Ungarn, Brasilien und das Wunder von Bern

SPOXAndreas Renner
15. Juli 200915:39
Szene aus dem Kinofilm zur WM 1954 von Sönke Wortmann: "Das Wunder von Bern" (2003)Imago
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Nie wurde in Deutschland soviel über Fußball-Taktik diskutiert wie heute. Doch woher kommen 4-4-2 und 4-2-3-1 und ballorientierte Raumdeckung? Gemeinsam mit Sky-Kommentator und SPOX-Blogger Andreas Renner haben wir versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. Herausgekommen ist die SPOX-Themenwoche: Die Geschichte der Fußball-Taktik in acht Teilen.

SPOXNandor Hidegkuti war bereits 30 Jahre alt. Ein Alter, in dem die meisten Fußballerkarrieren sich unaufhaltsam dem Ende nähern. Doch Hidegkutis beste Jahre standen noch bevor. Denn er wurde zum Schlüsselspieler von Ungarns "goldener Mannschaft" der 50er Jahre.

Bis 1952 hatte Hidgekuti meist auf dem rechten Flügel gespielt, sowohl unter Trainer Marton Bukovi bei MTK Budapest als auch im Nationalteam bei Gusztav Sebes, und auch schon große Erfolge gefeiert wie den Olympiasieg 1952.

Seine Bestimmung fand Hidegkuti als zurückgezogener Mittelstürmer im Angriff der Magyaren. Ein Spiel definierte Higekuti als Schlüsselspieler der Ungarn und machte seine Mannschaft zur besten der Welt. Es war der 25. November 1953, als Ungarn in Wembley mit 6:3 triumphierte. Es war, nach fast 80 Jahren, die erste Heimniederlage der Engländer gegen ein nicht-britisches Team. Und es war der Schlusspunkt einer Entwicklung, die lange vorher begonnen hatte.

Jahrzehntelang hatten die Engländer konsequent an ihrer Spielweise festgehalten. Als Erfinder des Fußballs waren sie selbstverständlich davon ausgegangen, dass ihre Führungsrolle nicht in Frage gestellt würde. Auf Ewigkeit.

Österreich als Wegbereiter

Doch auf dem europäischen Kontinent und in Südamerika gab es durchaus andere Spielideen. Schon in den 20er Jahren hatte es in Österreich ein starkes Team unter Trainer Hugo Meisl gegeben. Der schmächtige Mittelstürmer Mathias Sindelar wurde so etwas wie der erste Künstler der Fußballgeschichte, eine Art Netzer der Fußball-Frühgeschichte.

Und die Österreicher feierten auch große Erfolge. Zum Beispiel ein 5:0 gegen Schottland im Jahr 1931. Kurz darauf folgte, hoppla, ein 6:0 gegen Deutschland in Berlin. Titel gibt es für die Österreicher aber keine, mehr als Platz vier bei der WM 1934 war für sie nicht drin.

Das System Meisls war ein gewöhnliches 2-3-5, das WM-System von Herbert Chapman war ihm zu defensiv orientiert. Der entscheidende Unterschied zum englischen Fußball war aber nicht das System, sondern der Stil: Meisl praktizierte die Abkehr vom britischen Kraftfußball und ein Hinwenden zu technisch geprägten Pass-Stafetten.

Die Österreicher hielten den Ball in den eigenen Reihen und kreierten so den bis heute gängigen Gegensatz zwischen dem physisch geprägten Fußball der Nordeuropäer und dem technischeren Spiel des Donau-Fußballs, der nicht nur in Wien und Budapest, sondern auch in Prag gepflegt wurde. Aus dieser Tradition kamen also die Ungarn in den 50ern.

WM? Unter Englands Würde

Davon hatte man jedoch auf der Insel wenig mitbekommen. Schließlich lebte das Fußball-Mutterland fröhlich in selbst gewählter Isolation. 1928 war die englische FA aus der FIFA ausgetreten. Und so fanden die ersten drei Weltmeisterschaften ohne englische Beteiligung statt. Weil man die Teilnahme an einem solchen Wettbewerb unter der britischen Würde fand.

Bei ihrer ersten WM-Teilnahme 1950 setzte es für die Engländer dann aber eine peinliche 0:1-Niederlage gegen das Fußball-Entwicklungsland USA. Ein deutlicher Hinweis, dass der Rest der Welt die Insel eingeholt oder gar überflügelt hatte. Der ungarische Sieg in Wembley war der logische Endpunkt dieser Entwicklung.

Deutschland beendet Ungarns Vorherrschaft

SPOXDie Spielweise der Ungarn sorgte bei den Engländern 1953 für totale Ratlosigkeit. Schon die Tatsache, dass die Rückennummern der ungarischen Spieler nicht der gewohnten Ordnung im WM-System entsprachen, sorgte für Bestürzung.

Am übelsten spielten die Gäste aber dem englischen Mittelläufer (heute würde man sagen: Innenverteidiger) Harry Johnston mit.

SPOXDer war nämlich dem gegnerischen Mittelstürmer zugeteilt. In Manndeckung. Da aber der Mann mit der 9 auf dem Rücken, Nandor Hidegkuti, sich unverschämter Weise ständig ins Mittelfeld zurückfallen ließ, wusste der ratlose Johnston schlicht und einfach nicht, was er tun sollte. Dem Gegner ins Mittelfeld folgen und so die zentrale Abwehr entblößen, oder lieber hinten bleiben und Hidegkuti schalten und walten lassen?

Nach den 90 Minuten klagte Johnston: "Ich hatte niemanden zu decken." Hidegkuti allerdings hatte drei Tore erzielt.

Der englische Fernsehkommentator Kenneth Wolstenholme kann sich während des gesamten Spiels kaum beruhigen, dass Hidegkuti teilweise schon in der eigenen Hälfte angespielt wird. "Das ist der Mittelstürmer!", sagt er immer wieder.

Sechs Monate später in Budapest versuchte sich Syd Owen in Johnstons Rolle als Mittelläufer. Ungarn siegte mit 7:1, Hidegkuti traf erneut. Und Owen sagte: "Es war, als ob man gegen Außerirdische spielt." (siehe Grafik)

Spielmacher Hidegkuti

Anders als im WM-System üblich, spielten nun nicht die beiden sogenannten Halbstürmer zurückgezogen, sondern der zentrale Mann. Dafür attackierten Puskas und Kocsis durch die zentral freigewordene Lücke. Und wurden so zu den großen Stars der Ungarn.

Der Regisseur war allerdings der zurückgezogene Hidegkuti, den Puskas so beschrieb: "Er war perfekt in dieser Rolle, wartete im vorderen Mittelfeld ab, spielte die tödlichen Pässe, riss die Abwehr mit seinen fantastischen Läufen auseinander und traf auch selbst." Torgefährlicher Spielmacher würden wir heute dazu sagen.

Entscheidend im ungarischen Spiel war allerdings auch, dass Trainer Sebes seinen Schützlingen die Freiheit zum Rochieren gab. Zu einer Zeit, als vor allem in England alle noch sklavisch an ihrer Position klebten.

Die Positionswechsel der Ungarn verstärken die Verwirrung der Gegner nur noch. Immer wieder stießen die äußeren Verteidiger mit nach vorne. Heute ist das Standard, damals war es unbekannt. Vom System der Ungarn zur nächsten taktischen Neuerung, dem brasilianischen 4-2-4, war es nicht mehr weit.

Deutschland besiegt Wunderteam

Doch die Ungarn selbst wurden für ihre Dominanz nicht belohnt. 32 Spiele in Folge war das "Wunderteam" unbesiegt geblieben, bis es im Finale der WM 1954 auf Deutschland traf. Denn Deutschlands Trainer Sepp Herberger hatte einen Plan. "Ich glaube, Herberger war damals der einzige Trainer der Welt, der das System der Ungarn durchschaute", sagt 54er Weltmeister Horst Eckel im Gespräch mit SPOX.

Herberger war nämlich in Wembley, als Ungarn die Engländer entzauberte. Und er soll schon direkt nach dem Spiel gesagt haben, er wisse, wie man gegen Ungarn spielen müsse. "Wir haben vor der WM einen Lehrgang in München gehabt", erinnert sich Eckel. "Und da hat Herberger uns gesagt, dass wir, wenn es zu einem Spiel gegen Ungarn kommen würde, anders als gegen jede andere Mannschaft der Welt spielen würden. Aber er hat uns nicht genau gesagt, was er vorhatte."

Youngster Eckel gegen den Superstar

Bei der 3:8-Niederlage in der WM-Vorrunde gegen Ungarn setzte Herberger dieses Vorhaben nicht in die Tat um. Stattdessen trat er mit einem B-Team an und nahm die Niederlage in Kauf. Im Finale packte Herberger seinen Plan allerdings aus: Er instruierte seinen zentralen Verteidiger Werner Liebrich, sich von Hidegkuti auf gar keinen Fall aus der Abwehr locken zu lassen. Stattdessen beauftragte er seinen rechten Läufer Horst Eckel mit der Manndeckung gegen Hidegkuti.

Eckel: "Ich war schon überrascht, dass ich als Jüngster diese Aufgabe bekam." Und Eckel ist auch der erste, der zugibt, dass es ihm nicht immer gelang, Hidegkuti aus dem Spiel zu nehmen: "Ich konnte ihn nicht einhundertprozentig ausschalten. Das war schon ein Weltklassemann." Hidegkuti gelang im Finale jedoch kein Tor: Einmal scheiterte er am Pfosten, und dann parierte Toni Turek im deutschen Tor mit der vielleicht besten Parade im Finale.

Taktische Ignoranz

Ohne das nötige Glück hätte Deutschland die Ungarn kaum geschlagen. Oder ohne den starken Regen, der das Passspiel der Ungarn im Morast versinken ließ, und die Überheblichkeit der Ungarn nach ihrer Siegesserie, dem Kantersieg in der Vorrunde und der 2:0-Führung nach acht Minuten.

Aber Herbergers Planung hatte seinem Team eine Chance gegeben, die England gegen Ungarn nie hatte. Und das zu einer Zeit, in der in Deutschland nie über taktische Fragen gesprochen wurde, wie sich Eckel erinnert: "Wir spielten das WM-System und da hatte jeder seine Rolle. Die war jedem klar und darüber wurde nie diskutiert."

Wie wenig in Deutschland von Taktik geredet wurde, belegt eine Geschichte: Als der deutsche Reporter Herbert Zimmermann vor Beginn des Finals den Zuschauern die Aufstellung der beiden Teams vortrug, so präsentierte er sie, als ob beide Mannschaften noch im 2-3-5 aufliefen - einem System, das zu dieser Zeit schon Jahrzehnte überholt war. Und schaut man sich auf der Internetseite des "Kicker" die taktische Aufstellung zum WM-Finale 1954 an, so werden auch dort beide Teams im 2-3-5 präsentiert. Bis heute.

Der Mythos Brasilien wird geboren

SPOXVier Jahre später lernte die Welt Brasilien so richtig kennen. Klar, die Brasilianer waren 1950 erst im entscheidenden Spiel (ein echtes Finale gab es damals nicht) an Uruguay gescheitert und hatten 1954 das Viertelfinale erreicht (2:4 gegen Ungarn).

Mit der brasilianischen Dominanz, die wir heute kennen, hatte das wenig zu tun. Die begann nämlich bei der WM 1958 in Schweden. Mit dem 4-2-4-System.

Das gar nicht so weit entfernt war von dem, was die Ungarn in den Jahren zuvor geboten hatten. Dafür gab es auch Gründe.

Zwar war die brasilianische Variante des 4-2-4 schon vor seiner Ankunft kreiert worden, doch als der ungarische Coach Bela Guttmann 1957 Sao Paulo übernahm, verpasste er dem Spiel der Brasilianer einen Schuss Direktheit und Tempo. Sao Paulo holte den Titel, Guttmann ging zurück nach Europa, doch sein Assistent Vicente Feola führte seine Arbeit fort und wurde kurz vor der WM 1958 zum Nationaltrainer berufen.

Selecao opfert 470 Zähne

Der stark übergewichtige Feola, der an Herzproblemen litt, steht im Ruf, so entspannt gewesen zu sein, dass er ab und an beim Training einnickte, was vielleicht nur eine Legende ist.

Die Weltmeisterschaft jedenfalls plante er generalstabsmäßig: 25 potentielle Trainingsgelände wurden besichtigt, bevor man sich für eins entschied. Im Hotel der Brasilianer wurden alle weiblichen Mitarbeiter entlassen, um die Spieler nicht abzulenken.

Die Akteure wurden medizinisch durchgecheckt, den 33 Spielern wurden insgesamt 470 Zähne gezogen, die meisten mussten wegen Parasiten- und Würmerbefall behandelt werden und einer wegen Syphilis.

Außerdem arbeitete Feola mit einem Psychologen zusammen, der prompt empfahl, sowohl Pele ("zu infantil") als auch Garrincha ("ungeeignet für Drucksituationen") aus dem Team zu nehmen - ausgerechnet die beiden Stars im Team.

Feola antwortete: "Vielleicht haben sie Recht. Aber leider verstehen sie nichts von Fußball". Der Ruf der Psychologen im Fußball hatte einen schweren Schlag erlitten.

Renaissance der Raumdeckung

Die große Neuerung der Brasilianer war allerdings die Wiederentdeckung der Raumdeckung (etwa 40 Jahre, bevor wir Deutschen uns diesem Trend anschlossen), die mit der Änderung der Abseitsregel im Jahr 1925 von einer konsequenten Manndeckung abgelöst worden war. Die war nun (für Brasilien zumindest) passé, was die Mannschaft flexibler machte.

SPOXEiner der beiden Mittelfeldläufer wurde nach hinten gezogen, um der Mannschaft einen vierten Verteidiger zu geben. Der andere blieb im defensiven Mittelfeld.

Die offensive Mittelfeldposition übernahm ein ehemaliger Stürmer, wie bei den Ungarn, nur dass die Brasilianer nicht den Mittelstürmer zurückzogen, sondern den rechten Halbstürmer Didi. (siehe Grafik)

Geburt eines Mythos

Und Pele als einer von zwei zentralen Angreifern agierte etwas hinter seinem Kollegen Vava. Sozusagen als hängende Spitze. Die nun neu geschaffenen Außenverteidiger agierten auch offensiv. Auf Rochaden des Gegners hatte man durch die Raumdeckung die passende Antwort.

Man deckt einfach den Spieler, der vor einem auftaucht, egal, wer er ist (und welche Rückennummer er trägt). Nun sorgte ein zurückhängender Stürmer (zumindest in der Theorie) nicht mehr für totale Verwirrung bei der Verteidigung.

Die Kombination aus neuer Taktik und individueller Klasse (ja, Pele und Garrincha durften spielen) war unwiderstehlich. Die Südamerikaner überzeugten in der Offensive und in der Defensive: Brasilien holte den Titel in Schweden mit fünf Siegen, einem Unentschieden und 16:4 Toren. Ein Mythos war geboren.

Aber zu dieser Zeit pflegten nicht alle den offensiven, attraktiven Fußball. In Italien zeigte sich erstmals die hässliche Fratze des Spiels: der Catenaccio. Den gibt es am Donnerstag...

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