Markus Merk im Karriere-Interview: "Deutsche, Türken, Behinderte - wenn ich das nicht mache, bin ich tot!"

Philipp Schmidt
15. März 202113:02
Merk wurde quasi gezwungen, in der Türkei TV-Experte zu werden.getty
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Dreifacher Weltschiedsrichter, eigene Zahnarztpraxis, Extremsportler, TV-Experte in der Türkei, Gründer eines Hilfsprojekts in Indien: Markus Merk kann auf und neben dem Platz auf eine illustre Laufbahn zurückblicken - und hat dies in einem ausführlichen Interview mit SPOX und Goal getan.

Dieses Interview erschien erstmals am 30. Dezember 2020. Anlässlich seines 59. Geburtstages blicken wir in diesem Rahmen auf Markus Merks Karriere zurück.

Im zweiten Teil des Interviews erklärt Merk, woran ein Engagement beim DFB scheiterte, wie er von einer Karriere als TV-Experte in der Türkei überzeugt werden konnte und dort zum Volkshelden wurde.

Außerdem erläutert der 58-Jährige, weshalb die Auslegung der Handspielregel von Jahr zu Jahr unverständlicher wird und wie Sebastian Kehl ihn bereits vor über zwölf Jahren davon überzeugen wollte, den Videobeweis einzuführen.

Zum ersten Teil des Interviews, in dem Merk über seine Anfänge, seine Zeit als Zahnarzt, bei der Bundeswehr und die Highlights seiner Schedsrichterkarriere spricht, geht es hier.

Herr Merk, Sie haben 2008 beschlossen, ein Jahr vor Erreichen der Altersgrenze Ihre aktive Schiedsrichterkarriere zu beenden. Warum?

Merk: Man bot mir an, die Grenze für mich aufzuheben, aber das wollte ich nicht. Alle wussten, dass ich nicht ins letzte Jahr gehen wollte. Ein Jahr vorher machte ich international Schluss, da wurde ich auch noch einmal Weltschiedsrichter. Ich wollte eine selbstbestimmte Entscheidung auf dem Höhepunkt treffen und keine Abschiedstour haben, wo ich dann auf jeder Station die gleichen Sprüche zu hören bekomme.

Welche Optionen hatten sie nach Ihrer Schiedsrichter-Karriere?

Merk: Ich hatte drei gute Angebote von Vereinen, mich aber dagegen entschieden.

Bezüglich einer Aufgabe beim DFB sagten Sie einmal: "Der DFB weiß, was er an mir haben könnte, aber er bewegt sich nicht. Ich werde mich in keinster Weise irgendwo bewerben." Haben Sie einen Mangel an Wertschätzung gespürt?

Merk: Ich bin berechenbar. Wenn ich etwas mache, mache ich es nicht aufgrund einer Position, sondern weil ich etwas bewegen und das Schiedsrichterwesen nach vorne bringen will. Jeder weiß, dass ich mir bereits in meiner aktiven Phase eine Menge Gedanken gemacht habe. Außerdem war es damals eine Phase, in der im Schiedsrichterwesen nicht gerade alles rund lief. Für mich war klar, dass ich mich nicht als stiller Beobachter auf die Tribüne setze und sage: Lieber Felix Brych, dir gebe ich heute eine 8,5. Das ist für mich sinnlos und nicht zielführend.

Wie hätten Ihre Vorstellungen ausgesehen?

Merk: Wir hatten hervorragende Schiedsrichter auf dem Platz, aber sie wurden immer jünger. Es gibt nun einmal keine 30-Jährigen mit 15 Jahren Berufserfahrung auf höchster Ebene. Deshalb wäre es mir wichtig gewesen, die Sozialkompetenz und Persönlichkeit zu fördern - auch in anderen Bereichen des DFB wie den Jugendnationalmannschaften oder bei den Frauen. Dafür habe ich ein Konzept vorgelegt. Es war bitter, als dann im Nachgang Spekulationen über irgendeine Job-Forderung angestellt wurden. Ich habe dann beschlossen, nach 20 Jahren Dasein als Profischiedsrichter erst einmal durchzuatmen.

Merk entschied sich nach seiner Schiedsrichterkarriere gegen ein Engagement beim DFB.getty

Merk: "Niersbach meinte: Du hast dich ja mal schön verdrückt!"

Gab es später noch einmal Gespräche?

Merk: Ich hatte zu diesem Zeitpunkt ein sehr gutes Gespräch mit dem damaligen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger. Das beendete Zwanziger so: Herr Merk, super, toll! Ich wusste, auf Sie kann man sich verlassen. Generalsekretär Wolfgang Niersbach wird sich auf jeden Fall in den nächsten 14 Tagen bei Ihnen melden. Monate später traf ich Niersbach dann bei einer Veranstaltung. Er meinte: Markus, du bist doch ein Kind des DFB, einer unserer Führer im Schiedsrichterwesen. Du hast dich ja mal schön verdrückt! Ich hatte bis zu diesem Tag auf seinen Anruf gewartet, wusste aber auch, dass ihm niemand Bescheid gegeben hat. In Verbänden ist es nun einmal so, dass Eitelkeiten und die eigene Position eine große Rolle spielen.

Im selben Sommer erreichte Sie eine Anfrage aus der Türkei. Sie sollten eine Aufgabe im dortigen Fernsehen annehmen. Wie lief das genau ab?

Merk: Ich war drei Tage zu Gesprächen dort, wollte aber eigentlich nicht schon wieder jedes Wochenende unterwegs sein. Ich habe nichts vermisst und war sowieso genug beschäftigt mit meinen Vorträgen und meiner Unternehmensarbeit.

Sie sagten aber später dennoch zu.

Merk: 2010 suchte dann der Präsident des türkischen Behindertensportverbandes das Gespräch mit mir. Er sei von einem Fernsehsender beauftragt worden, mit mir in Kontakt zu treten. Ich sagte aber auch zu ihm, dass ich mir das nicht vorstellen kann. Er erwiderte: Wenn ich Sie bitte, in die Türkei zu kommen, dann hören Sie sich das an! Ich dachte mir: 'Deutsche, Türken, Behinderte - wenn ich das nicht mache, bin ich tot!' (lacht) Am Anfang sollte ich nur montags dort sein und rechnete sowieso damit, dass die Sache nach vier Wochen erledigt ist. Also gab ich meine Zustimmung.

Sie blieben vier Jahre lang...

Merk: In dieser Zeit ging es gerade damit los, dass alle Spiele live übertragen werden. Ich war bei LigTV, einem Parallelsender von Sky. Das Studio war nagelneu, ich wurde sensationell übersetzt. Ich konnte ja gerade einmal Galatasaray aussprechen, bei Besiktas wurde es schon schwer. Der Fahrer holte mich vom Flughafen ab, an allen Hauswänden hing das Bild vom Moderator, einem bekannten Trainer und mir. Die Sendung dauerte bis zu vier Stunden. Plötzlich hieß es, ich solle nicht nur am Wochenende kommen. Ich sagte, dass das familiär nicht funktioniert und bekam die Antwort: Das ist schon geklärt. Dein Sohn kann hier in die deutsche Schule. Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass ich sonntags und montags komme und bei ganz wichtigen Spielen auch mal samstags. Bis 2014 bin ich dann 155-mal nach Istanbul geflogen - für 355 Sendungen.

Merk: "Ich war in Istanbul für jeden der Markus"

Sie waren in der Türkei sehr beliebt (zum entsprechenden SPOX-Interview aus dem Jahr 2011 geht es hier). Wie sehr hat Ihnen der Job gefallen?

Merk: Sehr. Ich war in Istanbul für jeden der Markus. Ich kam als 'Markus hakem' hin: Markus, der Schiedsrichter. Daraus wurde 'Markus abi': Markus, der Bruder. Nach etwa einem Jahr war ich schon 'Markus hoca'. Das ist eigentlich das größte Lob, das du bekommen kannst - in etwa wie Lehrmeister oder Professor.

Sie waren auch längere Zeit für Sky in Deutschland aktiv. Wie sah damals der Austausch mit den aktiven Schiedsrichtern aus?

Merk: In den Jahren bei Sky war das unvermeidbar. Vor allem, wenn ich mit einer Entscheidung nicht einverstanden war. (lacht) Negative Kritik war aber nie personen-, sondern immer sachbezogen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer diese Trennung ist. Mit vielen habe ich ja noch zusammen gepfiffen, einige waren auch mit mir im Ausland und sind mit mir groß geworden - ob Gagelmann, Kinhöfer, Kircher oder Brych. Der Respekt ging nie verloren. Mit der Zeit wurde der Austausch aber weniger. Die aktuellen Schiedsrichter waren zu meiner Zeit teilweise noch in der Verbandsliga unterwegs. Dieser Abstand macht das Kommentieren leichter.

Welche Regelfragen bereiten Ihnen bis heute Kopfzerbrechen?

Merk: Das Thema Handspiel wird seit Jahren immer schlimmer. Mittlerweile haben alle aufgegeben, weil es keiner mehr versteht und es keine Linie mehr gibt. Ich habe es mit konstruktiven Vorschlägen versucht, aber in den Gremien sitzen teilweise Leute, die dort nicht unbedingt hingehören. Ähnlich kompliziert verhält es sich mit dem Videobeweis. Da erinnere ich mich noch an eine Anekdote aus dem März 2008.

Erzählen Sie!

Merk: Damals pfiff ich das Spiel Dortmund gegen Bremen, bei dem ein fälschlicherweise anerkanntes Abseitstor durch Bremens Markus Rosenberg fiel. Im Anschluss wurde die Aktion auf der Videoleinwand gezeigt. Dann war auch mir bewusst, dass es nicht hätte zählen dürfen. Sebastian Kehl kam zu mir und meinte: Hey, Markus, hast du das gesehen? Natürlich hatte ich es gesehen und erwiderte: Das sieht nach Abseits aus. Ich hatte mich aber anders entschieden und auf meinen Assistenten verlassen. Auf Kehls Bitte, mir die Szene doch noch einmal an einem Monitor anzuschauen, stellte ich klar: Sebastian, dann würde ich den Videobeweis einführen und das wäre mein letztes Spiel. Dass ich auch nur in Erwägung zog, dass in kritischen Situationen die Unterstützung durch technische Hilfsmittel sinnvoll wäre, löste anschließend einen unvorstellbaren Shitstorm aus - auch intern von einigen netten Kollegen. In der folgenden Ausgabe des kicker musste ich Teile meines 30-Punkte-Plans darlegen, um meinen Kopf zu retten.

Mit der heutigen Regelauslegung ist Merk nicht einverstanden.getty

Merk über den VAR: "Konzept heute noch unschlüssig"

Zwölf Jahre später ist der Videobeweis relevant wie eh und je.

Merk: Urplötzlich wurde der Videoassistent mit einem Konzept eingeführt, das heute noch unschlüssig ist. Dass meine Ideen allesamt praxistauglich sind, habe ich nie behauptet, aber dass beispielsweise zehn Verbänden die gleichen Testparameter gegeben wurden, ist absolut unsinnig. So können keine Details ausgetestet werden.

Wie sähen Ihre Vorstellungen aus?

Merk: Ich war immer ein Verfechter eines Vetorechts mit einem speziellen Konzept. Das macht die Angelegenheit attraktiver und spannender, das habe ich seitenweise ausgeführt. Mein Problem war, dass ich der erste war, der ein solches Überprüfungssystem prominent angesprochen hat. Und genau diejenigen, die damals vehement gegen technische Hilfsmittel votierten, sind jetzt die, die immer wieder neue Aufgabengebiete in diesem Bereich finden.

Wie kann das Thema Handspiel denn so gelöst werden, dass es wieder jeder versteht?

Merk: Es gibt nur eine Lösung: Jedes Jahr 20 bis 30 Szenen nehmen, diese nach sturen Richtlinien anschauen und die Auswertung nach außen transparent darlegen. Es kann da kein Schwarz-Weiß-Denken geben, die Masse der Situationen muss für Jedermann verständlicher werden. Ansätze für ein solches Vorgehen gab es, in den letzten Jahren wurde aber wieder vieles kaputt gemacht. Ziel muss es sein, die Grauzone möglichst klein zu halten.

Welche Bedeutung hat, dass niemand sagen kann, was Absicht ist, weil auch niemand in den Kopf der Spieler schauen kann?

Merk: Es muss ja eine klare Intention gegen den Ball geben. Ich habe gerne den Begriff der Fahrlässigkeit verwendet. Jeder hat mir zugestimmt, als ich den Begriff vorbrachte, aber es gab trotzdem andauernd Anpassungen. Ich hatte immer eine ganz klare Linie, was die Armhaltung betrifft. Für mich stand die Frage im Zentrum: Wie kann der Fußball für die Fans besser und attraktiver werden? Denn ohne die brauchen wir überhaupt nicht zu spielen.

Merk über Bergsteiger-Unfall: "Finger zur Hälfte schwarz"

Sie waren Ihr gesamtes Leben lang im Ausdauersport aktiv, vor allem beim Bergsteigen - zahlreiche Zwischenfälle inklusive. Dachten Sie da nie ans Aufhören?

Merk: Ich war immer ein Ausdauer-Freak. In den vergangenen zehn Jahren war meine Top-Sportart das Ultra Trail Running. Da sind kuriose Sachen wie der Ultra-Trail du Mont-Blanc dabei mit einer Länge von 178 Kilometern und 10.500 Höhenmetern. Beim Bergsteigen bin ich vor der WM 2002 auf dem Piz Morterasch in der Schweiz abgestürzt. 2009 habe ich mir dann bei einer Rettungsaktion in Bolivien das Sprunggelenk gebrochen. Am härtesten erwischte es mich aber am Pik Lenin in Kirgisistan im Jahr 2014.

Sie trafen beim Abstieg auf eine Gruppe, in der ein Deutscher unter der Höhenkrankheit litt und sich in Lebensgefahr befand. Was genau ist dann passiert?

Merk: Ich habe ihm geholfen. Beim Fixieren und Lösen der Seile war es notwendig, immer wieder die Überhandschuhe auszuziehen. Der Tag wurde immer länger, wir schlugen unser Nachtlager auf 6.400 Metern auf. Im Anschluss an den Trip waren fünf meiner Fingerkuppen schwer erfroren. Am Anfang sah das ganz übel aus, weil die Finger zur Hälfte schwarz waren. Drei sind jetzt wieder halbwegs in Ordnung, bei den anderen beiden fehlt die Kuppe. Ich würde das aber immer wieder so machen und will die Sache auch nicht größer machen, als sie war. Es hindert mich nicht, aber beim Sport in der Kälte entsteht ein Taubheitsgefühl. Hohe Berge und dünne Luft sind leider nicht mehr denkbar.