zwar jede Menge Mut, aber keine Helme oder feuerfeste Kleidung mit sich trugen.
Ein Hase als Hindernis
An vorderster Front: Polesitter Farina, der die 4-3-4-Formation am Start anführte und auch als Erster in die Woodcote abbog. Dicht dahinter folgten Fagioli und Fangio. Immer wieder wechselte die Spitzenposition zwischen den drei "F's" im Laufe des Rennens - mal hatten die Italiener die Nase vorn, mal war es der Argentinier, der in seiner Karriere noch zu fünf WM-Titeln fahren sollte.
Auch nach den Tankstopps behielten die "Alfettas" die Führung. Zwischenzeitlich durchkreuzte Lokalmatador und Gastfahrer Reg Parnell die Pläne des Trios, als er sich bis auf Rang zwei vorschob und dem englischen Publikum so die Hoffnung auf einen Sieg schenkte. Vergebens.
Die Fauna machte Parnell nämlich einen Strich durch die Rechnung, konkreter gesagt: ein Hase. Mit einem solchen kollidierte der Brite und beschädigte sich bei dem Zusammenstoß den Kühlergrill. Mit 52 Sekunden Rückstand wurde er Dritter.
Dass er es überhaupt zur Siegerehrung schaffte, verdankte er einem Fahrfehler Fangios. Der Maestro drehte sich in der Stowe von der Strecke und prallte in einen Strohballen. Dabei brach die Ölleitung am 1,5-Liter-Kompressor-Motor, sodass Fangio seinen Alfa acht Runden vor Schluss abstellen musste.
Giuseppe Farina der erste Formel-1-Champion
Dann, nach fast zweieinhalb Stunden und 325 gefahrenen Kilometern, war das erste Formel-1-Rennen der Geschichte tatsächlich Geschichte. Als Sieger überquerte Farina die Ziellinie mit 2,6 Sekunden Vorsprung vor seinen Stallgefährten Fagioli und Parnell. Vierter wurde der Franzose Yves Giraud-Cabantous im Talbot - mit über zwei Runden Rückstand. Zehn Fahrer schieden während des Rennens aus.
Der Große Preis von Großbritannien, von der FIA auch ehrenhalber "Großer Preis von Europa" genannt, war der erste von sieben WM-Läufen in der 1950er Saison. Alle gewann Alfa Romeo. Am Ende krönte sich Silverstone-Sieger Farina zum ersten Formel-1-Weltmeister aller Zeiten.
Mittlerweile sind über 900 Grands Prix gefahren. Doch Woodcote, Copse, die Kurvenkombination Maggots-Becketts-Chapel und die Hangar Straight haben bis heute nichts an ihrem Reiz verloren.