Für Fabio Capello ist es ein Balanceakt auf einem sehr schmalen Grat: Wo endet die gesunde Investition in den Jugendbereich und wo beginnt eine Praxis, die der englische Nationaltrainer als "Talent-Diebstahl" brandmarkt?
"Reiche Klubs scouten Talente und stehlen sie, indem sie viel Geld auf den Tisch legen, ohne überhaupt an die Konsequenzen für das jeweilige Land zu denken", führte Capello im Rahmen einer internationalen Konferenz in Dubai am Donnerstag aus.
Der Italiener sieht einen Trend: Immer mehr und immer jüngere Spieler werden aus ihrem gewohnten Umfeld "herausgekauft".
"Deutschland ist ein Thema"
Capello richtet seine Kritik aber nicht nur an Großklubs wie Manchester City, den FC Chelsea oder den FC Barcelona, sondern denkt auch gerade an den Deutschen Fußball-Bund und die Integration vieler Spieler mit ausländischen Wurzeln in dessen Auswahlmannschaften.
"Diese Spieler bekommen einen neuen Pass. Denken Sie nur an Deutschland, das viele Spieler unterschiedlicher Herkunft hat. Wir alle wissen, was passiert ist. Das ist definitiv ein Thema."
Capello spielte damit auf die Weltmeisterschaft im Sommer 2010 in Südafrika an, als England im Achtelfinale gegen ein deutsches Team mit 1:4 unterlag, bei dem elf Spieler im Kader standen, die sich zu einem früheren Zeitpunkt auch für eine Karriere in der Auswahl eines anderen Landes hätten entscheiden können.
Schluss mit dem Talente-Klau
Jetzt fordert Capello die UEFA auf, "eine Trennlinie zu ziehen", um dem Diebstahl von Talenten, wie es der 66-Jährige wörtlich nannte, ein Ende zu machen.
"Ich kann das einfach nicht hinnehmen, dass ich einen Spieler ausbilde und dann kommt ein reicherer Klub um die Ecke und nimmt ihn mir weg. Die UEFA sollte neue Regeln erlassen, die es den Leuten erlauben, die Früchte zu ernten, die sie gesät haben."
Und offenbar ist Capello bei der UEFA und insbesondere ihrem Präsidenten auf offene Ohren gestoßen: "Ich habe mit Michel Platini gesprochen und er ist sehr entschlossen. In Zukunft wird der Diebstahl von sehr jungen Spielern aus dem Ausland verboten sein."
Iniesta: eine große Ausnahme
Capello wendet sich mit seiner Kritik durchaus relevanten Problemen zu, die ohne Zweifel einer stärkeren Kontrolle durch die Spitzenverbände bedürfen wie etwa dem regelrechten Handel mit Fußballtalenten im Kindesalter.
Bei diesem Thema zeigte sich ein anderer Teilnehmer der Konferenz hin- und hergerissen. Gines Melendez, Chef-Trainerausbilder beim spanischen Fußballverband, erklärte, er kann nur von einem einzigen Fall berichten, wo die Ausbildung eines jungen Kickers beispielhaft funktioniert habe.
Andres Iniesta hieß der Knirps, der mit zehn Jahren zum FC Barcelona kam und eine Weltkarriere hingelegt hat. Melendez räumte aber auch ein, dass es immer ein Risiko sei, Spieler in sehr jungen Jahren fernab ihres familiären Umfelds auszubilden.
Melendez plädierte für eine Altersgrenze von 16 Jahren, versteht aber durchaus die Politik vieler Vereine: "Wie viel Geld hätte es Barcelona wohl gekostet, Spieler wie Iniesta, Xavi oder Messi als 20-Jährige zu kaufen?"
Der Fall Danny Welbeck
Bei aller Berechtigung von Capellos Denkanstößen, setzt er sich aber auch dem Vorwurf aus, doppelmoralisch zu argumentieren.
Erst kürzlich stieß er selbst den Ghanaischen Verband vor den Kopf, indem er Danny Welbeck von Manchester United für die englische Nationalmannschaft auflaufen ließ.
"Journalisten aus Ghana haben mich gefragt, warum ich ihn berufen habe, denn jetzt kann er nicht mehr für Ghana spielen", erzählte Capello. "Aber so ist es nicht ganz richtig: Ich habe seinen Vater angerufen und um sein Einverständnis gebeten."
Außerdem, so Capello, sei Welbeck in England geboren und aufgewachsen und spiele seit Jahren für Manchester United.
Ob Capello mit dem Hintergrund der zahlreichen deutschen Nationalspieler mit "fremden" Wurzeln im Detail vertraut ist? Das Gros der elf "naturalisierten" Deutschen im WM-Kader 2010 ist in Deutschland geboren oder schon seit frühester Kindheit dort beheimatet und hat von wenigen Ausnahmen abgesehen für diverse Juniorenauswahlen gespielt.