"Man zerstört Träume"

Benjamin Wahlen
21. November 201412:30
Arie van Lent trainiert die U 19 der Borussia, Roland Virkus ist Direktor Jugend und Amateuregetty
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Die Nachwuchsarbeit in Mönchengladbach ist beispielhaft - kaum ein Bundesligist etablierte in den vergangenen Jahren ähnlich viele Eigengewächse bei den Profis. Doch die Zahl derer, die den Sprung nicht schaffen, ist riesig. SPOX sprach mit Jugend- und Amateur-Direktor Roland Virkus und U-19-Trainer Arie van Lent. Das Duo über kräftezehrende Entscheidungen, Vaterrollen, Farm-Teams und den Abgang von Sinan Kurt.

SPOX: Herr Virkus, mit Arie van Lent und Oliver Neuville haben Sie zwei Trainer für die U 19 verpflichtet, die sich schon während ihrer aktiven Karriere einen Namen in Gladbach gemacht haben. Eine bewusste Entscheidung?

Roland Virkus: Natürlich. Gerade im Jugendbereich braucht man Trainer, zu denen die Jungs hochschauen können. Es ist wesentlich einfacher, einem Trainer zu glauben, der selbst schon etwas erreicht hat und denselben Weg gegangen ist. Außerdem legen wir großen Wert darauf, dass jeder Mitarbeiter der Borussia die Philosophie des Vereins kennt und lebt.

SPOX: Herr van Lent, Sie haben vor Ihrem Engagement bei Gladbach nur Profimannschaften trainiert. Ist das Training mit Jugendspielern eine große Umstellung?

Arie van Lent: Als Nachwuchstrainer ist man nicht nur Coach, sondern gleichzeitig auch Vorbild und Lehrer. Ich habe vorher nicht gedacht, dass die Pädagogik ein so wichtiger Teil der Arbeit ist. Die Intensität und der Zeitaufwand sind aber vergleichbar.

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SPOX: Gehört zu diesen pädagogischen Aufgaben auch, auf die unterschiedlichen Kulturen der Spieler einzugehen?

Van Lent: Das ist das kleinste Problem, weil die Jungs eigentlich nur den einen Gedanken haben, Fußball zu spielen. Es gibt keine einfachere Art, miteinander umzugehen. Es ist egal, wo man herkommt oder welcher Religion man angehört. Beim Fußball zählt nur der Teamgedanke.

SPOX: Die Schule spielt in den Köpfen der Jugendspieler hingegen meist eine untergeordnete Rolle.

Virkus: Das ist doch klar. Jeder träumt von einer Karriere als Fußballprofi. Unsere Aufgabe und Verantwortung ist es, die Prioritäten zurechtzurücken und alles dafür zu tun, dass sie sich mit dem bestmöglichen schulischen Abschluss ein zweites Standbein schaffen.

SPOX: Wie sieht diese Unterstützung konkret aus und wie reagiert man, wenn die schulischen Leistungen stark abfallen?

Virkus: Wir haben eigene Lehrer, die den Spielern Nachhilfeunterricht geben, die Hausaufgaben betreuen und sie unterstützen, wo es nur geht. Manchmal muss man ihnen aber den Spiegel vorhalten: Nur ein verschwindend geringer Anteil schafft den Weg nach oben. Die meisten müssen auf Basis eines guten Schulabschlusses einen vernünftigen Beruf erlernen oder studieren. Davon dürfen sie sich nicht ablenken lassen, auch nicht vom Fußball.

SPOX: Eine andere Ablenkung sind Freundinnen.

Van Lent: Tja, das ist in dem Alter natürlich auch ein Thema. Die Jungs stecken voll in der Pubertät, da bleibt das Testosteron nicht aus (lacht). Wenn wir wüssten, welchen Einfluss die Mädels auf die Jungs haben - ob positiv oder negativ - könnte das vielleicht sogar helfen. Man merkt auf jeden Fall, wenn ein Spieler sehr verliebt ist oder schlimmen Liebeskummer hat.

SPOX: Wird das für den ein oder anderen nicht zu viel?

Virkus: Da die Jugendspieler neben dem normalen Trainings- und Spielbetrieb auch noch die Schule bewältigen müssen, ist die Belastung natürlich immens. Der Verein muss darauf achten, dass es genügend Zeit zur Regeneration gibt und die Spieler gegebenenfalls auch in den Urlaub schicken. Das Hochleistungsalter wird heute wesentlich früher erreicht, dem muss man Rechnung tragen und zugleich aufpassen, dass keiner der Jungs überdreht.

SPOX: Wieviel Profi steckt in der Jugend schon in den Spielern? Herrscht dort höchste Konzentration auf das Ziel, oder haben die Jungs auch noch Flausen im Kopf?

Virkus: Natürlich haben sie noch Flausen im Kopf. Wenn das nicht so wäre, würden sie sich ja wider die Natur verhalten. Es ist normal, dass da hin und wieder auch mal einer Mist baut und sich danach mit den entsprechenden Konsequenzen auseinandersetzen muss. Das gehört zum Erwachsenwerden. Persönlichkeitsentwicklung läuft nie reibungslos. Aber: Ohne Reibung gibt es auch keine Entwicklung.

SPOX: Gilt das auch für Spieler wie Patrick Herrmann, Tony Jantschke oder Julian Korb, die in den letzten Jahren den Sprung zu den Profis geschafft haben?

Virkus: Ja. Allerdings muss ich sagen, dass diese Jungs auch schon in der Jugend sehr vernünftig waren. Etwas wirklich Brisantes oder Schlimmes ist da nie vorgekommen. Und wenn doch, haben sie es so angestellt, dass ich nichts davon mitbekommen habe.

SPOX: Entstehen hin und wieder auch Reibungspunkte mit den Eltern der Spieler? SPOX

Virkus: Wir halten den Kontakt zu den Eltern bewusst minimal, weil wir unsere Entscheidungen nie von Sympathien oder Antipathien abhängig machen wollen. Das hat nichts damit zu tun, dass wir jemanden nicht leiden können, sondern ist einfach eine professionelle Einstellung. Klar ist aber auch: Jeder Elternteil, der eine Auskunft haben möchte, erhält diese von mir auf eine absolut faire, ehrliche und vernünftige Weise.

SPOX: Sind die Eltern auch der erste Ansprechpartner, wenn man auf externe Talente zugeht?

Virkus: Das kommt auf das Alter an. In erster Instanz informieren wir immer den Verein, dass wir Interesse an einem seiner Talente haben. Erst danach wenden wir uns an den Spieler. Bis zur U 17 sind da immer auch die Eltern mit im Boot. Man setzt sich dann gemeinsam zusammen und wir versuchen, die andere Partei von unserer Philosophie zu überzeugen. Ab der U 19 haben dann schon fast alle Spieler einen Berater.

SPOX: Für welche Philosophie steht Borussia Mönchengladbach?

Van Lent: Die Möglichkeiten in Gladbach genügen den höchsten Standards in Europa. Dafür muss man sich nur mal die Anlage hier am Borussia-Park anschauen, das Trainingsgelände, das Stadion, das Internat und das Personal. Ich kenne zudem nur wenige Vereine, bei denen eine ähnliche Durchlässigkeit nach oben gegeben ist. Junge Spieler bekommen hier genau das, was sie brauchen, um sich bestmöglich zu entwickeln.

Seite 1: Die Rolle der Eltern, Freundinnen und Flausen im Kopf

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SPOX:Die Entwicklung fängt auch in Gladbach schon sehr früh an, nämlich bei der U 9. Sucht man auch in diesem Alter schon aktiv?

Virkus: Tatsächlich scouten wir ab der U 9. Dabei ist es aber ganz wichtig, dass die Spieler aus der Umgebung kommen. Die Fahrtzeit darf nie länger als die Trainingszeit sein. Je höher die Spielklasse, desto weiter auch der "Einzugsbereich". Bei der U 19 sprechen wir dann schon über ein europaweites Scouting.

SPOX: Wie genau funktioniert das Scouting?

Virkus: Das ist ein wahnsinnig großes und verstricktes System. Es fängt an mit unseren Jugendscouts, die klar abgesteckte Gebiete und Aufträge haben. Pflicht sind natürlich alle Events wie Landes- und Kreisauswahlen, Junioren-Länderspiele und die umliegenden Vereine. Wenn es in höhere Altersklassen geht, bin ich vor Ort, wenn wir uns im Lizenzbereich befinden oft auch Max Eberl. Außerdem haben wir einige Partnervereine, die in den Regionen und Ligen, in denen wir selber nicht mehr spielen, für uns scouten.

SPOX: Wie groß ist der Konkurrenzkampf?

Virkus: Ganz unten geht es noch. Ab der D-Jugend ist es dann ein sehr umkämpftes Gebiet, gerade hier im Westen, wo so viele Bundesligisten und Zweitligisten im Umkreis von 100 Kilometern angesiedelt sind. Dann zählen nur noch die besten Argumente. Du musst den Jungs einen authentischen Weg zeigen, auf dem du sie zu ihrem Ziel, Profi zu werden, bringst. Dabei ist es aber wichtig, immer fair und ehrlich zu bleiben. Ich sage jedem Spieler, dass es in erster Linie an ihm liegt, ob er ein Profi wird. Wir können hier lediglich die Wahrscheinlichkeit erhöhen.

SPOX: Ist es einfacher geworden, Spieler von Gladbach zu überzeugen, seit auch die erste Mannschaft wieder sportlich erfolgreich ist?

Virkus: Einfach ist es nie. Dafür gibt es zu viele andere gute Klubs. Aber der Sog ist größer, je erfolgreicher die Profi-Mannschaft ist. Erfolg setzt sich in dem Fall aus dem Tabellenplatz und den Eigengewächsen, die es in der nahen Vergangenheit geschafft haben, zusammen.

SPOX: Aktuell haben Sie mehrere Ihrer Talente an den FC Mönchengladbach ausgeliehen, der letzte Saison in die A-Junioren-Bundesliga West aufgestiegen ist. Wie ist diese Idee entstanden?

Van Lent: Zunächst muss man sagen, dass der Aufstieg des FC für einen Amateurverein eine irre Leistung ist. Anschließend hat man uns gefragt, ob und wie Borussia den Verein unterstützen kann und möchte. Daraus ist die Idee entstanden, einige Spieler, die in unserem Kader aktuell nicht den Sprung in die Mannschaft schaffen, dorthin zu verleihen.

SPOX: Aber der FC Mönchengladbach ist kein Farm-Team der Borussia?

Van Lent: Nein, überhaupt nicht. Vielmehr ist es eine Chance für die Spieler, die bei uns nicht ausreichend Einsatzzeiten bekommen haben und hätten. Wir haben ihnen auch komplett freigestellt, ob sie diesen Schritt gehen möchten. Es hilft den Spielern, es hilft dem FC Mönchengladbach und es hilft uns - eine Win-win-win-Situation.

SPOX: Ein Modell für die Zukunft?

Virkus: Wenn der FC den Klassenerhalt schafft, was ich ihm sehr wünsche, spricht nichts dagegen, das Projekt weiterlaufen zu lassen.

SPOX: Wie genau sieht die Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen Ihnen beiden persönlich aus?

Van Lent: Wir pflegen ein sehr enges Arbeitsverhältnis, weil Roland immer wissen möchte, was in meiner Mannschaft los ist. Das fängt schon damit an, dass die Büros von Roland und allen Nachwuchstrainern auf einem Flur liegen. Darüber hinaus haben wir wöchentlich eine Sitzung mit allen Jugendtrainern und Koordinatoren, in der über jede Mannschaft und die Gegner gesprochen wird.

SPOX: Wird in diesen Sitzungen auch über die erste Mannschaft und aktuelle Entwicklungen im Profi-Fußball gesprochen? Der Fußball ist so schnelllebig, dass es Ihnen sicher nicht immer leicht fällt, den richtigen Spielertypen zu scouten oder zu trainieren.

Virkus: Das Profigeschäft ist sehr dynamisch, man muss schnell auf Entwicklungen reagieren können. Man muss den Markt im Blick haben, Tendenzen erkennen und auch das Training entsprechend anpassen. Das eigentliche Ziel, Spiele zu gewinnen, hat sich Gott sei Dank nicht geändert.

SPOX: Das heißt aber, dass es konkrete Planstellen gibt?

Virkus: Natürlich. Die erste Mannschaft steht immer im Fokus und man überlegt, welcher Spielertyp der Mannschaft weiterhelfen kann. Daraus entstehen klare Profile, die dann auch gezielt in das Scouting einfließen.

SPOX: Sind diese Profile auch für die Entscheidungen, welche Spieler eine Klasse aufsteigen und welche den Verein möglicherweise sogar verlassen müssen, ausschlaggebend?

Van Lent: Es gibt immer Positionen, die rarer besetzt sind als andere. Im Moment sind das zum Beispiel die Außenverteidiger. Wichtig ist aber in erster Linie, dass ein Spieler die Attribute entwickelt, die ein zukünftiger Bundesligaprofi haben muss. Ich setze mich deshalb regelmäßig mit unserem U-17-Trainer Thomas Flath zusammen und schaue mir auch die Spiele an - immerhin trainieren einige der Jungs in der kommenden Saison bei mir.

SPOX: Und wie läuft es bei den Spielern, die von der U 19 in die zweite oder erste Mannschaft aufrücken?

Virkus: Auch bei diesen Entscheidungen sitzen viele Verantwortliche im Boot. Angefangen bei Arie, der seine Spieler am besten einschätzen kann, über Max Eberl, Steffen Korell und mich.

SPOX: Sicher fällt es nicht immer leicht, den Spielern, die es nicht geschafft haben, diese Entscheidung mitzuteilen. Muss man sich einen Schutzpanzer wachsen lassen, um dies nicht zu nah an sich heran zu lassen? Bundesliga Spielplaner - Der Tabellenrechner von SPOX.com

Virkus: Das kann man nicht. Es berührt einen immer wieder, weil man Träume zerstört. Aber es ist die Realität und die Jungs haben den Anspruch, dass man ehrlich mit ihnen umgeht. Diese Situationen sind nie leicht und werden auch nie zur Routine.

SPOX: Ein Spieler, der Ihnen gesagt hat, dass er den Verein verlassen möchte, ist Sinan Kurt. Was überwiegt in einer solchen Situation: Der Stolz, so ein Talent entwickelt zu haben, oder der Ärger, es nicht halten zu können?

Virkus: Wenn große Vereine wie der FC Bayern unsere Talente angreifen, dann ist das in erster Linie eine Wertschätzung und macht einen stolz. Es spiegelt unsere Ausbildung wider und zeigt, dass der interessierte Verein selber nicht über ein solches Talent verfügt. Man ärgert sich aber auch, dass ein Spieler, den man selber entwickelt hat, den letzten Schritt woanders gehen will.

SPOX: Halten Sie Kurts Entscheidung, losgelöst von Ihren Rollen bei Borussia, für richtig?

Virkus: Im Einzelfall muss das immer jeder Spieler selbst entscheiden. Ich denke, Sinan standen in Gladbach alle Türen offen, seine Entwicklung fortzusetzen und Bundesliga zu spielen. Das wird in München, die 15 Weltklasse-Spieler in ihren Reihen haben, sicherlich schwieriger. Jedes Talent muss einen Plan und ein Ziel haben und das kann nicht sein, irgendwann in München zu sein, sondern irgendwann Bundesliga zu spielen. Und dafür denke ich, wäre Gladbach die bessere Wahl gewesen.

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