Alleine in den vergangenen zwei Monaten haben sich zwei deutsche Ultra-Gruppierungen, deren Mitglieder teils deutliche Verbindungen in die rechtsradikale Szene hatten, auf Eigeninitiative aufgelöst. Ist das ein positives Zeichen im Kampf gegen Rassismus im Fußball, oder verschieben sich gerade nur die Machtverhältnisse? Im letzten Teil der Themenwoche "Tabus im Fußball" - Rassismus - geht SPOX dieser Frage mit einem Fan-Forscher nach.
"Juden Jena, Juden Jena, Juden Jena", hallt es aus der Erfurter Kurve. Immer wieder wiederholen sich antisemitische Rufe in Richtung der verfeindeten Ultraszene von Jena. Dabei spielt Rot-Weiss Erfurt an diesem tristen Drittliga-Spieltag im Februar 2017 gar nicht gegen Carl Zeiss. Der Zweitligaabsteiger FSV Frankfurt ist zu Gast.
Dass die Hessen eine jahrelange Fan-Freundschaft mit den eher linksausgerichteten Anhängern aus Jena pflegen, weiß an diesem Tag jedes Kind. Auch die Polizei hat vorgesorgt und ist darauf vorbereitet, dass Jenaer Fans als Unterstützung im FSV-Block stehen werden.
Ausschreitungen können sie dennoch nicht verhindern. Die Nazi-Parolen während des Spiels ebenso wenig wie die Affenlaute, die dem Frankfurter Akteur La Vere Corbin-Ong zu Teil werden, als er gefoult wird. Im Anschluss wird nicht dagegen ermittelt, sondern "nur" gegen gewalttätige Angriffe auf Beamte. Eine Polizistin wird an diesem Tag von einem Erfurter Ultra gegen den Kopf getreten.
Affenlaute, Neonazis im Fanblock und antisemitische Äußerungen gibt es im deutschen Fußball. Es ist nicht ausschließlich ein beklemmendes Phänomen in Süditalien, Russland oder Polen.
Sowohl was die Gewalt als auch was die Parolen angeht, ist es im Februar nicht das erste Mal, dass etwa Erfurter Fans auffällig werden. Die Gruppierungen Kategorie Erfurt, Jungsturm KEF, Ostkurve 1982 und Red White Fight sind deutlich vom rechtesten Rand unterlaufen. Da kommt es dann schon mal vor, dass sich Erfurter Hooligans bei Punktspielen gegen Halle mit deren Gruppierung gemeinsam gegen die Polizei verbünden.
Fanforscher: "Kein Beweis für Radikalisierung"
Probleme mit Neonazis in Ultra-Gruppierungen gibt es unter anderem besonders in Cottbus (Inferno), in Dresden, in Chemnitz (NS Boys) aber auch beispielsweise in Dortmund (Riot 0231) und Köln (Boyz).
Einen Beweis für eine allgemeine Rechtsradikalisierung der Ultra-Gruppen in Deutschland sieht der renommierte Fan-Forscher Robert Claus von der Kompetenzgruppe "Fankulturen und Sport bezogene Soziale Arbeit", kurz KoFaS, aber nicht.
Festzuhalten sei aber: "Die Fanszene hat sich enorm ausdifferenziert. Wir haben eine große Bandbreite kultureller und politisch unterschiedlich eingestellter Gruppen, von gewaltsuchend bis gewaltfern, von anti-diskriminierend bis rechtsextrem", erklärt er. Vergessen würde dabei oftmals, dass es gewaltferne Ultras gibt, wie beispielsweise in Bremen und Ingolstadt. "Es gibt ebenso Ultras, die sich seit Jahren gegen Rassismus und Diskriminierung einsetzen, wie die Schickeria in München oder die Ultras St. Pauli und Ultras in Jena."
Wohl auch deswegen mussten sich Letztere im Februar in Erfurt mit antisemitischen Rufen auseinandersetzen. "Rotfront verrecke", schrien die Erfurter zudem gegen die links eingestellten Jenaer.
Aus einer Anfrage der Linken-Politikerin Monika Lazar geht hervor, dass die Polizei in der Datei "Gewalttäter Sport" zum Stichtag 15. Juli 2016 bundesweit insgesamt etwa 11.350 Person erfasst hat. Davon bestanden bei rund 360 Personen Überschneidungen zu Angehörigen der rechtsmotivierten Szene. 23 davon sind demnach Rot Weiß Erfurt zuzuordnen.
gettyMehr als 11.000 "Gewalttäter Sport"
Die Polizei erfasst in der Regel jedoch nicht die Motivation für Gewaltpotential oder die politische Gesinnung, sondern ordnet lediglich nach Gewaltpotential in die Kategorien A bis C ein. Der Kategorie C sind demnach gewaltsuchende Hooligans zuzuordnen. Die Zahlen beziehen sich nur auf festgehaltene Straftaten, die Dunkelziffer, vor allem der Rechtsgesinnten, dürfte deutlich höher liegen. Um Letzteres besser einordnen zu können, unterhält der DFB auch eigene Fanbeobachter zusätzlich zu den Szenekennern der Polizei.
Für diese Experten wurde es in der jüngeren Vergangenheit bei manchen Gruppierungen immer schwerer, zwischen Ultras und Hooligans zu unterscheiden.
"Es gibt rechte Hooligans, die sich sowohl in der Ultraszene als auch im Hooligan-Milieu mit Verbindungen zur Kampfsport- und Rockerszene bewegen. Sie treten dabei nicht immer als Gruppen, etwa mit Zaunfahnen, sondern teilweise als informelle Netzwerke auf, um Verbote und Sanktionen zu umgehen", erklärt Claus.
Ein Großteil der sogenannten Riot 0231 (die Nummer steht für die Vorwahl von Dortmund) passt auf diese Beschreibung. Die Gruppe hatte in Dortmund und auf Auswärtsfahrten in der ganzen Republik in den vergangenen zwei Jahren für Schrecken gesorgt. Mitte dieser Woche lösten Sie sich plötzlich in ihrem ersten und letzten Schreiben offiziell auf.
BVB-Schlägertrupp löst sich plötzlich auf
Mit dieser taktischen Entscheidung möchte der Führungszirkel der Gruppierung wohl in erster Linie einer möglichen Strafverfolgung entgehen, sei das durch ein Vereinsverbot oder individuelle Verfolgung durch den Staat.
Der Bundesgerichtshof (BGH) erklärte Anfang 2015 in einem Präzedenzfall anhand der Gruppe Hooligans Elbflorenz, dass Hooligangruppen als kriminelle Vereinigungen eingestuft werden können. In der Folge kam es zu einer Auflösungswelle unter solchen Gruppierungen.
Seit Monaten strebte das nordrhein-westfälische Innenministerium eben ein solches Vereinsverbotsverfahren gegen die Gruppe an, die sich bis Mittwoch nie offiziell zu Wort gemeldet hatte. Seit es im Mai zu Hausdurchsuchungen bei vier Personen kam, die den Riot 0231 zuzuordnen waren, wurde die Luft allmählich dünner.
"Über die genauen Gründe, über die wir uns hier nicht äußern werden, möge sich wie üblich die werte Presselandschaft und die Experten der verschiedenen Fan-Magazine das Maul zerreißen. Wir werden euch kein Futter mehr liefern", heißt es in der Auflösungserklärung von Riot 0231 schroff.
Antisemitische Gesänge vor dem Pokalfinale
Die Dortmunder Gruppe hatte es in ihrem fast genau zweijährigen Bestehen extrem schnell geschafft, sich aus Ultra- und Hooliganszene zu verbinden und zu radikalisieren. Gegründet hatte sich die Gruppe aus damaligen Teilen der Desperados.
Zu mehr als zweifelhafter Berühmtheit erlangte die Gruppe durch festgehaltene antisemitische Sänge vor dem DFB-Pokalfinale 2016. Anschließend wurden Auswärtsfahrten für eigene und gegnerische Fans regelmäßig zur Tortour, zahlreiche weitere Gewalttaten waren Personen dieser Gruppe zuzuordnen.
Die Mehrzahl dieser ehemaligen Gruppe trägt rechtsradikales Gedankengut in sich und hält Verbindungen in die Kampfsport-und Rockerszene. Dennoch sehen sie sich oftmals nicht als politisch ganz rechts.
So nahm Riot etwa an den politischen Demonstrationen der Neonazis vor den Landtagswahlen in Dortmund nicht teil. Sie sehen sich in erster Linie also nicht als Neonazis, sondern als Gewalthooligans. Das Problem: Diese Gewalt führt rasch in die rechte Szene.
Schon lange vor der Auflösung war die Gruppe Riot kaum noch in der Südtribüne vertreten. Zu Hochzeiten sollen es 15 Prozent gewesen sein, die aber durch martialisches Auftreten für massive Unruhe sorgten. Zuletzt sah man Riot samt Blockfahne nur noch bei Auswärtsspielen.
Durch gezielte gewalttätige Angriffe und Bedrohungen gegen andere Anführer hatten die Riot in der Szene rasche Handlungsfähigkeit erlangt. So wurde etwa der offizielle Fanbeauftragte des BVB, Daniel Lörcher, bereits 2015 mit einem Banner innerhalb des Stadions bedroht, nachdem dieser sich im TV öffentlich gegen Rechts positioniert hatte und regelmäßig Aktionen gegen Rechts durchführte.
"Lörcher halt die Fresse. Lörcher deine Zeit ist um" - stand damals auf einem Plakat in der Südkurve. Seitdem gibt Lörcher keine Interviews mehr.
Was bedeutet die Auflösung einer der gefährlichsten Gruppen nun für die Fanszene? "Auflösungen oder Verbote von rechten Hooligangruppen stellen immer eine Zäsur dar. Es ist dann eine individuelle Entscheidung, ob und wie jemand weitermacht, wer aufhört, wer sich einer anderen Gruppe anschließt oder aber den Fußball Richtung Rockerszene verlässt", erklärt Claus.
Um diese Gruppen besser einordnen zu können, lohnt sich oftmals auch ein Blick in das interne Gefüge. "Es gibt mehrere Ebenen an Mitgliedern - einen Führungszirkel von bis zu fünf, sechs Leuten. Dann gibt es einen härteren Kern von 20 bis 30 Personen und mit dem weiteren Umfeld erzielt so eine Gruppe eine Reichweite von 70, 80 Leuten", so Claus.
Die Erfahrung vergangener Jahrzehnte zeige, dass die Rockerszene ein willkommenes Auffangbecken für Personen aus jenen Gruppen sei. Dennoch gelte es, Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Fanszene in der nächsten Zeit genau zu verfolgen.
Rechte Verbindungen ins Ausland
Verbindungen von Riot 0231 bestanden nach Kopenhagen, Neapel und Moskau. Auch bei diesen Kontakten ging und geht es vor allem um Gewalt. Mit diesem Thema im Vordergrund geraten Mitglieder in dieser Subkultur relativ schnell an Neonazis.
Neben der Kontaktpflege gehe es dem Kern einer Gruppe auf solchen Auslandsreisen darum, "Macht und Status zu erlangen. Da bildet sich eine Art Eventkultur, bei der Gewalt-, Alkohol- und Drogenerlebnisse in einer fast rein männlichen Gruppe ausgelebt werden", erklärt der Fan-Forscher weiter.
Die Dortmunder Gruppe ist die Zweite innerhalb kürzester Zeit, die sich selbst aufgelöst hat. Im Mai, nicht lange nach dem Skandalspiel in Babelsberg, tat die Cottbusser Gruppe Inferno das selbige. In Cottbusser Kurven, egal ob bei Heim- oder Auswärtsspielen, wurden Naziparolen durch Rufe, Symbole und den Hitlergruß offen ausgelebt und toleriert. Von Vereinsseite gab und gibt es nur vage Aussagen, die sich gegen diese Vorkommnisse stellten.
Nach dem Spiel in Babelsberg dauerte es etwa vier Tage, bis sich der Verein deutlich positionierte. Vor wenigen Tagen wurde einer Revision von Energie stattgegeben. Der Regionalligist bekommt neben einer Geldsperre kein Geisterspiel aufgedrückt, muss dafür aber beim kommenden Gastspiel in Babelsberg auf Gästefans verzichten.
gettyCottbusser Gruppe jagte Flüchtlinge - Amtsgericht machtlos?
Inferno, unterlaufen von einer ganzen Menge an Neonazis, pflegte stets gute Kontakte nach Tschechien und Polen. Auch dort gab es ähnliche Mechanismen wie in Dortmund. Zusätzlich zeichnete sich diese Gruppe regelmäßig für Übergriffe auf Flüchtlinge und Linke verantwortlich. Der antifaschistische Amateurklub Roter Stern Leipzig wurde bei Auswärtsspielen Opfer rechter Gewalt durch Hooligans und Neonazis.
Nach SPOX-Informationen hat Cottbus vor allem ein Problem in Sachen Strafverfolgung, einfach, weil das dortige Amtsgericht völlig überfrachtet ist. Dort hinken die Mitarbeiter mit der strafrechtlichen Verfolgung von durch die Polizei erfassten Taten bis zu zwei Jahre zurück.
"In Bezug auf Rechtsextremismus braucht es Prävention und Intervention. Ersteres leisten die sozialpädagogischen Fanprojekte und teilweise die Vereine, Letzteres vor allem die Polizei. Strafen erfüllen nur dann ihren Zweck, wenn sie zeitnah ausgesprochen werden", sagt Claus und bezieht damit aber alle Vereine ein.
Das scheint in Cottbus nicht gegeben. In Dortmund und generell in der Bundesrepublik hat die Fanszene derweil ein anderes großes Problem: Den Zeugen- und Opferschutz. "Es gibt oftmals keine Anzeigen von Betroffenen und anderen Fans nach rechtsextremen Gewalttaten oder Äußerungen, weil nicht genügend Schutz vom Staat gewährleistet werden kann", so Claus. In Deutschland erhalte der gegnerische Anwalt bei einer Anzeige schnell die Adresse des Gegners, was viele Betroffene abschrecke, weil Angst vor Rache herrsche. "Dann kann der Fall kaum in den Statistiken der Polizei erfasst werden. Die Dunkelziffer ist dementsprechend hoch."
Probleme beim Zeugen- und Opferschutz
Um einordnen zu können, wo die deutsche Fanszene im Sommer 2017 im Kampf gegen Rechts steht, lohnt ein kurzer Blick in die jüngere Vergangenheit. Den Höhepunkt ihrer Stärke erlangten rechtsradikale Hooligans im Herbst 2014 bei der sogenannten "HogeSa" (Hooligans gegen Salafisten) Demonstration in Köln. Dort wandelten zig Tausend Neonazis und Hooligans Köln in einem rechtsfreien Raum und jagten Polizisten, Migranten und Journalisten.
Doch die Hooliganszene basiert auf extrem anarchistischen Strukturen. Es gelang den unerfahrenen Führungskräften nicht, langfristige Maßnahmen zu ergreifen, um Kräfte zu bündeln. So waren ein halbes Jahr später bei einer Demo in Erfurt trotz eingetragenen Vereins "Gemeinsam stark Deutschland" nur noch 250 Demonstranten, die von Polizei und Gegendemonstranten überflügelt wurden.
Dadurch blieben den Hooligans nur noch die Pegida- und Legida-Bewegungen. Dort wurden sie von den Organisatoren um Lutz Bachmann zu einer Art Schutzherde aufgewertet. Das Selbstwertgefühl dieser Gruppen stieg, das Interesse an diesen Bewegungen sank mit der Zeit.
Der Fußball ist weiterhin gefährdet, wenn es um rechte Einflüsse geht. Es ist der Sport mit dem höchsten darstellbaren gesellschaftlichen Stellenwert, der damit einhergehend eine große mediale Aufmerksamkeit bietet.
"Durch die sozialen Medien sind Vorfälle und Auseinandersetzungen jedoch wahrnehmbarer geworden. Heute ist alles digitaler geworden", sagt Robert Claus.
So sind auch Vorfälle, wie die "Juden Jena"-Rufe aus Erfurt deutlich einfacher zu dokumentieren als noch etwa Ende der 90er Jahre. Sie werden dadurch nicht lauter oder leiser. Aber unsere Gesellschaft sollte wissen, dass sie nach wie vor da sind.