Wenn Mercedes beim ersten Grand Prix im neuen Jahr nicht den Sieg erringt, müssen einige Formel-1-Fans einen Besen fressen. Die Buchmacher sind sich nach dem Weltmeisterjahr und den Testfahrten einig: An den Silberpfeilen führt kein Weg vorbei. Selbst die Konkurrenz von Ferrari und Red Bull spricht zurückhaltend nur von einzelnen Siegen, statt den WM-Titel anzupeilen.
Ihren wahren Speed offenbarten Nico Rosberg, Lewis Hamilton und Ersatzpilot Pascal Wehrlein während der Testfahrten in Jerez und Barcelona nur selten.
Sie spulten lieber Longrun um Longrun ab. "Ihr habt unser geheimes Projekt entdeckt: Le Mans", witzelte Motorsportdirektor Toto Wolff schon am ersten Testtag, als Rosberg 157 Runden schaffte und sein Mittagsessen im Cockpit reinstopfte.
Rosberg schießt gegen Red Bull
"Wenn man siegt, gibt es das Risiko, zufrieden zu sein und die Motivation zu verlieren. Die Gefahr haben wir. Vorher haben wir Red Bull getrunken, jetzt ist es schon verdaut", erlaubte sich Rosberg bei der Gazzetta dello Sport einen Seitenhieb in Richtung der Ex-Weltmeister.
Die Fehleranfälligkeit, die sich unter anderem in zerberstenden Bremsscheiben, Bränden im Qualifying und einem aussetzenden Elektroantrieb beim Saisonfinale äußerte, soll der Vergangenheit angehören.
Die Firmenzentrale in Stuttgart kann dem Werksteam aus Brackley kaum vorwerfen, im Winter die Eier in den kühlenden Pool gehängt zu haben. Im Gegenteil: Sie kochen seit Monaten auf höchster Flamme: Der W06 ist eine konsequente Weiterentwicklung des Weltmeisterautos - trotzdem unterscheidet sich das Konzept elementar.
Silberpfeil unter der Haube generalüberholt
Unter der Abdeckung wurde das Auto generalüberholt. Das seit dem letzten Deutschland-GP geltende Verbot der hydraulischen Verbindung von Vorder- und Hinterradaufhängung, das für eine extrem stabile Lage der Autos gesorgt hatte, erzwang eine komplette Neuentwicklung.
"Das Aufhängungskonzept des W05 wurde rund um das System entwickelt, das Aufhängungssystem des W06 wurde von Beginn an ohne FRIC entworfen. Dadurch entstanden Möglichkeiten zur Optimierung in diesem Bereich", sagt Wolffs Technik-Pendant Paddy Lowe zurückhaltend: "Wir mussten zulegen, weil unsere Konkurrenten das Gleiche tun werden."
Fahrverhalten unbefriedigend
Ganz aufgegangen ist der Plan nicht, die Fahrer senden Misstöne. Trotz Bestzeiten beim letzten Test in Barcelona war Rosberg unzufrieden, er rodelte sogar ins Kiesbett: "Von außen mag es im Vergleich zu den anderen gut ausgesehen haben, aber ich hatte viel Übersteuern. Das Heck ist immer herumgerutscht. Es gab schlechte Traktion und so weiter."
Der Weltmeister, der auf die prestigeträchtige Startnummer 1 verzichtet und lieber weiter mit seiner 44 fährt, erlebte dieselben Probleme. "Ich glaube, dass Nico sich nicht wirklich gut im Auto gefühlt hat. Ich wollte sehen, ob es mir genauso geht - und so war es dann auch", bekannte Hamilton. Mercedes kann bisher offenbar kaum vorhersagen, wie sich Setup-Änderungen auf das Fahrverhalten auswirken.
Lauda erwartet Konkurrenz im WM-Kampf
Mercedes muss die Konkurrenz im Auge behalten, weil sie mehr Verbesserungspotenzial hat. "Das wird eine richtig interessante Saison, in der es nicht mehr nur um Mercedes gehen wird", sagte Aufsichtsratschef Niki Lauda der Kronen Zeitung: "Die Fahrer-WM wird wahrscheinlich nicht mehr alleine zwischen Lewis und Nico entschieden. Da wird ein Dritter oder ein Vierter mitmischen."
Ferrari, Red Bull und Co. können die Lücke zu den Weltmeistern verkleinern, weil sie mehr Entwicklungspotenzial hatten. Ein fast perfektes Auto weiterzuentwickeln ist schwieriger, als eine bockige Diva mit Krafttraining langsam in Form zu bringen.
2015 werden die Powerunits der Konkurrenz wesentlich mehr Leistung haben. Ein Beispiel: 2014 ließ Ferraris Chassis-Abteilung unnötig viel Platz für die Antriebseinheit. Die Motorenspezialisten des mittlerweile geschassten Abteilungsleiters Luca Marmorini wollten zeitgleich die alte Aerodynamikschwäche lösen, indem sie bei kompakter Bauweise auf Leistung verzichteten. Davon wussten die anderen Abteilungen aber nichts.
Während die anderen Hersteller den Winter über einen Kraftakt hinlegten, um den kolportierten Rückstand von bis 60 PS wettzumachen, hält Mercedes sich noch zurück. Zum Saisonauftakt nutzen die Silberpfeile weniger als die Hälfte der Tokens, die ihnen für Änderungen an der Antriebseinheit zur Verfügung stehen. Weitere Updates gibt es im Saisonverlauf, Ferrari kann also auf einen Vorteil hoffen.
Wolff: "Kein freundliches Schunkeln"
"Ich denke, es ist aufregender, wenn man gegen ein anderes Team kämpft", freut sich Hamilton schon auf neue Konkurrenz. Dabei muss er zunächst seinen eigenen Teamkollegen abwehren. Rosberg sinnt auf Revanche. "Es wäre total illusorisch anzunehmen, dass es ein freundliches Schunkeln wird", sagt Wolff über das interne Duell.
"Nico wird in diesem Jahr ein besserer Fahrer sein. Er hat letztes Jahr das erste Mal um die WM gekämpft, Lewis Hamilton hat diese Erfahrung schon viermal gemacht und nur zweimal gewonnen", machte David Coulthard im SPOX-Interview klar.
Konfliktpotenzial ist vorhanden: Rosberg hat Blut geleckt, will noch immer seinem Vater nacheifern - und muss dafür Hamilton aus dem Weg räumen. "Es wird schwierige Zeiten geben, das ist bei uns unvermeidlich", sagt der Vizeweltmeister: "Noch vor ein paar Jahren wäre Lewis bei mir vorbeigekommen, um Hamburger zu essen. Das ist vorbei."
Stallorder bleibt Tabuthema
Auch 2015 steht für die Teamleitung eine aufregende Aufgabe an. Neuerliche Eklats wie in Monaco, als Hamilton seinem Teamkollegen ein absichtliches Parkmanöver im Qualifying vorwarf, oder in Spa, als Rosberg beim Spurwechsel den Hinterreifen des Briten aufschlitzte, dürfen nicht mehr vorkommen.
"Ich fühle mich frisch, ich fühle mich fit, ich fühle mich erholt... ich fühle mich bereit", so Hamilton und macht seinem deutschen Partner wenig Hoffnungen: "Als Fahrer wird man mit jeder Saison stärker. Deshalb will ich besser sein als letztes Jahr."
Eine Stallorder wird es zumindest nicht geben. "Sie sind Teamkollegen, die gegeneinander um die Formel-1-Weltmeisterschaft kämpfen. Deshalb kann man nicht erwarten, dass sie Freunde sind", sagte Wolff der Press Association: "Wir wussten, dass es schwierige Momente geben könnte und wir sind uns bewusst, dass das dieses Jahr auch passieren kann. Aber wir haben viel aus dem letzten Jahr, unserer Zusammenarbeit und der Analyse unserer Fehler gelernt. Wir versuchen, die Dinge 2015 besser zu machen."
Teamspirit, Zusammenhalt, Respekt - bei Mercedes bleibt alles beim Alten. Krawallige Kampfansagen an die Konkurrenz sind nicht nötig. Die für die WM nötigen Siege sind schon jetzt fest verbucht.
Der Formel-1-Kalender 2015 im Überblick