Am übelsten spielten die Gäste aber dem englischen Mittelläufer (heute würde man sagen: Innenverteidiger) Harry Johnston mit.
Der war nämlich dem gegnerischen Mittelstürmer zugeteilt. In Manndeckung. Da aber der Mann mit der 9 auf dem Rücken, Nandor Hidegkuti, sich unverschämter Weise ständig ins Mittelfeld zurückfallen ließ, wusste der ratlose Johnston schlicht und einfach nicht, was er tun sollte. Dem Gegner ins Mittelfeld folgen und so die zentrale Abwehr entblößen, oder lieber hinten bleiben und Hidegkuti schalten und walten lassen?Nach den 90 Minuten klagte Johnston: "Ich hatte niemanden zu decken." Hidegkuti allerdings hatte drei Tore erzielt.
Der englische Fernsehkommentator Kenneth Wolstenholme kann sich während des gesamten Spiels kaum beruhigen, dass Hidegkuti teilweise schon in der eigenen Hälfte angespielt wird. "Das ist der Mittelstürmer!", sagt er immer wieder.
Sechs Monate später in Budapest versuchte sich Syd Owen in Johnstons Rolle als Mittelläufer. Ungarn siegte mit 7:1, Hidegkuti traf erneut. Und Owen sagte: "Es war, als ob man gegen Außerirdische spielt." (siehe Grafik)
Spielmacher Hidegkuti
Anders als im WM-System üblich, spielten nun nicht die beiden sogenannten Halbstürmer zurückgezogen, sondern der zentrale Mann. Dafür attackierten Puskas und Kocsis durch die zentral freigewordene Lücke. Und wurden so zu den großen Stars der Ungarn.
Der Regisseur war allerdings der zurückgezogene Hidegkuti, den Puskas so beschrieb: "Er war perfekt in dieser Rolle, wartete im vorderen Mittelfeld ab, spielte die tödlichen Pässe, riss die Abwehr mit seinen fantastischen Läufen auseinander und traf auch selbst." Torgefährlicher Spielmacher würden wir heute dazu sagen.
Entscheidend im ungarischen Spiel war allerdings auch, dass Trainer Sebes seinen Schützlingen die Freiheit zum Rochieren gab. Zu einer Zeit, als vor allem in England alle noch sklavisch an ihrer Position klebten.
Die Positionswechsel der Ungarn verstärken die Verwirrung der Gegner nur noch. Immer wieder stießen die äußeren Verteidiger mit nach vorne. Heute ist das Standard, damals war es unbekannt. Vom System der Ungarn zur nächsten taktischen Neuerung, dem brasilianischen 4-2-4, war es nicht mehr weit.Deutschland besiegt Wunderteam
Doch die Ungarn selbst wurden für ihre Dominanz nicht belohnt. 32 Spiele in Folge war das "Wunderteam" unbesiegt geblieben, bis es im Finale der WM 1954 auf Deutschland traf. Denn Deutschlands Trainer Sepp Herberger hatte einen Plan. "Ich glaube, Herberger war damals der einzige Trainer der Welt, der das System der Ungarn durchschaute", sagt 54er Weltmeister Horst Eckel im Gespräch mit SPOX.
Herberger war nämlich in Wembley, als Ungarn die Engländer entzauberte. Und er soll schon direkt nach dem Spiel gesagt haben, er wisse, wie man gegen Ungarn spielen müsse. "Wir haben vor der WM einen Lehrgang in München gehabt", erinnert sich Eckel. "Und da hat Herberger uns gesagt, dass wir, wenn es zu einem Spiel gegen Ungarn kommen würde, anders als gegen jede andere Mannschaft der Welt spielen würden. Aber er hat uns nicht genau gesagt, was er vorhatte."
Youngster Eckel gegen den Superstar
Bei der 3:8-Niederlage in der WM-Vorrunde gegen Ungarn setzte Herberger dieses Vorhaben nicht in die Tat um. Stattdessen trat er mit einem B-Team an und nahm die Niederlage in Kauf. Im Finale packte Herberger seinen Plan allerdings aus: Er instruierte seinen zentralen Verteidiger Werner Liebrich, sich von Hidegkuti auf gar keinen Fall aus der Abwehr locken zu lassen. Stattdessen beauftragte er seinen rechten Läufer Horst Eckel mit der Manndeckung gegen Hidegkuti.
Eckel: "Ich war schon überrascht, dass ich als Jüngster diese Aufgabe bekam." Und Eckel ist auch der erste, der zugibt, dass es ihm nicht immer gelang, Hidegkuti aus dem Spiel zu nehmen: "Ich konnte ihn nicht einhundertprozentig ausschalten. Das war schon ein Weltklassemann." Hidegkuti gelang im Finale jedoch kein Tor: Einmal scheiterte er am Pfosten, und dann parierte Toni Turek im deutschen Tor mit der vielleicht besten Parade im Finale.
Taktische Ignoranz
Ohne das nötige Glück hätte Deutschland die Ungarn kaum geschlagen. Oder ohne den starken Regen, der das Passspiel der Ungarn im Morast versinken ließ, und die Überheblichkeit der Ungarn nach ihrer Siegesserie, dem Kantersieg in der Vorrunde und der 2:0-Führung nach acht Minuten.Aber Herbergers Planung hatte seinem Team eine Chance gegeben, die England gegen Ungarn nie hatte. Und das zu einer Zeit, in der in Deutschland nie über taktische Fragen gesprochen wurde, wie sich Eckel erinnert: "Wir spielten das WM-System und da hatte jeder seine Rolle. Die war jedem klar und darüber wurde nie diskutiert."
Wie wenig in Deutschland von Taktik geredet wurde, belegt eine Geschichte: Als der deutsche Reporter Herbert Zimmermann vor Beginn des Finals den Zuschauern die Aufstellung der beiden Teams vortrug, so präsentierte er sie, als ob beide Mannschaften noch im 2-3-5 aufliefen - einem System, das zu dieser Zeit schon Jahrzehnte überholt war. Und schaut man sich auf der Internetseite des "Kicker" die taktische Aufstellung zum WM-Finale 1954 an, so werden auch dort beide Teams im 2-3-5 präsentiert. Bis heute.