294 Minuten ohne Sieger! Als Deutschland keinen Fußball-Meister hatte

Alexander Maack
13. April 202021:11
Nach zwei Unentschieden zwischen dem HSV und Nürnberg gab es 1922 keinen Meister.imago images
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19 Mal trugen Sanitäter verletzte oder entkräftete Spieler vom Platz, vier bis fünf Zähne blieben auf dem Rasen und doch musste das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft 1922 zwischen dem Hamburger SV und dem 1. FC Nürnberg wiederholt werden. Am Ende gab es zwar immer noch keinen Sieger, dafür aber zwei Platzverweise, einen Spielabbruch und wütende Fans.

Dieser Artikel erschien erstmals am 28. September 2012.

Berlin, 18. Juni 1922, 17 Uhr. 27 Grad, die Luft über dem Berliner Grunewaldstadion drückt, nachdem es erst kurz zuvor aufgehört hat zu regnen. 30.000 Zuschauer haben zum Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft den Weg ins Stadion gefunden, als der spätere DFB-Präsident und frühere Stürmer des Kölner FC, Peco Bauwens, das bis heute längste Endspiel der Fußball-Geschichte zwischen dem 1. FC Nürnberg und dem Hamburger SV anpfeift.

Die Rothosen sind an diesem Abend krasser Außenseiter, obwohl sie in der im Halbfinale den FC Wacker München mit 4:0 nach Hause schickten. "Als wäre eine Welt untergegangen, so schockierte dieses Ergebnis den Süden", schrieb der Journalist Peter Korf 1956 im Sport-Magazin.

Trotz dieses Ergebnisse hat in Nürnberg keiner Angst vor dem Finale. Probleme gibt es beim Club eigentlich nicht an sportlicher, sondern an finanzieller Stelle. Der Stadionausbau hat viel Geld gekostet. Vor dem Halbfinale absolviert Nürnberg noch ein Testspiel bei Eintracht Frankfurt, zu dem aber nur 7000 Zuschauer kommen.

Nach zwei Unentschieden zwischen dem HSV und Nürnberg gab es 1922 keinen Meister.imago images

Schienbeinbruch vor dem Endspiel

Die ärgerliche Konsequenz: Nationalspieler Hans Kalb bricht sich das Schienbein, auch der begnadete Mittelläufer Hans Sutor verletzt sich. Letzterer wird rechtzeitig wieder fit und komplettiert die Elf um Luitpold Popp, Heiner Träg und den legendären Torhüter Heiner Stuhlfauth, der sich bei seinen Abwehrspielern schon mal beschwerte, wenn ihm während des Spiel zu langweilig wurde. "Lasst sie doch mal durch!" hört man von heutigen Weltklassetorhütern jedenfalls eher selten.

Zu wenig hatte der Nürnberger Torwart im Endspiel keinesfalls zu tun. Schon in der 19. Minute schießt der Teenager Hans Rave die erst drei Jahre zuvor aus drei Hamburger Vereinen zusammengewürfelte Mannschaft in Führung.

Ein Affront gegen die überlegenen Nürnberger. Träg schnappt sich direkt nach dem Anstoß das Leder, marschiert allein durch die gesamte HSV-Hintermannschaft und egalisiert den Spielstand postwendend aus drei Metern.

Torwart über die Linie gerannt - kein Tor

Nachdem Popp in der 30. Minute schließlich aus zwanzig Metern zur Führung einnetzt, fordern die Nürnberger wenige Minuten später sogar das 3:1. Doch Schiedsrichter Bauwens entscheidet auf Foulspiel, weil Träg den HSV-Keeper Hans-Joachim Martens mit Ball einfach über die Linie rennt.

Bauwens fällt in der Folge eine entscheidende Rolle zu. Das Spiel wird nach der Halbzeit immer härter. "Immer verbitterter, härter, unschöner und verworrener wird das Spiel", schreibt das Sport Magazin.

So unterbricht der Referee die Partie nach der zehnten Verletzungsunterbrechung und fordert die Spieler auf, sich des Fair-Play-Gedankens zu besinnen.

Hamburgs einziger Nationalspieler Otto "Tull" Harder, der nach dem Zweiten Weltkrieg wegen seiner Zeit als KZ-Aufseher zu 15 Jahren Haft verurteilt wird, versteht den Appell offensichtlich nicht ganz und rammt seinem Gegenspieler Anton Kugler die Faust "unabsichtlich, aber fürchterlich" mitten ins Gesicht.

Vier bis fünf Zähne bleiben in Berlin

Vier Zähne, manche Quellen sprechen von fünf, verliert der Nürnberger, was einen anonymen Zeitzeugen Jahre später immer noch nicht kalt lässt: "Im Geiste sehe ich den Kugler Toni, wie er einen Zahn um den andern auf die geweihte, blutgetränkte brandenburgische Erde spotzt."

Die kompakt stehenden Hamburger versuchen mit ihrem Husarenstil derweil immer wieder überfallartig die Nürnberger zu überraschen, bis Hans Flohr vier Minuten vor Schluss zum Ausgleich für den HSV trifft. Der Endstand.

Zweimal gibt es anschließend Verlängerung, bis Bauwens nach 140 gespielten Minuten abpfeift. 19 Mal mussten Sanitäter bisher verletzte oder entkräftete Spieler vom Platz tragen. Immer noch ist kein Tor gefallen und das Elfmeterschießen wurde noch nicht erfunden.

Es fällt kein Tor, sondern Schiedsrichter Bauwens

Erbarmen gibt es nicht: Bauwens pfeift wieder an. Lange bevor Oliver Bierhoff im Wembley-Stadion das Golden-Goal gegen Tschechien erzielte, soll nun das nächste Tor über die Deutsche Meisterschaft entscheiden. Allein: Das Tor fällt nicht, sondern der Schiedsrichter.

Nach 165 Minuten bricht Bauwens von Wadenkrämpfen geplagt mitten auf dem Platz zusammen. Der Unparteiische stemmt sich wieder hoch und pfeift das Spiel nach kurzer Pause wieder an. Kein Erbarmen.

Kurze Zeit später aber ist das Spiel dann doch vorbei. Ohne Sieger. Nachdem die Zuschauer schon minutenlang "Aufhören!" skandieren, hat Bauwens schließlich doch ein Einsehen und bricht nach 189 gespielten Minuten ab. Der Grund: Es ist fast dunkel und Fluchtlicht gibt es nicht.

Als der junge Sportjournalist vom kampfbetonten Spiel euphorisiert auf Stuhlfauth zu rennt und ihn fragt, ob es morgen weitergehe, blafft der Nürnberger Torwart ihn vor versammelter Mannschaft an: "Sie sänn gwieß närrisch, Herr Schödel!" Die Entscheidung muss also an einem anderen Tag fallen

So treffen sich der Hamburger SV und der 1. FC Nürnberg am 6. August 1922 wieder. Dieses Mal geht es nach Leipzig und wieder haben die Nürnberger Verletzungspech. Der Verteidiger Michael Grünerwald bleibt bei einem Zwischenhalt des Zuges beim Aussteigen am Trittbrett hängen und verknackst sich beim Sturz den Fuß. Dabei wollte er nur Bier und Würstchen holen.

Kurz entschlossen telegrafieren die Nürnberger in die Heimat: "Grünerwald verletzt - stop - mit Sonderzug nachkommen - stop - 1. FC Nürnberg." Als der Reservist Reitzenstein, dessen Vornamen bis heute jede Chronik verschweigt, das Telegramm am Tag vor dem Endspiel liest, reist er mit der Horde lärmender Glubberer nach Leipzig.

Die Euphorie um das Wiederholungsspiel ist noch größer als sechs Wochen zuvor. 50.000 bis 70.000 Zuschauer sind ins VfB-Stadion in Probstheida gekommen. Die Spieler brauchen eine halbe Stunde, um sich einen Weg von den Umkleiden auf den Rasen zu bahnen. Was dann folgt, beschreibt eine Sportzeitung aufgrund der Nähe zum Völkerschlachtdenkmal recht bildlich: "Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen."

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Schiedsrichter greift durch

Peco Bauwens, der sich mittlerweile von seinen Wadenkrämpfen erholt hat, ist wieder mit der Spielleitung betraut. Und er hat viel zu tun, wie sich seinem Bericht unschwer entnehmen lässt: "Nachdem sich in der ersten Viertelstunde eine scharfe Note im Spiel beider Mannschaften zeigte, ermahnte ich die Mannschaftsführer und wies darauf hin, dass ich nun zu dem schärferen Mittel des Herausstellens greifen würde, da meine dauernden Ermahnungen und die Verhängung von Strafstößen (damalige Bezeichnung für Freistöße, Anm. d. Red.) doch nichts nützen würden."

Die Worte des Schiedsrichters verhallen ungehört. Als die Hamburger den Ball mit einem Befreiungsschlag auf den linken Flügel klären, packt den Nürnberger Mittelstürmer Willy Böß die Wut. "Als der hohe Stoß erfolgt war, sah ich noch, wie Böß, obgleich der Ball weg war, sein Bein gegen einen am Boden liegenden Hamburger erhob. Daraufhin verwies ich Böß des Spielfeldes", schrieb Bauwens nieder.

Selbst der eigene Vereinspräsident reagierte erbost. "Böß Verhalten war ein Vorkommnis, das geeignet war, nicht nur unsere Hoffnungen, sondern auch unsern sportlichen Kredit ins Wanken zu bringen", schrieb Ludwig Bäumler anschließend in der Vereinszeitung: "Zu deuteln gibt es an der Sache nichts, sie ist festgestellt von einwandfreien Zeugen; dass der angegriffene Beier nach Verlauf von fünf Minuten wieder kreuzfidel weiter spielte, ändert wenig."

Club geht in Unterzahl in Führung

Trotzdem geht der Club in Unterzahl spielend in der 48. Minute durch Träg in Führung. Karl Schneider gleicht in der 69. Minute für den HSV aus. Dann passiert nichts mehr. Jedenfalls vor dem Tor, denn vier Minuten später muss der nächste Nürnberger vom Platz. Es trifft Kugler, der im Hinspiel die Zähne verlor. Jetzt streikt das Knie und Auswechslungen sind noch nicht erlaubt. Mit zwei Spielern weniger retten sich die Nürnberger schließlich in die Verlängerung. Klappe die Dritte.

Was dann folgt, kann nur ein Zeitzeuge beschreiben. "Bevor ich die erste Verlängerung anpfiff, hörte ich eine heftige Auseinandersetzung zwischen Träg und Agte. Ich frug, um was es sich handelte, worauf Träg sehr erregt sagte: ‚Der hat Lump zu mir gesagt und Sie haben es nicht hören wollen.'", schildert Bauwens die Vorkommnisse nach Ende der regulären Spielzeit. "Agte versuchte, sich bei Träg zu entschuldigen. Dieser ließ dies aber nicht gelten, sondern erklärte ihm, ihn fünf Minuten vor Schluss kaputt zu treten."

Die Drohung des bullig, aber klein gewachsenen Trägs bleibt ohne Folgen. Bauwens beweist Fingerspitzengefühl, belässt es bei einem Ordnungsruf und pfeift die Verlängerung an. Träg, eigentlich gelernter Kaufmann, macht sein dennoch Versprechen wahr.

Pünktlich wie ein Handwerker stößt er seinem Gegenspieler Beier in der 100. Minute "mit aller Kraft in den oberen Rücken, nahe dem Nacken, so dass Beier nach vorn überkugelte", wie Bauwens beobachtet. "Die Handlung war derart gemein, dass ich nahe daran war, das ganze Spiel jetzt schon abzubrechen."

Nationalspieler Popp bricht entkräftet zusammen

Es bleibt beim Platzverweis. Elf Hamburger und acht Nürnberger stehen noch auf dem Feld, als die erste Hälfte der Verlängerung abgepfiffen wird. Plötzlich Aufregung. Direkt nach dem Pfiff bricht Popp entkräftet zusammen. Der Schiedsrichter lässt einige Minuten verstreichen. Nach der Satzung des DFB muss eine Mannschaft zumindest aus acht Spielern bestehen.

"Es wurde mir dann nach weiterem Befragen von Riegel erklärt, Popp könne nicht mehr weiterspielen", notiert Bauwens. "Ich machte nochmals darauf aufmerksam, dass ich dann das Spiel abbrechen müsste, da weniger als acht Mann auf dem Spielfelde seien. Auch dann erklärte Riegel nach einiger Zeit, Popp könne nicht mehr eintreten und so brach ich dann das Spiel vor Beginn der zweiten Verlängerung ab."

294 Minuten reine Spielzeit sind absolviert. Vier Stunden und 54 Minuten. Nach Toren ist kein Sieger gefunden. Einige Hamburger Schlachtenbummler fordern eine Fortsetzung und werden von den Ordnungshütern gebändigt.

Der Deutsche Fußball-Bund erklärt schließlich mit dem Hildesheimer Urteil den HSV zum Meister, weil der Club "durch das unsportliche Verhalten zweier seiner Mitglieder, das dann deren Ausschließung zur Folge hatte, den Abbruch selbst verschuldete".

Spielabbruch war regelwidrig

Was dann folgt, ist verbandsjuristisches Geplänkel, das bis heute unerreicht blieb. Nicht erst seit Michael Preetz kennen Fußballer das Mittel des Protest: Der Einspruch der Nürnberger hat Erfolg. Bei der Revision in Würzburg entscheidet der Verband, dass für 1922 kein Meister ermittelt wird. Der Grund: Bauwens brach das Spiel ab, während es unterbrochen war. Ein Fehler. Der Schiedsrichter hätte erst wieder anpfeifen müssen.

Die Rothosen lassen nicht locker und bringen das Thema auf dem DFB-Bundestag im November erneut zur Sprache. Dieser entscheidet in Jena mit 53:35 Stimmen zugunsten des HSV. Im Namen des HSV-Vorstands erklärt Henry Barrelet, angeblich unter Druck des DFB: "Der H.S.V. erhebt keinen Anspruch auf die diesjährige deutsche Meisterschaft."

Zum zweiten und bisher letzten Mal seit 1904 gibt es keinen Deutschen Meister. Auf der Meisterschale werden später beide Klubs als Titelträger eingraviert. Auch wenn HSV-Fans bis heute den Sieg für sich reklamieren, gehört das Schlusswort dem Nürnberger Torwart Heiner Stuhlfauth: "Wenn man in einem Spiel vier Stund lang' spielt, lernt man sich richtig kennen - kameradschaftlich und charakterlich."