Am Anfang war die Bank. Dabei war Daniel Carvajal mit vielen Erwartungen und einem großen Ziel im Gepäck nach Deutschland gekommen.
Im Schatten des Bayer-Kreuzes, bei einem zwar solide alimentierten, aber ungleich populären Klub fernab der Heimat, wollte sich der 20-Jährige jenes Format erarbeiten, von dem so ziemlich jeder Jugendspieler irgendwann mal träumt.
Alternativplan Bayer
Zehn Jahre lang war er seinem Traum zu Hause hinterhergerannt. Carvajal ist in Leganes aufgewachsen, einer Kleinstadt in der Peripherie Madrids. Als Carvajal zehn Jahre alt ist, wird er von Real Madrid entdeckt. Er beginnt wie hunderte andere auch die Jagd nach dem ganz großen Ding: Im Santiago Bernabeu für Real Madrid zu spielen.
Im Frühjahr 2012 ist für den Traum vorläufig Endstation. Sergio Ramos und Alvaro Arbeloa heißen die Kontrahenten, beide sind für Carvajal eine Nummer zu groß. Bayer Leverkusen fragt an und Carvajal entschließt sich nach einiger Zeit für den Umweg Bundesliga. Raus aus der Sackgasse, rauf auf den alternativen Weg zum Glück.
Dass Deutschland und Leverkusen für ihn eine Art Zwischenstation sein sollen, daraus macht Carvajal erst gar keinen Hehl. "Ich hoffe, dass ich mich verbessern und zu Real zurückkehren kann, wenn ich bereit für die erste Mannschaft bin."
Castros Durchbruch "weiter vorne"
Gonzalo Castro ist seit sieben Jahren Profi. Er hat an die 200 Bundesligaspiele absolviert, für die erste Mannschaft bereit war er schon im Jahr 2005. Castro war einst das aufstrebende Außenverteidigertalent, dann der flexibel einsetzbare Spieler. Beide Rollen sollten ihn nur bedingt zufriedenstellen.
In Leverkusen gibt es bis auf die Position des Torhüters und der des Stoßstürmers keine mehr, die Castro nicht irgendwann schon bespielt hätte. Unter verschiedenen Trainern war er Rechts- und Linksverteidiger, spielte im Zentrum in der Viererkette, im zentralen Mittelfeld, dort auch auf den Außen.
Im Prinzip ist er einer jener wenigen Spieler, denen ihre beidfüßige Ausbildung zwar Variabilität verleihen - diese aber letztlich darin mündete, dass Castro mehr und mehr zum Lückenfüller wurde und kein Spezialist mehr war.
Sein letztes Länderspiel bestritt er vor über fünf Jahren, auf der Mangelposition schlechthin im deutschen Fußball: Rechts in der Abwehrkette - als Gegenpart von Philipp Lahm, der damals noch links spielte. Dabei brachte Castro alle Voraussetzungen mit, um sich dort dauerhaft auf Top-Niveau zu etablieren.
Im Laufe der Jahre und mit jedem neuerlichen Positionswechsel für zwei, drei Spiele reifte in ihm aber die Erkenntnis, dass er im offensiven Mittelfeld am besten aufgehoben sei. "Ich habe immer gesagt: 'Wenn ich weiter vorne spiele, bin ich noch wertvoller.'"
Eine Erfolgsgeschichte der Hinrunde
Aber erst mit der Amtsaufnahme von Sascha Lewandowski und Sami Hyypiä sollte sich Castros Situation grundlegend ändern. Und einen großen Anteil daran hat auch Dani Carvajal.
Mit dem Spanier wurde ein Puzzlestück gefunden, dass es Castro erlaubte, weiter vorne zu agieren. Dass Lewandowski und Hyypiä zudem das System noch umstellen und Castro sogar einen Tick weiter nach vorne ziehen wollten, war zu Beginn der Saison noch nicht in der Form zu erkennen.
Als Bayer zum Auftakt bei Eintracht Frankfurt ran musste, saßen Carvajal und Castro plötzlich auf der Bank. Bayer hatte seinen Spielstil noch lange nicht gefunden, also vertraute Lewandowski im Ansinnen auf einen erfolgreichen Start auf eine altbewährte Systematik und Kräfte.
Als dann aber eine Woche später der erste Feldversuch mit beiden auf der rechten Seite ganz vorzüglich funktionierte, war dies der Auftakt zu einer der Erfolgsgeschichten der abgelaufenen Hinrunde. Bayers eigenwilliges Spielsystem mit drei zentralen defensiven Mittelfeldspielern und drei nach vorne orientierten Spielern ermöglicht es Castro, seine Stärken noch mehr einzubringen.
Spielsystem ein elementarer Punkt
"Vorne macht es immer Spaß. Wenn man näher am Tor ist, dann kann man auch mal welche schießen", sagt er und ließ seinen Sprüchen Taten folgen. "Als Rechtsverteidiger schießt man halt keine sechs Tore. Jetzt bin ich weiter vorne. Ich profitiere davon, wie geschlossen die Mannschaft auftritt. Ich komme im Mittelfeld oft zum Abschluss und fühle mich einfach gut."
Mit sechs Treffern und fünf Assists spielt er seine bislang beste Saison überhaupt. Daran hat Leverkusens verändertes Defensivverhalten einen großen Anteil.
Bayer ist an sich eine physisch starke Mannschaft, mit spielintelligenten, aber trotzdem robusten Abräumern im defensiven Mittelfeld. Vereinfacht sieht Lewandowskis Plan unter anderem vor, den Gegner immer wieder an der Außenlinie festzunageln, indem aus dem Zentrum nach außen hin Druck aufgebaut wird.
Auf die deshalb oft erfolgenden Zuspiele in die Halbräume spekulieren die Sechser. Gleichzeitig lauern die beiden vorgeschobenen Mittelfeldspieler Castro und Schürrle auf den Ballgewinn, um dann in den freien Raum zu starten und sofort die Konterattacke fahren zu können.
Dampf über rechts
Auf dem Papier eine einfache Überlegung, die in der Praxis aber eine ausgereifte Balance zwischen und innerhalb der einzelnen Mannschaftteile erfordert. Dass Bayer aber auch bei eigenem Ballbesitz Gefahr ausstrahlen kann, liegt unter anderem an den hoch anlaufenden Außenverteidigern wie Carvajal.
Der wäre ein klassischer Box-to-Box-Spieler, wäre sein Aufgabengebiet nicht direkt neben der Seitenlinie platziert. Kaum ein anderer Außenverteidiger in der Liga marschiert derart viel und gerne nach vorne wie der Spanier. So macht Leverkusens rechte Seite mit Carvajal und Castro in der Regel mehr Offensivbetrieb als die linke mit Sebastian Boenisch (oder Hajime Hosogai in der Vorrunde) und Andre Schürrle. In einer physisch starken Mannschaft sind sie das spielerische Moment.
Castro war für Carvajal bei dessen erster Station außerhalb von Madrid natürlich Anlauf- und Orientierungspunkt. Schnell bemerkte der die Vorzüge des Spaniers, schwärmte schon nach wenigen Wochen: "Er hat einen unglaublichen Willen, wie ich ihn selten bei einem Spieler gesehen habe."
Real will Carvajal zurück
Die Entwicklung Carvajals im fernen Leverkusen blieb bei den Real-Bossen nicht unbemerkt. Angeblich sollen sich die Königlichen intern schon auf eine Rückholaktion Carvajals im Sommer geeinigt haben. Dabei hatte der vor sieben Monaten doch einen Fünfjahresvertrag bei Bayer unterzeichnet.
Eine Rückkaufoption bis 2015, die Carvajal jedes Jahr 1,5 Millionen Euro teurer als seinen damaligen Verkaufswert von fünf Millionen Euro macht, könnte für Bayer noch zu einer schmerzhaften Angelegenheit werden; gerade jetzt, wo das Provisorium rechts hinten beendet schien.
"Natürlich ist es Danis Traum, irgendwann wieder für Real zu spielen", sagt Sportdirektor Rudi Völler und fügt mit einer Mischung aus Überzeugung und Zweckoptimismus an: "Aber ich glaube nicht, dass es schon im Sommer passieren wird."
Castros Ziel bleibt das Ausland
Spätestens dann wird wohl auch über die Zukunft von Gonzalo Castro gesprochen werden. Der besitzt bei Bayer noch einen Vertrag bis 2014. Mit 25 Jahren ist er noch ein verhältnismäßig junger Spieler, trotzdem hat er auch einen Abstecher ins Ausland im Kopf.
"Im Moment habe ich Vertrag bei Bayer und jeder weiß ja, wie wohl ich mich hier im Verein fühle", sagt Castro. "Doch natürlich werde ich auch einmal den nächsten Schritt machen. Ich möchte mich im Ausland weiterentwickeln und als Mensch und Fußballer neue Erfahrungen sammeln."
Vielleicht kann er sich dann ja bei Daniel Carvajal ein paar Tipps holen, wie das so ist. Für Bayer Leverkusen muss er anderswo aber nicht mehr in die Lehre gehen. Diese Zeit hat Gonzalo Castro längst hinter sich.
Das ist Bayer Leverkusen