Roberto Di Matteo sollte bei Schalke 04 den Umbruch einläuten. Doch die Datenanalyse mit Hilfe von Opta zeigt: Die Transformation unter Jens Kellers Nachfolger gerät ins Stocken. Denn trotz diverser Fortschritte bleibt vor allem eins bestehen: Die Schalker Urkrankheit.
Seinen wichtigsten Auftrag hatte sich Roberto Di Matteo mit Amtsantritt im Oktober selbst gegeben. "An der defensiven Struktur müssen wir arbeiten", kündigte er an. Er sah in Schalke 04 eine "gute Mannschaft, die nach vorne viel Potenzial besitzt, aber in der Defensive einige Probleme hat." Er wollte diese Probleme abstellen, die Abwehr stabilisieren.
Di Matteo war bekannt, ja beinahe schon berüchtigt für seine zurückgezogene Spielweise, die auf geduldiges Verteidigen und ein strukturiertes Angriffsspiel ausgelegt ist. Den FC Chelsea führte er auf diese Weise - kombiniert mit einer gnadenlosen Effektivität - seiner Zeit zum Champions-League-Titel.
Fünf Monate später steckt Schalke in der ersten kleinen Krise unter Di Matteo. Nur einen Punkt holte Königsblau aus den letzten vier Spielen, der blutleere Auftritt im Revierderby warf Fragen auf. Wie weit ist der erhoffte fußballerische Wandel überhaupt schon fortgeschritten? Spiegelt sich der Umbruch in Zahlen wieder? Und hat sich unter dem neuen Trainer überhaupt viel zum Positiven verändert? SPOX bemüht mit Unterstützung von OPTA die Datenanalyse.
Dichtes Zentrum, weniger Gegentore
Der Italiener hat S04 ein neues Spielsystem verpasst, das auf den ersten Blick tatsächlich stabiler wirkt. Königsblau agiert in einem Hybrid aus 3-5-2 und 5-3-2. Bei eigenem Ballbesitz schieben die Außenverteidiger nach vorne und hinterlassen eine Dreierkette.
Im Spiel gegen den Ball wiederum bildet Schalke mit drei Innenverteidigern und zwei absichernden Sechsern ein eng besetztes Zentrum und treibt den Gegner auf die Flügel, wo die Außenverteidiger Druck auf den Ballführenden ausüben.
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Gegen spielerisch hochklassige Teams wie Chelsea, Dortmund oder Madrid offenbart das System noch immer enorme Lücken, doch fußballerisch unterlegene Gegner tun sich gegen Königsblau dadurch oft schwer.
Ein ebenso einfacher wie oberflächlicher Indikator für die Qualität der Schalker Defensivarbeit ist die durchschnittliche Anzahl an Gegentoren. Hier kann Di Matteo tatsächlich kleine Fortschritte aufweisen. Kassierte Schalke unter Jens Keller diese Saison noch wettbewerbsübergreifend 1,6 Tore pro Spiel, waren es unter dem neuen Coach nur noch 1,4.
Die durchschnittliche Position der Schalker beim 4:1 gegen Mainz
optaGegnerische Effektivität leidet
Doch Schalkes Gegner erzielten gegen Di Matteo nicht nur durchschnittlich weniger Treffer, auch der dazu notwendige Aufwand ist gegen das "neue" Schalke größer. Reichten unter Kellers gesamter Amtszeit noch durchschnittlich 8,3 Schüsse des Gegners für ein Tor, benötigt man seit Di Matteos Antritt nun beinahe elf Schüsse pro Treffer.
Man kann es auf die mangelnde Effektivität gegnerischer Stürmer oder andere Faktoren schieben. Doch Di Matteos systemtaktische Ausrichtung ist zumindest einer der Gründe dafür. Denn dank der hinzugewonnenen Kompaktheit im Defensivzentrum bleiben dem Gegner oft nur qualitativ schlechtere Torchancen - zum Beispiel Abschlüsse aus der Distanz.
Darüber hinaus führt das konsequente Absichern bei eigenen Angriffen durch das Verteidigungs-Trio sowie mindestens einen der Sechser dazu, dass Schalke nicht mehr so oft in verheerende Unterzahl-Situationen gerät, wenn der Gegner nach Ballgewinn schnell umschaltet.
Passivität und Geduld
Ein weiteres klassisches Kennzeichen von Di Matteos Spielphilosophie hat sich bei Königsblau bereits vom ersten Tag an etabliert: Passivität. Reaktion statt Aktion. Di Matteo lässt sein Team aus einer kollektiven Zurückgezogenheit heraus agieren.
Dominanz durch Ballbesitz ist für den Italiener ein Fremdwort. Stattdessen zwingt er dem Gegner sein im Idealfall zermürbend-diszipliniertes Spiel gegen den Ball auf. Seit seiner Übernahme hat es Di Matteo damit geschafft, Schalkes durchschnittlichen Ballbesitzanteil pro Bundesligaspiel in dieser Saison von fast 54 auf 47 Prozent zu senken.
Geduld ist dabei das Zauberwort. Statt mit überfallartigem Gegenpressing will Schalke seinen Gegenüber durch hartnäckiges Anlaufen des Ballführenden und ausbalanciertes Zustellen der Passwege zu Fehlern zwingen. In unmittelbare Zweikämpfe stürzt sich die königsblaue Elf dadurch deutlich seltener. Unter Keller führte S04 saisonübergreifend 141 Zweikämpfe pro Spiel, während der durchschnittliche Wert unter Di Matteos Regie auf 128 gesunken ist.
Minimalistisches Angriffsspiel
Ein weiteres Stilmittel, das Di Matteo bei Chelsea bisweilen zur Perfektion getrieben hat, war eine minimalistische Effektivität im Angriffsspiel. Gerade gegen ebenbürtige Gegner investierten die Blues selten mehr als nötig im Angriffsspiel, um dann schon den kleinsten Fehler eiskalt zu bestrafen. Eine Tatsache, die unter anderem der FC Bayern im Finale dahoam auf bitterste Art und Weise erfahren musste.
Auch bei Königsblau lassen sich dahingehend Fortschritte erkennen - wenn auch nur in Ansätzen. In der laufenden Saison trifft Di Matteos Schalke beinahe genauso oft (1,3 Tore pro Spiel) wie in den ersten zehn Pflichtspielen unter Keller (1,4). Allerdings benötigt Schalke unter dem Italiener pro Spiel nur noch durchschnittliche 11,7 Schüsse dafür, während der Wert unter Keller noch bei 13,2 lag. Unter dem neuen Coach darf Schalke immerhin schon jeden neunten Torabschluss bejubeln.
Beeindruckend ist in diesem Zusammenhang vor allem die gesteigerte Siegesquote während der laufenden Saison. Keller gewann 2014/2015 lediglich zwei seiner zehn Pflichtspiele. Di Matteo hingegen triumphiert seit seiner Übernahme in 48 Prozent aller Partien. Ein Hauch von Effektivität hat der Italiener Schalke also offensichtlich schon einflößt.
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Feuer frei für Schalkes Gegner
Allerdings gibt es auch nach mittlerweile 21 absolvierten Partien unter dem neuen Coach noch Elemente im Schalker Spiel, die so gar nicht zu Di Matteo passen. Baustellen, an denen er mit seinem Team wohl noch länger arbeiten muss, um seine Vorstellung eines FC Schalke im Zeichen Di Matteos abzurunden.
So macht es Königsblau, wie zuvor beschrieben, seinen Gegnern zwar im Abschluss nicht mehr ganz so leicht, doch die Menge an zugelassenen Schüssen ist für die Ansprüche eines Champions-League-Kandidaten noch immer viel zu hoch. Mit insgesamt 361 gegnerischen Abschlüssen in den 23 Bundesligaspielen weist Schalke die meisten aller Bundesligisten auf. Keine andere Mannschaft ließ diese Saison durchschnittlich 15,2 Schüsse des Gegners pro Partie zu.
Seit Di Matteos Übernahme fiel S04 in dieser Statistik von einem ohnehin schon bedenklichen 16. Platz ans Tabellenende. Zum Vergleich: In Kellers gesamter Amtszeit kam das gegnerische Team lediglich auf durchschnittlich 12,5 Abschlüsse pro Spiel.
Die negative Krönung setzte es am vergangenen Spieltag: Sage und schreibe 30 Torschüsse ließ Königsblau gegen den BVB zu.
Mit einem gut gestaffelten Pressing und situativen Pressingfallen wurde Schalke früh zu Ballverlusten gezwungen. Dortmunds Offensive legte die Lücken des zwar eng besetzten aber mit schnellem Kombinationsspiel rasch überbrückbarem Schalker Defensivzentrums schonungslos offen.
Dortmunds 30 Torschüsse im Derby gegen Schalke 04
Standards weit unter den Möglichkeiten
Neben den zahlreichen gegnerischen Chancen ist auch eine weitere Schwäche des Schalker Spiels gravierend und gewiss nicht im Sinne Di Matteos: die mangelnde Torgefahr bei Standardsituationen. Waren die starken Standards noch eine Geheimwaffe des effektiven Chelsea unter Di Matteo (Finale dahoam...), ist Königsblau davon derzeit weit entfernt.
Dabei sind gefährliche Freistöße und Ecken oft ein hilfreiches Stilmittel taktisch sehr disziplinierter Mannschaften, deren Fokus auf geduldiger Defensivarbeit liegt. Einer der Vorreiter im europäischen Fußball ist Atletico Madrid. Dort lässt Diego Simeone indirekte Freistöße und Ecken bis zur Perfektion trainieren. Simeone ist der Überzeugung, dass sie zu den wenigen Elementen im Fußball gehören, bei denen man völlig unabhängig vom Gegner seine Vorteile ausspielen kann.
In Di Matteos Team wimmelt es von großgewachsenen, kopfballstarken Spielern. Matip, Choupo-Moting, Santana, Kirchhoff, Höwedes, Nastasic, Ayhan - sie alle messen zwischen 1,85 und 1,95 Metern.
Und mit Christian Fuchs verfügt Schalke über einen der gefährlichsten Flankengeber der Liga. Dennoch verwertet Königsblau laut Opta "nur" 37,5 Prozent seiner Standards. Im Vergleich zum Rest der Liga ein lediglich mittelmäßiger Wert. Zum Vergleich: Spitzenreiter Freiburg kommt auf 54,2 Prozent.
Das Pendel schwingt gewaltig aus
Doch am schwersten von allen Baustellen wiegt, dass trotz des Umbruchs unter Di Matteo das größte Problem, welches sich schon unter Keller wie ein roter Faden durch die jüngere Schalker Geschichte zog, weiterhin Bestand hat: Inkonstanz.
In der Keller-Ära zeigten die Knappen regelmäßig zwei Gesichter. Einerseits spielte Keller vergangene Saison die beste Rückrunde der Vereinsgeschichte, andererseits war Schalke gegen große Gegner oft bedenklich machtlos.
Keller wurde zur Personifikation der sportlichen Achterbahnfahrt. "Es fehlt die notwendige Konstanz, um unsere gesteckten sportlichen Ziele zu erreichen. Daher haben wir uns dazu entschieden, einen Schnitt zu vollziehen", begründete Sportdirektor Horst Heldt die Demission des Cheftrainers Anfang Oktober.
Doch auch unter Di Matteo geht das ständige Auf und Ab nahtlos weiter. S-S-N-S-N-N-S-N-S-S-S-N-S-U-S-U-S-N-N-U-N - so lautet seine Bilanz. Dabei spiegelt sich die Inkonstanz nicht nur in Ergebnissen wieder, sondern auch im Schalker Spiel. Es reicht von spielerischen Glanzpunkten wie beim 3:2 gegen Wolfsburg über bemerkenswerte Unterlegenheit (0:3 in Dortmund) bis hin zu kolossalen Demütigungen (0:5 gegen Chelsea).
Das Schalker Pendel schwingt auch unter Di Matteo noch viel zu gewaltig aus, um dauerhaft im Konzert der Großen - sprich: Champions League - mithalten zu können. Doch nicht weniger als das entspricht der eigentlichen Ambition der Vereinsbosse.
Denn trotz einiger spürbarer Fortschritte unter dem neuen Trainer ist klar: Erst wenn Di Matteo die traditionelle Inkonstanz eindämmen kann, hat Schalke eine wirkliche Wandlung zum Positiven vollzogen.
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