Die Verhaltensbiologie prägte den Begriff der Hackordnung. Anhand der Beobachtung von Haushühnern wurde bewiesen, wie in einem sozialen Gefüge eine Hierarchie alleine dadurch entsteht, dass das ranghöhere Tier bei der Futterverteilung das rangniedrigere Tier mit dem Schnabel "weghackt" und so Überlegenheit demonstriert.
Ein Verhaltensmuster, das dieser Tage auch beim FC Schalke 04 zu beobachten ist - nur dass sich die Kontrahenten um die Rolle des Stammtorwarts nicht mit dem Schnabel, sondern mit gezielten Äußerungen in der Öffentlichkeit piesacken.
So erklärte Lars Unnerstall nach dem 1:0-Erfolg bei Bayer Leverkusen, dass er trotz der Verpflichtung von Timo Hildebrand nicht gedenkt, den durch Ralf Fährmanns Kreuzbandanriss frei gewordenen Platz widerstandslos zu räumen.
"Trainer Huub Stevens hat mir gesagt, dass es ein Dreikampf ist zwischen Hildebrand, Mathias Schober und mir. Es hängt davon ab, wie ich spiele und trainiere", sagte Unnerstall nach seiner tadellosen Vorstellung gegen zugegeben ungefährliche Leverkusener.
Lars Unnerstall selbstbewusst
Zwei Tage zuvor hatte der 21-Jährige seinen Anspruch noch pointierter formuliert: "Ein neuer Torhüter muss erst einmal an mir vorbei. Ich bin so selbstbewusst, dass ich sage: Ich habe gespielt und werde weiter spielen. Ich will nicht wieder auf die Bank!"
Dass ein zurückhaltender und selbst im Jugendbereich wenig profilierter Torwart, der im Sommer abgegeben werden sollte, derlei Aussagen tätigt, beweist vor allem eines: Hildebrand verfügt bei aller Prominenz auch bei seinem neuesten Arbeitgeber nicht über den nötigen Rückhalt, um unbesehen als Nummer eins gesetzt zu sein.
"Timo muss sich der Konkurrenz stellen. Sein Vertrag hat keine Option auf eine Verlängerung. Nur die Leistung entscheidet, wer spielt und wie es am Saisonende weitergeht", kündigt Sport-Vorstand Horst Heldt an. In der 2. Runde des DFB-Pokals beim Karlsruher SC (Mi., 18.45 Uhr im LIVE-TICKER) wird Unnerstall erneut den Vorzug bekommen.
Trainer Stevens plant hingegen Hildebrand erstmal für die zweite Mannschaft ein: "Timo braucht Zeit. Wir werden sehen, wie schnell es geht." Dabei stellte Hildebrands Berater Jörg Neblung vor der Unterzeichnung klar: "Wenn Timo bei Schalke einsteigt, muss er sich sicher sein, dass er auch spielt."
Hildebrand hält sich zurück
Ein Widerspruch, der die Zweifel bei Hildebrand weiter nährt: Wird Schalke das nächste Kapitel einer Karriere, die ohnehin reich ist an Missverständnissen und Fehlentscheidungen?
"Ich bin überglücklich. Ich habe lange gewartet und auf das Richtige gewartet, und das ist jetzt Schalke", so Hildebrand nach der ersten Trainingseinheit. Der 32-Jährige weiß, dass er nach den letzten vier Jahren nicht in der Position ist, Ansagen jeglicher Art zu machen: "Ich will einfach nur jeden Tag genießen."
Denn die Vergangenheit lehrte ihn vor allem eines: Bescheidenheit."Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Jetzt gehe ich mit viel Demut an die Sache heran", sagt Hildebrand nach seinem Absturz, der selbst im schnelllebigen Fußball bemerkenswert ist.
Mit 21 Jahren: Die Beförderung zum Stammtorwart des VfB Stuttgart. Mit 24: Der noch heute gültige Bundesliga-Rekord für die längste Zu-Null-Serie mit 884 Minuten. Mit 25: Das Debüt in der Nationalmannschaft. Mit 27: Der Gewinn der deutschen Meisterschaft 2006/07.
Hildebrand als Lästeropfer von Canizares
Letzteres bedeutete jedoch einen Einschnitt in Hildebrands Leben. Bereits 2005 hatte er sich wegen allzu hoher Gehaltsforderungen mit der VfB-Führung zerstritten, bevor er einer Vertragsverlängerung doch zustimmte. 2007 folgte aber der endgültige Bruch: Sich seines Marktwerts nach dem Titel bewusst, jonglierte er mehrere Anfragen gleichzeitig, nur um den denkbar schlechtesten Entschluss zu fassen: Er ging nach Valencia. Seitdem sollte seine Karriere nie mehr so sein, wie sie einmal war.
In seiner ersten Primera-Division-Saison kam er immerhin in 40 Pflichtspielen zum Einsatz, wobei ihn die Scharmützel mit Rivale Santiago Canizares zusehends zermürbten. Urgestein Canizares nutzte seine Hausmacht in Valencia und lästerte bei den Klub-Bossen und den Journalisten unverhohlen über Hildebrand, dem unbeständige Leistungen und fehlender Trainingseifer vorgeworfen wurden.
Aber das alles war nichts im Vergleich zu dem, was ihm im Sommer 2008 widerfuhr: Erst wurde er völlig überraschend kurz vor der EM bei der Nationalmannschaft aussortiert, dann verpflichtete Valencia mit Renan einen jungen Brasilianer, der sich nicht als besserer Torwart erwies, aber dennoch spielen durfte, während man Hildebrand zur Nummer drei degradierte.
Rückblickend sagt Hildebrand, dass er in Valencia "den eigenen Weg verloren" habe und die Nicht-Nominierung für die EM ein "nachhaltiger Knackpunkt" gewesen sei. "Diese Sache hat mich noch lange Zeit beschäftigt und aufgewühlt. Ich konnte mich nach der EM auf meine Aufgaben in Valencia nicht mehr konzentrieren. Diese Niederlage war permanent in mir drin."
Zwischenmenschliche Probleme in Hoffenheim
Im Januar 2009 versuchte er sich an einem Neubeginn in die Bundesliga bei 1899 Hoffenheim. Anfangs zeigte er manch starkes Spiel, das wieder an den Hildebrand früherer Tage erinnerte - nur um später auf einem mittelmäßigen Niveau zu verharren. Schlimmer noch: Mit seiner unnahbaren und nörgelnden Art isolierte er sich von Trainer Ralf Rangnick und der gesamten Mannschaft, weswegen Hoffenheim im Sommer 2010 davon Abstand nahm, ihm ein weiteres Angebot vorzulegen.
Mit dem Gefühl eines ewig Unverstandenen und frustriert ob der Arbeitslosigkeit, zog Hildebrand die falschen Schlüsse. In Berlin und in Köln öffneten sich Planstellen, die aber anderweitig besetzt wurden. Dem interessierten FC St. Pauli sagte Hildebrand ab.
Am Ende verblieb lediglich die Offerte von Sporting Lissabon. Ein Wechsel, der sportlich keinen Sinn machte, weil der Verein mit Rui Patricio bereits einen Mann protegierte, der das Tor der portugiesischen Nationalmannschaft hütet und neun Jahre jünger ist als Hildebrand.
Entsprechend selten durfte er spielen. Die letzte Partie datiert vom 4. November 2010. In den vergangenen eineinhalb Jahren stand er ganze 270 Minuten auf dem Platz, was auf Schalke Bedenken über Hildebrands Zustand hervorruft.
Zweifel an Hildebrand
Zwar verzichtete er auf einen Sommerurlaub, trainierte vier Monate lang mit einem Privatcoach und durfte in den vergangenen vier Wochen am Mannschaftstraining des Zweitligisten Eintracht Frankfurt teilnehmen. Mit dem heutigen Eintracht-Trainer Armin Veh und Schalke-Vorstand Heldt wurde Hildebrand 2007 Meister, so etwas verbindet.
"Ich habe ein Jahr lang keine Rolle gespielt, ich habe ein Jahr kein Spiel gemacht. Ich muss erst langsam wieder reinfinden", sagte Hildebrand, als er bei der Eintracht einstieg. Körperlich sei er fit, doch seinem Torwartspiel merke man die Praxis-freie Zeit an, sagen Beobachter aus Frankfurt.
Ein Eindruck, den offenbar auch andere Bundesligisten gewannen. Im Verlauf der Saison hatten mit Wolfsburg, Hamburg, Nürnberg und Leverkusen gleich vier Vereine wegen Formschwäche oder Verletzungen Bedarf an einem neuen Keeper. Leverkusen lieh sich pikanterweise aus Stuttgart den zuvor im Profifußball unerfahrenen Bernd Leno aus, Hildebrand hingegen wurde übergangen.
"Ich habe mir meine Karriere anders vorgestellt"
Nun gibt er sich geläutert - und so selbstkritisch wie nie. "Ich habe viel Zeit gehabt, um mir zu überlegen, was ich falsch gemacht habe", sagt Hildebrand. Er habe mit den Wechseln ins Ausland Fehler begangen, genauso im zwischenmenschlichen Bereich in Hoffenheim. Außerdem trennte er sich von seinem langjährigen Berater Dusan Bukovac und lässt sich nun von Jörg Neblung vertreten.
Der in Portugals Hauptstadt lebende Bukovac, Branchenname "Vampir aus Lissabon", verantwortete durch seine teils horrenden Forderungen den Ruf Hildebrands als Abzocker mit. Hildebrand ernüchtert: "Heute muss ich sagen: Ich habe mir meine Karriere anders vorgestellt."
Welche Lehren Hildebrand tatsächlich aus der Vergangenheit gezogen hat, wird sich zeigen. Zumindest befremdlich mutete es an, als er im August nach Los Angeles flog, um sich im Trainingslager von Manchester City vorzustellen.
City-Probetraining gab Rätsel auf
Er wolle nicht mehr in eine andere Liga, hatte Hildebrand wissen lassen, weil er in Valencia und in Lissabon gelernt habe, wie schwer es für einen ausländischen Torwart ist, sich gegen einen einheimischen Torwart durchzusetzen. In Valencia war es Canizares, in Lissabon Rui Patricio.
Bei City jedoch wäre die Situation die gleiche gewesen: Joe Hart ist nicht nur die unumstrittene Stammkraft bei City, sondern auch in der englischen Nationalmannschaft. Dennoch bot sich Hildebrand als Ersatzkeeper feil - und wurde abermals enttäuscht. Den Vorzug bekam ein gewisser Costel Pantilimon.
Ein rumänischer Torwart mit Nationalmannschafts-Einsätzen, dessen internationales Renommee jedoch überschaubar ist - doch das reichte offensichtlich aus, um Hildebrand in der Hackordnung zu überholen.
Timo Hildebrand im Steckbrief