Die Hamburger Narbe ist immer noch nicht ganz verheilt. Die Enttäuschung über das verpasste Europa-League-Finale im eigenen Stadion und der Ärger über die peinlichen Auftritte der Mannschaft am Ende der abgelaufenen Saison weichen eher mühsam einer zarten Aufbruchstimmung.
Bruno Labbadia ist weg, die internationale Bühne ebenfalls. Wieder einmal muss also ein Neuanfang her. Doch anders als in den Jahren zuvor gelingt es dem HSV trotz starker Vorbereitung nur schwer, den notwendigen Enthusiasmus zu verbreiten. Trainer Armin Veh wurde eher mit Skepsis begrüßt, der neue Sportchef Bastian Reinhardt transportiert ebenfalls noch nicht den ganz großen Glamour. Die plötzliche Absage von Urs Siegenthaler als Projektleiter Zukunft sorgte für einen weiteren Dämpfer, dazu scheint Hamburg weiter vom Verletzungspech verfolgt.
Im Kader blieb der annoncierte Umbruch ebenfalls aus: Den von Klubchef Bernd Hoffmann trotzig angekündigten Charaktertest bestanden offenbar alle Spieler. Demnach vertraut der HSV also der Autorität des neuen Trainers: Veh soll die Mannschaft endlich ans eigene Limit führen - und damit dahin, wo sie gemessen am Talent zweifellos hingehört: Unter die Top-5 in Deutschland.
Das ist neu:
Die Verpflichtung von Armin Veh als neuen Trainer kam für viele Beobachter überraschend, inzwischen aber hat sich die anfängliche Skepsis in vorsichtigen Optimismus verwandelt. Der eher einsilbig-autoritäre und distanzierte Führungsstil kommt bei den Spielern gut an, der sehr direkte und souveräne Charme des smarten Trainers wirkt auch bei den hiesigen Journalisten.
Wichtigste Veränderung im Kader ist indessen Neuverpflichtung Heiko Westermann, der in der Innenverteidigung Jerome Boateng ersetzt. Sportlich eine adäquate Lösung, in Sachen Reife, Stabilität und Führungsqualitäten sogar eine Verbesserung für den HSV.
Mit Torhüter Jaroslav Drobny und Mittelfeldmann Gojko Kacar erhöhte Hamburg zusätzlich den Konkurrenzdruck im Kader. Mit Dennis Diekmeier wurde eines der größten deutschen Talente für die rechte defensive Außenbahn geholt.
Der 20-Jährige steht allerdings auch stellvertretend dafür, dass eines beim HSV leider beim Alten blieb: das Verletzungspech. Mit den Teenagern Muhamed Besic und Heung-Min Son holten sich die Shootingstars der Vorbereitung gleich mal Knochenbrüche ab. Dennis Aogo und Piotr Trochowski kamen angeschlagen aus dem Urlaub zurück, Diekmeier verpasst den Saisonstart mit einem Bänderriss und Pechvogel Romeo Castelen droht nach erneuter Knieverletzung sogar endgültig das Karriereende. Marcell Jansens Grippe ist dagegen schon fast trivial.
Taktik:
Kurze, druckvolle Pässe, wenig Ballkontakte und schnelles Spiel in die Spitze; mit jeweils zwei Mann über die Außen, oder als Überraschungseffekt variabel durch die Mitte: In seiner grundsätzlichen Spielidee ist sich Armin Veh treu geblieben.
In der Systemfrage aber geht auch der HSV-Coach mit der Mode und lässt bevorzugt im 4-2-3-1-System agieren, wobei in der Offensive immer einer der beiden Sechser den Weg an oder in den Strafraum des Gegners suchen soll.
Als einzige Spitze ist Ruud van Nistelrooy gesetzt. Die zentrale Position dahinter soll Paolo Guerrero übernehmen - was Mladen Petric zu einer Art Bauernopfer der neuen Taktik macht: Der beste Torschütze der letzten beiden Jahre muss auf den rechten Flügel ausweichen, weit weg von seinem natürlichen Milieu im Sturmzentrum.
Technisch bringt der 29-Jährige alle Voraussetzungen mit, in den Testspielen bemühte er sich auch redlich, die neue Position lieb zu gewinnen und sogar beherzt nach hinten zu arbeiten. Trotzdem: Petric grätschend am eigenen Sechzehner sieht bislang mindestens genauso unorthodox aus wie seine Flanken aus dem Lauf mit dem schwächeren rechten Fuß. Petric wirkt auf Außen unterm Strich verschenkt. Im Pokal gegen Greif ließ Veh allerdings in der offensiven Dreierreihe rochieren, Petric tauschte immer wieder geschickt mit Guerrero die Position.
Trotzdem bleibt der rechte Flügel eine potentielle Soll-Bruchstelle im neuen HSV-Konstrukt, auch atmosphärisch: Wenn alle fit sind, herrscht dort das größte Gerangel um die Stammplätze: Petric, Eljero Elia und Piotr Trochowski sind die prominenten Kandidaten. Keiner von ihnen fühlt sich rechts draußen aber wirklich wohl. Einzig echter Spezialist ist Jonathan Pitroipa.
Spieler im Fokus:
Paolo Guerrero. Weil er ungern fliegt, dafür aber gern mit Flaschen wirft, tritt der Peruaner beim Thema Außendarstellung immer wieder mal tüchtig in diverse Fettnäpfchen. Trotzdem bekam er im Sommer die Vertragsverlängerung in Hamburg - und wenig später von Armin Veh die Schlüsselposition im Mittelfeld übertragen.
Als neuer "Zehner" soll er nun seine zweifellos außergewöhnlichen Fähigkeiten einsetzen, um Linie, Rhythmus und Torgefahr ins Angriffsspiel des HSV zu bringen. Dafür muss er allerdings beweisen, dass er bereit ist, mit 26 Jahren langsam erwachsen zu werden und auch konstant die Leistungen zu bringen, die seinem fußballerischen Talent entsprechen. Allzu viele schöpferische Pausen kann er sich auch nicht erlauben: Mit Piotr Trochowski lauert ein Spieler auf seine Chance, der selbst dem Stempel "ewiges Talent" den Kampf angesagt hat. Auch Petric hat die zentrale Position im Training immer wieder mal gespielt.
Interessant wird auch die Rolle von Eljero Elia - sofern Hamburg dem Werben aus Turin widersteht. Wie wird der 23-Jährige reagieren, falls er das Duell um den Platz im linken Mittelfeld gegen Marcell Jansen verliert? Auf rechts jedenfalls fand nicht nur er selbst sich in der abgelaufenen Rückrunde schlecht aufgehoben.
Das Interview
SPOX: Wie ist Ihr persönlicher Eindruck von der Arbeit mit Armin Veh?
Maden Petric: Ich komme super mit dem neuen Trainer klar. Ich finde die klaren und deutlichen Ansprachen sehr angenehm. Er kann Sachen auf den Punkt bringen und braucht keine langen Erklärungen. Man sagt ja immer, der erste Eindruck ist der wichtigste - und meiner war sehr positiv. Ich mag seine direkte Art.
Das ganze SPOX-Interview mit Mladen Petric
Prognose:
Der HSV hat die Qualität im Kader noch einmal gesteigert, nur wenige Mannschaften in Deutschland haben vergleichbar viel Talent. Noch weniger Mannschaften in Deutschland sind allerdings auch vergleichbar unberechenbar und wetterfühlig. Überdies fehlt im Augenblick noch eine gewachsene Hierarchie im Team, das Gebilde wirkt zerbrechlich. Auch der Kredit bei den Fans ist deutlich weniger geworden.
Umso mehr wird also vom Klima der ersten Wochen abhängen und damit in erster Linie von der Ergebnissen zum Saisonstart. Das Auftaktprogramm allerdings hat es durchaus in sich, unter anderem Schalke und Wolfsburg zuhause, die emotional wichtigen Partien gegen St. Pauli und Bremen gleich auswärts.
Ob das fehlende internationale Geschäft indes wirklich ein Vorteil ist, hängt vor allem davon ab, wie sich renommierte Spieler verhalten, wenn sie keine Einsatzzeiten mehr bekommen. Wenn es aber gelingt, eine positive Stimmung zu erzeugen und der HSV zur Abwechslung ohne größere Verletzungssorgen durch die Saison kommt, ist das Ziel internationaler Wettbewerb absolut realistisch. Luft nach oben inklusive.
Hamburger SV: Der Kader im Überblick