SPOX: Herr Wormuth, gab es in der abgelaufenen Hinrunde einen neuen taktischen Trend?
Frank Wormuth: Die Hinrunde war eher eine Fortsetzung der WM 2010 und des Fußballs, den Deutschland auch in der letzten Saison gespielt hat. In der Bundesliga sind immer wieder moderne Ansätze zu erkennen, um einen Stil umzusetzen, der ähnlich ist zur Nationalmannschaft. Nur: An deren spielerische Qualität kommt außer Bayern München und Dortmund im Moment noch niemand heran.
SPOX: Was macht die Nationalmannschaft so besonders?
Wormuth: Die Balance. Mittlerweile kann sie nach Ballgewinn den Ball schnell nach vorne tragen und wenn sie es nicht im ersten Umschaltweg schafft, gibt es einen fließenden Übergang. Statt sich den Ball in der eigenen Hälfte zuzuspielen, kann Deutschland den Ball in der gegnerischen Hälfte halten und ähnlich wie der FC Barcelona Dominanz ausüben. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen, aber es funktioniert bereits ganz gut.
SPOX: Enttäuscht Sie die Bundesliga im Vergleich zur Nationalmannschaft aus taktischer Sicht?
Wormuth: Überhaupt nicht. Vielleicht ist es nicht immer das Niveau der Nationalmannschaft, das Schöne an der Bundesliga jedoch ist, dass alle Facetten der Taktik zu beobachten sind. Dortmund, Mainz, Hoffenheim damals unter Ralf Rangnick, diese Teams möchten nach Ballverlust sofort den Ball zurückerobern. Gladbach will hingegen defensiv gut stehen, zu null spielen und nicht überfallartig, sondern kompakt nach vorne arbeiten. Hannover wiederum spielt im Mittelfeld sehr verhalten, setzt auf schnelles Umschalten und kommt im besten Fall in sechs bis zehn Sekunden nach Ballgewinn zum Torabschluss. Mich freut es sehr, dass es in der Bundesliga keinen taktischen Einheitsbrei gibt.
SPOX: Welchen Fußball verkörpert Herbstmeister FC Bayern?
Wormuth: Man sieht noch immer Louis van Gaals Handschrift. Jupp Heynckes ist klug genug zu wissen, dass van Gaal zwei Jahre die Mannschaft geprägt hat, entsprechend versucht er nicht, komplett etwas Neues einzuführen, sondern an den elementaren Dingen des Van-Gaal-Fußballs festzuhalten. Heynckes geht psychologisch anders an die Spieler heran, was einem Franck Ribery offensichtlich gut tut, doch die taktische Basisarbeit stammt von van Gaal. Die Bayern werden immer flexibler, spielen im Grunde aber immer noch holländisch.
SPOX: Was heißt holländisch?
Wormuth: Erstens: In den Niederlanden wird sehr nach Position trainiert. Das ging bei Ajax Amsterdam los, erst im 3-4-3, später im 4-2-3-1. Ein Spieler erlernt eine spezifische Position und seine Rolle im Gesamtgefüge. Er muss wissen, dass er seiner Position treu sein und die für die Position nötige Technik sowie Taktik beherrschen muss. Entscheidend ist die Treue: Deswegen verließen die Bayern-Spieler unter van Gaal selten ihre Positionen. Ein zweites auffälliges Charakteristikum: die "Weißen Schuhe". Im holländischen Fußball halten die Außenspieler konsequent ihre Seite und verschieben so breit, dass die Schuhe immer weiß sind von der Kreide auf der Seitenlinie.
SPOX: Was bei den Bayern auffällt: Nach starkem Beginn wurde die Abwehr immer anfälliger. Heynckes sagt, dass das mit der fehlenden Zeit für Pressingtraining während der englischen Wochen zu erklären sei. Wird Pressing tatsächlich so schnell verlernt?
Wormuth: Pressingtraining bedeutet nicht nur Zeitaufwand, sondern auch einen Kraftaufwand. Das Pressing auf höchstem Level in Zeitlupe zu üben, bringt nichts, es muss immer unter Vollbelastung stattfinden: Hart anlaufen, im maximalen Bereich arbeiten. Außerdem lebt das Pressing von der Synchronizität aller Spieler. Wenn die Spieler nicht gleichzeitig pressen, entstehen Schnittstellen. Damit das verhindert wird, muss man im Training gemeinsam am Timing arbeiten - was weitere Zeit und Kraft kostet. Daher bleibt den Bayern wegen der Doppelbelastung nichts anderes übrig, als das Pressingtraining zu vernachlässigen. Hinzukommt eine psychologische Dimension.
SPOX: Nämlich?
Wormuth: Der Gegner weiß jetzt eher, wofür die Bayern anfällig sind. Sie sind es gewohnt, dominant zu spielen, weil der Gegner tief steht. Wenn jedoch Mainz ankommt und richtig Druck ausübt, bekommen die Bayern wegen der ungewohnten Situation ein Problem.
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SPOX: Müssten die Bayern grundsätzlich nicht flexibler sein und mitten im Spiel auch einmal vom 4-2-3-1 abkehren, um auf die angepasste Taktik der Gegner zu reagieren? So wie es Barcelona im Clasico bei Real Madrid vormachte?
Wormuth: Hier müssen wir erst mal zwischen den Begriffen Grundordnung und System unterscheiden. Eine Grundordnung sagt nur aus, wie der Trainer seine Spieler aufstellt: "Im Spiel gegen den Ball steht ihr im 4-4-2-Linie. Bei Ballbesitz stehen die Außenverteidiger hoch, so dass es ein 2-4-4 ergibt." Ein System hingegen beinhaltet nicht nur die Grundordnung, sondern die Verhaltensweise der einzelnen Positionen: Es ist zum Beispiel ein Unterschied in der Spielweise einer Mannschaft, ob sie im 4-4-2-Raute die Außenverteidiger in der Offensive hinten lässt oder sie marschieren lässt.
SPOX: Warum die Unterscheidung?
Wormuth: Eine Grundordnung zu verändern reicht nicht aus: Die Bayern liegen zurück, dann wird halt Daniel van Buyten in den Schlussminuten aus der Verteidigung in den Sturm gezogen. Mal klappt es, mal verpufft es. Vielmehr geht es darum, dass die Mannschaft je nach Spielsituation von System zu System variieren kann: Es geht nicht nur um die Grundordnung, sondern eben auch um taktisches Verhalten. Lassen wir den Gegner bei Ballverlust kommen? Gehen wir gleich voll drauf? Wie verhalten sich die Außenverteidiger? Die Bayern sind am Toplevel, doch wenn sie die letzte Stufe nach ganz, ganz oben schaffen wollen, müssen sie sich vielleicht noch ein wenig weiterentwickeln. Aus dem Grund hat Bundestrainer Jogi Löw gegen die Ukraine auf die Dreier-Abwehrkette umgestellt. Die Spieler dachten: "Was ist denn nun los?" Löws Botschaft war: "Burschen, passt auf, ihr müsst damit rechnen, dass wir von draußen Dinge verändern können, die ihr vorher als gegeben betrachtet habt."
SPOX: Welche Mittel stehen Trainer zu Verfügung, um innerhalb eines Spiels taktisch zu reagieren?
Wormuth: Beim 1:1 zwischen Köln und Mainz haben beide Trainer gezeigt, wie es gehen kann. Stale Solbakken verändert etwas, Thomas Tuchel reagiert darauf, woraufhin Solbakken seine Spieler wieder verschiebt. Die Fähigkeit, der Mannschaft durch Zuruf von Keywords ein anderes System vorzugeben, ist eines der nächsten vertieften Themen in der Trainer-Ausbildung im Rahmen unseres Blocks "Systemdiskussion und Wenn-Dann-Strategien". Bei Barcelona klappt das, weil die Spieler das Produkt einer jahrelangen fußballerischen Sozialisation sind.
SPOX: Wie sieht das in der Praxis aus?
Wormuth: In meiner eigenen Trainerpraxis hatte ich drei Varianten: Ein grundsätzliches System, das immer und überall gespielt worden ist und zwei Variationen, die abhängig von Zeitpunkt und Spielstand waren. Grob dargestellt: Bei einer Führung gegen Ende eines Spieles bildete ich mit den Händen eine Pyramide über dem Kopf, dann wusste die Mannschaft, dass sie im Tannenbaum spielen sollte. Tief stehen, den Gegner nach außen lenken. Bei einem Rückstand gegen Ende des Spieles schlitzte ich mir mit der Hand imaginär die Kehle auf, dann hieß es Harakiri, und es blieben nur zwei Spieler hinten, alle anderen gingen nach vorne und versuchten, den zweiten Ball aufzunehmen. Das Ideal für einen Trainer, aber auch den Spielern am schwersten beizubringen, ist: Um den Gegner zu irritieren, steht man zunächst tief, dann wird nach Zeichen des Trainers auf Pressing umgestellt, ein paar Minuten später kehrt man nach einem erneuten Signal von außen zurück zum Tiefstehen und so weiter. Das ist jedoch hohe Kunst und beinhaltet einen starken Vertrauensverbund zwischen Trainer und Mannschaft.
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