Als die Krankheit "besiegt" schien, ist sie mutiert ein zweites Mal zurückgekommen. Ein Moment, in dem Sie Panik bekommen haben?
Lobinger: Wenn ich Vorträge halte und davon erzähle, sagen viele Menschen, dass sie es nicht packen würden, ein zweites Mal den Kampf aufzunehmen. Auch wenn ich der Gegenbeweis bin und dagegen anrede, ist die Angst berechtigt. Beim zweiten Mal weißt du genau, was auf dich zukommt. Das macht es noch viel schlimmer. Ich weiß noch, als ich die Nachricht meines Arztes auf der Mailbox hatte. Ich habe an der Tonlage herausgehört, dass der Krebs wieder zurück ist. Das war sehr zermürbend. Trotzdem hat es nicht dazu geführt, dass ich das Vertrauen verloren habe oder in Panik ausgebrochen bin. Jeglichen Gedanken, welche Blumen ich denn bei meiner Beerdigung haben will, habe ich einen Riegel vorgeschoben. Ich habe mich ein weiteres Mal darauf konzentriert, was jetzt wichtig war und dass ich jetzt funktionieren muss. Ich wollte auch nicht noch mehr Hilflosigkeit ausstrahlen für die Menschen um mich herum, die ja schon genug gelitten haben. Denen hilft es ja am wenigsten, wenn ich jetzt noch durchdrehe.
Mithilfe eines Stammzellenspenders wurden Ihnen Lymphzellen infiltriert. Haben Sie Ihren genetischen Zwilling inzwischen getroffen?
Lobinger: Nein, noch nicht. Ich kann ihn aber inzwischen kennenlernen und habe das auch fest vor. Ich habe auch keine Angst davor, ich möchte mich aber voll darauf einlassen. Deshalb wollte ich jetzt erst beruflich wieder Fuß fassen als Athletik-Trainer und mein Leben in etwas gefestigtere Bahnen bringen. Man ist als Krebskranker schon etwas gebrandmarkt.
Tim Lobinger: "Es ist unheimlich schwer, beruflich wieder eine Chance zu bekommen"
Wie meinen Sie das?
Lobinger: Es wird ungern darüber gesprochen, aber ich habe es selbst erlebt, wie es einem als Krebskranker ergeht. Man wird anders angeschaut und es ist unheimlich schwer, beruflich wieder eine Chance zu bekommen. Das ist einfach die Wahrheit. Natürlich würde es nie jemand zugeben, dass er einen wegen der Erkrankung nicht einstellt, aber ich habe erfahren, wie schwer es ist. Gerade im Sport. Wenn du nicht gesund bist, hast du im Sport nichts zu suchen. Du musst nicht fit sein, es gibt genügend unsportliche Menschen in diesem Berufsfeld, aber Kranke passen nicht so gut in die heile Welt des Sports. Umso mehr freue ich mich, dass ich einen tollen Job gefunden habe, der mir jeden Tag großen Spaß macht.
Beruflich eine Chance zu bekommen, ist die eine Sache. Aber Sie mussten als Krebskranker auch die Erfahrung machen, nicht mal einen Handyvertrag über 24 Monate zu bekommen.
Lobinger: Das war eine totale Frechheit. Und dass der Konzern es bis heute nicht für nötig gehalten hat, auf mich zuzukommen, ist ein Armutszeugnis. Das ärgert mich immer noch und macht mich wütend. Ich habe mich gefühlt wie jemand, der 500.000 Euro hinterzogen hat und vorbestraft ist. Ich war es nicht wert, für 14,95 Euro im Monat einen Handyvertrag zu bekommen. Da kann man nur mit dem Kopf schütteln. Aber das zeigt auch, in was für einer Gesellschaft wir zum Teil leben. Das betrifft ja ganz vieles. Nehmen wir die Bilder aus Mallorca kürzlich. Da wird zu zehnt und natürlich ohne Maske aus einem zwei Meter langen Strohhalm getrunken. Als ob nie etwas gewesen wäre. Diese Leute haben alle überhaupt nichts verstanden, es ist kaum zu ertragen, wie engstirnig und dämlich so viele sind.
Tim Lobinger: "Gesund gibt es für mich nicht mehr"
Wie würden Sie denn Ihren aktuellen Gesundheitszustand beschreiben? Können Sie inzwischen wieder für die nächsten zehn oder 15 Jahre planen?
Lobinger: Ganz ehrlich: Das kann ich eigentlich nicht. Was man verstehen muss: Wenn du einmal an Leukämie erkrankt bist, dann hast du diese Krankheit dein Leben lang. Gesund gibt es für mich nicht mehr. Es gibt krebszellenfrei, das ist der entscheidende Unterschied. Ich werde immer Krebszellen in mir haben, aber aktuell sind diese zum Glück inaktiv. Es tut sich wahnsinnig viel in der Medizin, auch in der Leukämieforschung. Aber für meine Rente muss ich noch nicht planen. Ich muss in kleineren Zyklen denken, das merke ich bei jeder Untersuchung, die ich alle zwei bis vier Wochen habe. Man darf das Wort Heilung in den Mund nehmen, aber bei meiner aggressiven Form der Leukämie muss man trotzdem immer wissen, dass es um eine Erhaltungstherapie geht. Es geht darum, das Leben möglichst lange zu strecken. Ich muss zum Beispiel jeden Tag Tabletten nehmen, das ist einfach so.
Wie gehen Sie persönlich als Teil der Risikogruppe mit der Corona-Pandemie um?
Lobinger: Ich habe die Krise bislang eher global und gesellschaftlich verfolgt als mein Leben betreffend. Ich mache mir mehr Gedanken über die Menschen und Betriebe, die wirtschaftlich vor dem Ruin stehen. Persönlich bin ich relativ gelassen, weil es für mich ähnlich ist wie nach der Transplantation, da habe ich am Anfang auch Mundschutz getragen und einen Höflichkeitsabstand gehalten. Und große Menschenmassen habe ich da auch vermieden, das ist jetzt alles wieder ähnlich. Ich musste mich nicht groß umstellen. Es gibt ja auch noch keine Studien darüber, wie sich das Virus bei Krebserkrankten auswirkt, das müssen wir mal abwarten.
Tim Lobinger: "Mein Ziel ist es, meine Kinder möglichst lange begleiten zu können"
Sie klingen trotz allem unglaublich fröhlich und optimistisch. Wie hat Sie die Krankheit verändert?
Lobinger: Das größte Kompliment für mich ist, wenn ich jemanden treffe, der mich lange nicht gesehen hat, und derjenige sagt, dass man es gar nicht merkt, was ich alles durchgemacht habe. Das ist das Schönste für mich. Ansonsten ist es ganz schwammig zu sagen, wie ich mich wirklich verändert habe. Nur weil ich eine neue Blutgruppe habe, bin ich kein anderer Mensch geworden. Ich bin immer noch der, der ich immer war. Ich habe immer noch etwas Rastloses in mir, gleichzeitig würde ich schon sagen, dass ich gelassener geworden bin. Dass der Umgang mit Familie und Freunden noch mal einen anderen Stellenwert bekommen hat. Ich sage vielleicht noch mehr, was ich denke, aber das habe ich früher auch schon gemacht, egal was es für Konsequenzen gehabt hat. Vielleicht hat mir die Krankheit den Anstoß gegeben, noch mehr zu reflektieren. Sich nicht zu sehr im Alltag zu verlieren, sondern auch mal zu sagen: Heute hast du gut gearbeitet, jetzt kannst du auch nach Hause gehen und musst nicht zum nächsten Termin hetzen. Vielleicht habe ich gelernt, dass es nicht nur eine berufliche, sondern auch eine private Karriere gibt.
Letzte Frage: Haben Sie noch einen Traum, den Sie sich erfüllen möchten?
Lobinger: Mein Wiedereinstieg ins Berufsleben war ein ganz wichtiger Schritt für mich. Wieder so nahe am Leistungssport zu sein und mit Jungs wie Jo Kimmich und anderen zusammenzuarbeiten, sie über einen langen Zeitraum zu begleiten und auf den Punkt fit zu bekommen - das ist eine Art kontinuierlicher Traum für mich, den ich mir erfülle. Ansonsten habe ich für mich Träume durch Ziele ersetzt. Mein Ziel ist es, meine Kinder möglichst lange begleiten zu können. Ich habe gerade erst meinem Sohn das Fahrradfahren beigebracht, im nächsten Jahr kommt er in die Schule, da will ich dabei sein. Und auch, wenn er dann auf die weiterführende Schule kommt. Ich möchte möglichst lange Teil einer tollen Familie sein. Alles andere wäre vermessen. Der große Traum vom Leben ist durch die Krankheit bei mir zerplatzt. Das klingt brutal, aber es ist die Wahrheit. Der Traum mit 70 irgendwo am Strand zu liegen, ist so was von weit weg, dass alles zu spät ist. (lacht)