Klinsmann: "Fußball ist globaler Wild West"

Stefan Rommel
07. Juni 201117:21
Jürgen Klinsmann übergab den 16 Teilnehmerländern der Frauen-WM die MannschaftsbusseImago
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2006 führte Jürgen Klinsmann die deutsche Nationalmannschaft auf den dritten WM-Platz. Jetzt, fünf Jahre später, überreichte der 46-Jährige als Botschafter des FIFA-Sponsors Hyundai die 16 Mannschaftsbusse an die Teilnehmerländer der Frauen-WM. SPOX traf den Ex-Bayern-Trainer zum Gespräch über die Liebe der Amerikaner zu Dirk Nowitzki, die Versäumnisse im Profi-Fußball, die neue Trainer-Generation und die Faszination des FC Barcelona.

SPOX: Herr Klinsmann, Sie sind zusammen mit Kanzlerin Angela Merkel und Thomas Gottschalk bei US-Präsident Barack Obama zum Essen ins Weiße Haus eingeladen. Wie kommen Sie zu der Ehre?

Jürgen Klinsmann: Ich bekam eine Einladung zum Mittagessen von Vize-Präsident Joe Biden. Die Kanzlerin hat mir dann noch eine Einladung zum Abendessen geschickt. Jetzt esse ich also zu Mittag und zu Abend im Weißen Haus. Das ist außergewöhnlich und unheimlich spannend. Ich bin zwar nur einer von mehreren Delegationsmitgliedern, aber trotzdem ist das für mich eine große Ehre.

SPOX: Obama ist ein großer Basketball-Fan. Verfolgen Sie wie er derzeit auch die NBA-Finals?

Klinsmann: Aber selbstverständlich. Seit wir vor 13 Jahren in die USA gezogen sind, bin ich Basketball-Fan. Wir hatten auch lange Dauerkarten für die Lakers, aber leider nicht immer genügend Zeit. Aber in der ganz besonderen Konstellation mit Dirk Nowitzki in den Finals muss man einfach zum Fan werden.

SPOX: Das sagen Sie... In Deutschland ist die Berichterstattung darüber leider sehr überschaubar.

Klinsmann: Das ist mir auch aufgefallen. Dabei müsste Dirk Nowitzki derzeit das Thema schlechthin sein. Das ist momentan das Highlight in der Sportwelt! Was Dirk da bewegt, ist phänomenal. Er bekommt in den Staaten die Front Pages der Zeitungen, er erfährt eine unglaubliche Anerkennung. Die Fangemeinde ist ziemlich gespalten, zwischen LeBron James und ihm. Aber die neutralen Basketball-Fans wollen, dass sich Dirk jetzt endlich diesen Titel holt: "We want the German to win!"

SPOX: Dabei wird Nowitzki dem amerikanischen Bild des Sporthelden mit seiner ruhigen und besonnenen Art gar nicht gerecht.

Klinsmann: Ich denke, dass es derzeit genau diese Art ist, die ihn so beliebt macht. Er ist nicht der große Showman oder Sprücheklopfer. Er liefert seine Leistung ab, das reicht. Und er ist mittlerweile schon ein "Veteran", deshalb wünscht man ihm auch den Titel.

SPOX: Was muss Nowitzki noch machen, um in Deutschland auf einer Stufe mit Schmeling, Beckenbauer, Becker oder Schumacher zu stehen?

Klinsmann: Dirk ist das Aushängeschild des deutschen Basketballs, seit Detlef Schrempf aufgehört hat. Und über seinen Sport hinaus ist er ein ausgezeichneter Repräsentant für Deutschland. Aber: Um ganz nach oben, auf die höchste Stufe der Anerkennungsleiter zu kommen, braucht er auch diesen Titel.

SPOX: Haben Sie eigentlich noch regelmäßigen Kontakt zu Billy Beane (General Manager des MLB-Klubs Oakland Athletics, Anm. d. Red.)?

Klinsmann: Wir telefonieren alle paar Wochen. Er ist mit seiner Investorengruppe immer noch bei den San Jose Earthquake involviert, sein Hauptaugenmerk liegt aber weiter klar auf dem Baseball.

SPOX: Von seinen Ideen haben Sie sich einst auch inspirieren lassen. Glauben Sie immer noch daran, dass der Fußball von anderen Sportarten lernen kann?

Klinsmann: Alleine in der Fort- und Weiterbildung der Athleten sind uns andere Sportarten immer noch weit voraus, da finden viele Dinge im Fußball noch gar nicht statt. Die Persönlichkeitsentwicklung des Spielers befindet sich im Fußball noch immer in einem Anfangsstadium. Hockey-, Basketball- oder Handballspieler sind uns da weit voraus. Einzig der FC Barcelona ist hier eine Ausnahme.

Jürgen Klinsmann mit SPOX-Reporter Stefan Rommel im Hyundai-Mannschaftsbus der DFB-FrauenSPOX

SPOX: Warum ist das in anderen Sportarten anders?

Klinsmann: Weil diese Spieler nicht das große Geld verdienen und deshalb nebenher studieren müssen. Sie müssen zu ihrer aktiven Zeit den Kopf benutzen, damit sie nach dem Sport eine Perspektive für ihr restliches Leben haben. Das macht sie als Athleten und Menschen früher reif, als es bei Fußballern der Fall ist. Denn man muss die Sportler ja auch vorbereiten auf den Tag danach. Hier liegt das meiste Steigerungspotenzial. Aber im Fußball wird das kaputtgetreten durch die kurzfristige Denkweise, dass der Spieler in einem begrenzten Zeitraum möglichst viel erreichen soll. Der Erfolg rechtfertigt alles, die Jungs werden ausgequetscht. Aber das ist ein Trugschluss. Da können wir noch sehr viel lernen von anderen Sportarten.

SPOX: Wie sieht das in der Praxis aus?

Klinsmann: Es muss meiner Meinung nach immer eine akademische Schulung geben, eine Weiterbildung. Die sollte parallel zum Sport erfolgen. Wenn man dann aber Profi ist, stoppt diese Weiterbildung plötzlich. Dann heißt es nur noch: "Konzentrier' dich auf deinen Sport!" Das ist eine fatale Denkweise, weil der Mensch dabei auf der Strecke bleibt. Man muss mit beiden Beinen im Leben stehen - und nicht alle Dinge des täglichen Lebens weitergeben an die Berater, die die Dinge im Hintergrund abwickeln. Jeder muss Herr im Hause und Herr seiner Entscheidungen sein.

SPOX: Ist die Unabhängigkeit immer noch ein wichtiges Gut für einen Profi?

Klinsmann: Unabhängigkeit ist ein großes Wort. Man kann unabhängig sein, sein Geld bei Seite schaffen - vergisst dabei aber, sein Leben mit Inhalten zu füllen. Wenn ein Fußballspieler im Laufe der Jahre die Möglichkeit hat, verschiedene Dinge kennenzulernen, andere Sichtweisen zu erfahren, in mehreren Ländern zu spielen, dann soll er es machen. Es ist wichtig für Spieler wie Mesut Özil oder Sami Khedira, bei Real Madrid zu spielen. Genauso wie es für Michael Ballack gut war, in London zu leben. Es verändert deinen Blickwinkel total. Erst dann erkennt man, warum wir alle verschieden sind und anders denken.

SPOX: Jens Lehmann kann offenbar nicht loslassen vom aktiven Geschehen. Dabei stehen ihm doch auf Grund seiner Lebenserfahrung und Ausbildung mit einem abgeschlossenen BWL-Studium alle Türen für eine schöne Zeit nach der Karriere offen.

Klinsmann: Wo ist das Problem? Jens beschäftigt sich schon seit Jahren ständig mit anderen Themenfeldern. Er ist bestens gerüstet für den Tag danach. Aber wenn er jetzt nicht loslassen will, dann eben erst in ein oder zwei Jahren. Ich glaube sogar, dass er die Zeit jetzt mit seiner Reife noch viel mehr genießen kann, als früher...

SPOX: ...im Alter zwischen 20 und 25...

Klinsmann: ...wo man sich einfach nur tierisch hocharbeitet. Wenn er merkt, dass das Gefühl zu spielen so schön ist, soll er doch noch ein oder zwei Jahre haben. Körperlich schafft er das ohne Probleme. Er ist topfit, er kann sich quälen, ist zielstrebig und hat Spaß daran. Dann soll er die zwei Jahre doch noch mitnehmen.

SPOX: Auch als Nummer zwei auf Schalke?

Klinsmann: Das glaube ich nicht...

Teil 2: Klinsmann über die neue Trainer-Generation und Barcas Übermacht

SPOX: Glauben Sie, dass Ihre Zeit beim DFB damals den Weg frei gemacht hat für die "neue" Generation der Trainer?

Klinsmann: Das will ich so nicht beurteilen. Wir wollten damals vor allem alles für die WM 2006 auf den Weg bringen, was uns wichtig erschien. Es ist aber doch immer so: Wenn du Veränderungen willst, stößt du sofort auf Resistenz. Sie lassen dich dann gegen die Wand laufen, du bekommst viel Widerstand. Es kostet Arbeit und Energie, die Veränderungen dann letztlich doch durchzuboxen. Nur diese Dinge benötigen einfach Zeit. Vielleicht hilft das späteren Generationen.

SPOX: Wenn das jeweilige Vereins- oder Verbandsumfeld es zulässt...

Klinsmann: Die Personen sind immer andere, es gibt eine interne Politik. Das sind Faktoren, die immer unterschiedlich sind. Prinzipiell glaube ich aber schon, dass eine neue Bewegung da ist. Die Arbeit von Thomas Tuchel in Mainz oder von Jürgen Klopp in Dortmund war grandios. Da hat sich einiges getan. Und Jogi Löw ist der Vorreiter der Bewegung. Er zeigt nach wie vor, dass man attraktiven Fußball mit Erfolg verbinden kann. Dass man Risiken eingehen kann auch wenn man in Kauf nimmt, manchmal eine auf die Nuss zu bekommen. Aber man kann so mehr Emotionen herauskitzeln. Seine Arbeit ist sensationell.

SPOX: In Deutschland kommen ausgebildete Spieler und Trainer im Profibereich unter - eigens dafür ausgebildete Manager aber nur selten. Dabei sind die verantwortlich für ein mittelständisches Unternehmen. Brauchen wir eine Managerschule, analog zur Trainerausbildung beim DFB?

Klinsmann: Es gibt ja auch einige Ausbildungsfälle in der Bundesliga. Aber insgesamt kann dieser Bereich noch deutlich professionalisiert werden. Auf diesem Gebiet sind uns die amerikanischen Franchises um Welten voraus. Jeder dieser Klubs wird von Diplom-Studienabgängern geleitet, die sich in ihrem Metier auskennen - vom Steuerrecht über die Gesetzgebung bis zur Finanzbuchhaltung. Da gibt es keine Lücken. Dagegen ist der Fußball noch ein globaler Wild West.

SPOX: Welche Komponente des Fußballs wird in - sagen wir mal fünf bis zehn Jahren - noch bedeutender werden?

Klinsmann: Die Grundausbildung unserer ganz jungen Talente. Der FC Barcelona ist da auf einem Level angekommen, das für uns im Moment nicht erreichbar ist. Geschaffen wurde dies durch die Ideen von Johan Cruyff und den Aufbau ihrer Nachwuchsschule.

SPOX: Das ist aber schon 20 Jahre her...

Klinsmann: Und vor zehn Jahren wurden bei uns unter Gerhard Mayer-Vorfelder die Nachwuchsleistungszentren aufgebaut. Jetzt ernten wir die ersten Früchte der Änderungen von damals. Der nächste Schritt heißt jetzt: Wir müssen den Spaß am Spiel wieder fördern. Wie schaffen wir es, unsere jungen Talente auf so ein hohes technisches Niveau zu bringen, wie es der spanische Fußball geschafft hat? Die wurden im Prinzip über 20 Jahre dorthin geführt. Pep Guardiola setzt jetzt um, was er unter Cruyff gelernt hat und was Barcas Philosophie ist. Das Epizentrum ist der FC Barcelona, die Nationalmannschaft spielt nicht von ungefähr den Stil von Barca.

SPOX: Ist das wirklich so unerreichbar?

Klinsmann: Wir haben bereits vor zwei, drei Jahren gesagt, dass das ein anderes Level ist. Damals sind wir mit den Bayern an Barca gescheitert. Ich finde Barca faszinierend. Die haben das auf so einen hohen Sockel gesetzt, dass es wahnsinnig schwer werden wird, dahin zu kommen.

SPOX: Einen anderen Weg gibt es nicht?

Klinsmann: Mit Athletik ist ihnen nicht beizukommen, man kann sie so nicht bekämpfen. Dann lassen sie den Ball so schnell laufen, dass selbst die beste Fitness nicht ausreicht, um sie zu schlagen. Man muss sie mit ihren eigenen Waffen schlagen, mit Technik, Spielfluss und Antizipation. Das sind aber die Dinge, die man am schwersten lehren kann. Nur wird das der wesentliche Kern werden. Hier muss man eine neue Dimension erreichen, um auch in zehn Jahren noch mit der Elite mitzuhalten.

SPOX: Muss sich jetzt jeder am FC Barcelona orientieren?

Klinsmann: In der Major League Soccer orientieren sich alle daran. Aber das sind auch noch junge Klubs. Doch selbst der FC Arsenal oder Manchester United schauen genau, wie die das in Barcelona machen. Warum ist der Zug ohne uns abgefahren, warum sitzen wir nicht drin? Hier gilt es anzusetzen.

SPOX: An der viel zitierten ganzheitlichen Ausbildung?

Klinsmann: Schauen Sie sich Xavi oder Iniesta an: Die wissen, wovon sie reden. Was sie verkörpern. Dass es nicht um das nächste große Auto geht, sondern um Demut, Respekt und Bescheidenheit. Zuerst kommt die Identifikation, dann das Individuum. Das ist für uns Deutsche sehr schwer. Wir wollen immer erst einen Namen, und dann erst das Thema haben. So läuft das aber nicht. Jeder ist dem großen Ganzen untergestellt.

SPOX: Das hört sich für die Nationalmannschaft nicht gerade optimistisch an. Hat Deutschland gegen Spanien beim nächsten großen Turnier wieder keine Chance?

Klinsmann: Wenn wir fünfmal gegen Spanien spielen, verlieren wir dreimal, spielen ein Mal unentschieden und gewinnen ein Spiel - wenn es gut läuft. Aber dieses eine Spiel könnte es ja demnächst sein. Man muss dann bereit sein, auch ein gewisses Risiko zu gehen und sich mit ihnen in ihrer Spielform zu messen. Mit brutaler Defensive und einer Zerstörungstaktik wird es schwer, ihren Fußball zu knacken. Unser Anspruch muss sein, dass wir sie jetzt angreifen wollen. Das heißt: Mitspielen, kreativ sein, das Spiel ohne Ball leben, ihren Rhythmus aufnehmen.

SPOX: Oder sich darauf verlassen, dass die Spanier bald nicht mehr den nötigen Biss haben.

Klinsmann: Das ist eine Schwierigkeit, mit der sie früher oder später zu kämpfen haben werden: Sie müssen sich ihren Hunger bewahren. Und das ist als Welt- und Europameister und Champions-League-Sieger verdammt schwer. Irgendwann sackt man ein bisschen ab und wird leer. Das wird spannend sein zu beobachten, wie sie das beibehalten wollen. Barca schafft es durch Druck der Generation von unten, da stoßen ständig neue Spieler nach, die noch nichts erreicht haben.

SPOX: Ist Deutschland in Europa die einzige Mannschaft, die Spanien herausfordern kann?

Klinsmann: Ich glaube schon. Selbst Holland sehe ich nicht so weit. Die haben natürlich eine sehr gute Mannschaft - die aber ihre eigene Identität aufgegeben hat. Die Holländer sind taktisch gut geschult und organisiert, fast ein wenig deutsch. Aber sie haben nicht mehr ihre spielerische Dynamik und Ästhetik. Sie werden weiterhin ein Wörtchen mitreden, aber am Ende wird es sich zwischen Spanien und Deutschland abspielen.

SPOX: Wie sieht Ihre nähere Zukunft aus? Können Sie sich ein neues Engagement in Europa demnächst wieder vorstellen?

Klinsmann: Im Moment liegt mein Lebensmittelpunkt rein in den USA, mir geht es hier hervorragend. Es war damals eine Entscheidung für die Familie, wieder zurückzugehen und die Familie wieder in Balance zu bringen - und nicht gleich wieder in ein neues Abenteuer zu stürzen. Aber wer weiß, was morgen passiert. Wenn es eine Konstellation gibt mit den richtigen Leuten am richtigen Fleck, dann kann man darüber reden.

SPOX: Zum Abschluss interessiert uns Ihre Meinung zu Michael Ballack: Wird er nochmal für Deutschland auflaufen?

Klinsmann: Zuerst wünsche ich mir, dass er fit bleibt und wieder das höchste Niveau erreicht. Und wenn er dann den Wunsch hat, bei der Nationalmannschaft zu spielen, dann ist das vollkommen in Ordnung. Wenn man so viele Jahre auf einem derart hohen Level gespielt hat, dann gibt man nicht so schnell auf - nur weil man durch eine Serie von Verletzungen gegangen ist. Deshalb will ich den Kämpfertypen in Michael sehen: "So, ich wird's euch allen noch zeigen!" Aber Jogi Löw und Michael Ballack brauchen da keine Ratschläge von mir.

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