Wenn der Strafraum brennt

Ben Barthmann
25. Februar 201523:13
Diego Godin ist der vielleicht gefährlichste Innenverteidiger nach Eckbällengetty
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In dieser Saison hat Atletico Madrid seine Standardstärke noch weiter ausgebaut. Gemeinsam mit Opta wirft SPOX einen Blick auf die große Waffe der Rojiblancos.

Diego Godin ist ein Mann für die großen Momente. Einer, der ein Team mitreißen kann und in den entscheidenden Szenen zur Stelle ist. Einer, der die wichtigen Tore erzielt. So etwa am 17. Mai vergangenen Jahres: Ecke Juanfran, Kopfball Godin. Atletico Madrid ist spanischer Meister.

Eine Woche später steigt der Innenverteidiger wieder am höchsten. Führung Atletico - im Finale der Champions League.

Fast hätten die Rojiblancos das große Double vervollständigt. Was in der Meisterschaft im entscheidenden Spiel gegen den FC Barcelona geklappt hatte, hätte beinahe auch gegen Real Madrid funktioniert.

Dass ausgerechnet Godin der Mann war, der in beiden Spielen den einzigen Treffer nach einem Standard markierte, wurde Atleticos Leistung jedoch nicht gerecht. Unter Diego Simeone waren die Madrilenen kein Underdog und kein Geheimfavorit, der ins Finale der Königsklasse gerumpelt war.

Atletico hat sich innerhalb eines Jahres von einem guten, aber doch weit von Barcelona und Real Madrid entfernten, zu einem Spitzenteam entwickelt. Daran hat sich trotz zahlreicher Abgänge nichts geändert. Unverändert zählt die Mannschaft zu den besten Europas.

Abgänge effektiv kompensiert

Dabei standen die Vorzeichen vor Beginn der Saison eher schlecht. Die Abgänge von Diego Costa, Filipe Luis, Thibaut Courtois und David Villa bedeuteten viel Arbeit für die Verantwortlichen und die Spieler. Nach einer kurzen Findungsphase sind die Rojiblancos allerdings eindrucksvoll zurück und inzwischen vielleicht sogar ein Stückchen besser als noch in der letzten Saison.

Simeone hat viel verändert und angepasst - auch wenn die Grundrichtung die gleiche geblieben ist. Eine starke Defensive, hohe Intensität und physische Präsenz.

Das größte Problem liegt in der Offensive. Atletico trifft inzwischen wiederholt auf Gegner, die ihre Offensivbemühungen auf ein Minimum herunterfahren und den Ball lieber dem Gegner überlassen. Als spanischer Meister hat der Klub inzwischen den gleichen Ruf wie Barcelona oder Real in der heimischen Liga, ohne allerdings über die gleichen Mittel zu verfügen.

Dessen war sich das Trainerteam offensichtlich sehr schnell bewusst und konzentrierte sich in der Vorbereitung auf zwei Punkte: Einen sicheren Spielaufbau mit Chancenerarbeitung aus einer kontrollierten Ballzirkulation heraus, sowie auf ein Ausbauen der Stärke bei ruhenden Bällen.

Schon im letzten Jahr waren die Colchoneros das Team schlechthin in Sachen Standards, in der neuen Saison haben sie nochmal einen Schritt nach vorne gemacht.

"Eine unserer größten Stärken"

Schier unglaubliche 43 Prozent der erzielten Tore in dieser Saison dürfen statistisch gesehen als Treffer nach einem ruhenden Ball aufgeführt werden. Das ist weit entfernt von den Werten anderer Top-Teams im Achtelfinale der Champions League. Meilenweit.

Ein Vergleich mit den Konkurrenten aus anderen Ligen macht den Unterschied erst deutlich. Atletico erzielte 20 seiner 47 Tore nach Standards, andere Teams wie Real (10/74), Barcelona (9/67) oder der FC Bayern (10/59) können von ähnlichen Werten nur träumen.

AtleticoRealBarcelonaBayernDortmundChelseaManCityParisJuventus
Gesamt21/4810/749/6710/596/2812/564/568/467/51
Ecken1284248222
Freistöße dir.012301111
Freistöße indir.803223141
Einwürfe110200000

Dabei sind die Gegner selbstverständlich gewarnt. Viele Mannschaften aus der Primera Division versuchen Ecken und Freistöße in Strafraumnähe zu vermeiden. Das gibt einerseits der gegnerischen Offensive mehr Freiheit, soll andererseits aber vor Gegentoren nach Standards bewahren. Angesichts der Effizienzs Atleticos allerdings ein oft schweres Unterfangen.

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Die Rojiblancos haben in der Ausführungs von Eckbällen ein Level erreicht, das nahe an die Perfektion herankommt. Sehr zur Freude von Trainer Simeone, der nicht müde wird zu betonen, wie wichtig die ruhenden Bälle für das Spiel seiner Mannschaft sind. "Eine unserer größten Stärken sind die Standards. Wir haben exzellente Schützen und exzellente Kopfballspieler", machte er nach dem Spiel gegen Getafe deutlich. SPOX

Nur Chelsea kann mithalten

Tatsächlich zahlt sich die harte Trainingsarbeit aus. Denn, wie Simeone einst selbst gegenüber der Standards eher negativ eingestellten spanischen Presse erklärte, sieht er im Fußball die Ecken seiner Mannschaft als eines der wenigen Dinge an, bei denen man völlig unabhängig vom Gegner seine Vorteile ausspielen kann.

Alle zehn Ecken erzielt Atletico ein Tor. Im Vergleich: Der FC Barcelona benötigt deren 39, der FC Bayern 78 und sogar der bei Ecken nächststärkste Klub Chelsea benötigt immerhin 20 Versuche für einen Torerfolg.

Die Gründe dafür sind breit gefächert: Atletico stellt natürlich ein physisch sehr präsentes Team mit im Schnitt etwa 1,83 Metern Körpergröße, das weisen andere Mannschaften aber ebenso auf. Die Bayern (1,81 Meter) oder eben der FC Chelsea (1,83) stehen in nichts nach.

Im internationalen Vergleich an gewonnenen Luftduellen spielt Atletico sogar nicht einmal in den Top Zehn. Barcelona, mit 1,75 Metern im Schnitt sehr klein, gewinnt mit 51 Prozent sogar leicht mehr Kopfballduelle als Atletico. Andere Mannschaften wie PSG (62 Prozent) oder erneut Chelsea (57 Prozent) sind enteilt.

AtleticoRealBarcelonaBayernDortmundChelseaManCityParisJuventus
Durchs. Größe1,831,821,751,811,831,831,811,801,84
Luftduelle gew.50%57%51%55%52%57%56%62%55%
Ecken ins.124145155156140158192105146

Somit macht es, wie so oft, die Mischung. Die hohe Präsenz im Strafraum sowohl qualitativer, als auch quantitativer Art, die guten körperlichen Voraussetzungen und sehr gute Eingespieltheit in den Bewegungsabläufen machen Atletico besonders im Torraum sehr gefährlich. Hinzu kommt mit Koke einer der besten seines Fachs, wenn es um das Servieren von hohen Bällen geht.

Seite 1: Was macht Atletico so gefährlich?

Seite 2: Die Varianten: Kurz, Kürzer und Godin

Seite 3: Mehr Varianz

Die Rojiblancos greifen in ihrem Spiel auf viele verschiedene Varianten zurück. Die Co-Trainer Roman Burgos und Juan Vizcaino haben im Training mit der Mannschaft jedoch einige Typen herausgearbeitet, die über den bisherigen Verlauf der Saison immer und immer wieder zu erkennen waren - sporadische, geringfügige Abwandlungen in Abhängigkeit vom Gegner oder eigenen personellen Besonderheiten inklusive.

Dazu kommen viele Varianten, die lediglich ein oder zweimal benutzt wurden. Diese zu kategorisieren fällt schwer. Beispielsweise spielte Koke bereits zweimal einen halbhohen Ball auf den einlaufenden Gabi, der am Elfmeterpunkt frei zum Abschluss kam. Beide Male hatte der Gegner zwar den Strafraum abgedeckt, den routinierten Mittelfeldspieler im Rückraum jedoch aus dem Sichtfeld verloren.

Somit hat Atletico nicht nur die Möglichkeit, auf einstudierte Varianten zurückzugreifen, sondern reagiert intuitiv auch auf Schwächen des Gegners. Die drei am häufigsten eingesetzten Varianten orientieren sich ebenfalls am Gegner und an dessen Einteilung im Strafraum bzw. dessen Absicherung von kurz ausgeführten Ecken.

Koke bringt die Ecke auf den kurzen Pfosten, Tiago öffnet, Miranda geht zum KopfballSPOX

Lauf an den kurzen Pfosten

Die am häufigsten eingesetzte Variante in der bisherigen Saison ist schnell gefunden: Koke tritt den Ball an den kurzen Pfosten. Das geschieht öfter von der linken als von der rechten Seite, ist allerdings auch dort keine Seltenheit. Ein weniger kopfballstarker Spieler, oft Tiago (5), blockt zuerst die Sicht des Torwarts, um dann vom Pfosten schräg wegzulaufen, während meist Miranda (23) auf eben jenen Pfosten zusteuert.

Drei kopfballstarke Spieler, beispielsweise Mandzukic, Godin und Saul, decken die mögliche weitere Flugbahn des Balls ab.

Somit ist nicht nur der kurze Pfosten geöffnet, sondern auch der Torwart behindert oder zumindest in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Der vorderste Spieler kann den Ball auf das Tor bringen und ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreich oder verlängert an den Elfmeterpunkt, der von gleich mehreren Spielern aus vollem Tempo angelaufen wird.

Diese Variante hat jedoch mit fortlaufender Dauer der Saison an Häufigkeit und Effektivität verloren. Viele Gegner haben sich darauf eingestellt und den kurzen Pfosten besetzt. So zum Beispiel der FC Barcelona, der über 90 Minuten nur einziges Mal nicht vor einem Spieler Atleticos am Ball war.

Der FC Barcelona verteidigt in Raum -und ManndeckungSPOX

Barca verteidigt beispielhaft

Die beispielhafte Szene aus dem Ligaspiel am 11. Januar zeigt, wie viele Mannschaften fortan den kurzen Pfosten verteidigten. Dadurch, dass Luis Enrique mit Neymar, Leo Messi und Andres Iniesta gleich drei Spieler an der Mittellinie positionierte, ließ auch Simeone seine Mannschaft weniger offensiv aufrücken.

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Die mit Gerard Pique (3), Luis Suarez (9) und Javier Mascherano (14) kopfballstärksten Spieler der Katalanen sammelten sich am kurzen Pfosten, wo sie sowohl auf ein Fortlaufen der Gegenspieler als auch auf ein Einlaufen reagieren konnten.

Derweil übernahm mit Sergio Busquets (5) ein großer Spieler Diego Godin (2) im Rückraum, während beide Außenverteidiger die weniger gefährlichen Antoine Griezmann (7) und Arda Turan (10) in Manndeckung im Auge behielten.

Die Möglichkeit der Mischung aus Raum- und Manndeckung hat Atletico viel an Gefährlichkeit genommen. Dennoch bleibt das Team auch weiterhin gefährlich, stellte Simeone doch um.

Ansaldi flankt auf den Elfmeterpunkt, nachdem die Ecke kurz ausgeführt wurdeSPOX

Kurze Variante in zwei Schritten

Erste Möglichkeit ist das Ausführen einer kurzen Ecke. Dabei startet ein Spieler aus dem Strafraum in Richtung des Eckenschützen, der aufgrund des Abstands von mindestens zehn Metern in Ruhe nach dem Anspiel aufdrehen kann. Hat er Zeit und Platz, zieht er Richtung Strafraum und kann so die Distanz schnell verkürzen. Meist übernimmt diesen Part Arda Turan, der sich im Eins-gegen-Eins sehr gut durchsetzen kann.

Rückt der Gegner jedoch mit zwei Spielern heraus, versucht Atletico den Winkel zu verbessern. Dann spielt Arda den Ball auf den entgegenkommenden Außenverteidiger, der den Ball anschließend an den Elfmeterpunkt flankt. Spekuliert wird dabei auf ein Rausrücken der gegnerischen Mannschaft, was für einen Moment die Ordnung in der Deckung zerstört.

Sobald der Ball gespielt ist, bricht Atletico wieder in den Raum vor dem Fünfer ein und versucht einem Spieler in ihrer Mitte freie Bahn zu verschaffen. Oft ist dies der in der Luft extrem starke Godin oder Innenverteidiger Jose Gimenez.

Die Spieler Atleticos blocken Godin frei, der von Koke gesucht wirdSPOX

Zielspieler Godin

Weil die Standardspezialisten Koke und Gabi Rechtsfüßer sind, muss Atletico bei einem Standard von der anderen Seite variieren. Zwar funktioniert auch auf dieser Seite der Ball an den kurzen Pfosten, jedoch ist die Gefahr größer, dass der Versuch schon zuvor im Aus landet oder einfacher geklärt werden kann.

Deshalb setzen viele Mannschaften auf einen starken Linksfuß, Simeone geht aber andere Wege. Er lässt die Bälle vom Tor weg schlagen. Das macht es schwieriger für den Torwart, den Ball zu fausten oder gar zu fangen und erleichtert auf der anderen Seite das Einköpfen. Erneut wird versucht, wie schon bei der kurzen Variante, einen Zielspieler freizublocken.

Dieser ist in den meisten Fällen Diego Godin. Der Uruguayer läuft in der Mitte einer Formation ein, die oft von Mario Mandzukic angeführt wird. So muss der Gegner einerseits zurückweichen, um Mandzukic nicht zum Kopfball kommen zu lassen, andererseits aber herausrücken, um Godin am Hochsteigen zu hindern.

Zwei Spieler hindern derweil den Torwart am Herauslaufen. Einer lässt sich, nachdem der Ball geschlagen wurde, an den Fünfer fallen, um für Überzahl zu sorgen, der andere bleibt eng am Torwart stehen, um ihm die Sicht zu verdecken.

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Mehr Varianz bei Freistößen

Auch bei Freistößen ist diese Variante nicht selten zu sehen. Sieben der 20 Standardtore in dieser Saison gelangen Atletico nach einem hereingebrachten Freistoß, das ist Bestwert unter den vergleichbaren Mannschaften. Hierbei sind die Spieler jedoch um einiges freier, viele Varianten tauchen aufgrund der unterschiedlichen Positionen auf dem Feld nur einmalig auf.

Dennoch bleiben die Prinzipien die gleichen: Das Freiblocken von Zielspielern wie Godin und Gimenez, die von Simeone als "Estorbos" (span. für Störenfried) bezeichneten Spieler, die dem Torwart die Sicht und das Herauslaufen erschweren und die Variation zwischen zum Tor hin- bzw. weggezogenen Bällen.

Dies strahlt aufgrund der fast perfekten Ausführung eine für den Gegner nicht zu fassende Gefahr aus, die sicher auch psychologisch eine wichtige Rolle spielt. Wer von den starken Standards des Gegners weiß, dem zittern die Knie, wenn Koke oder Gabi anläuft.

Als "ein Werkzeug" bezeichnet Simeone die Standards seiner Mannschaft. So wie er es sagt, klingt es nach einem Werkzeug von vielen, tatsächlich ist es aber eine nicht wegzudenkende Komponente. Wer die ruhenden Bälle so beherrscht wie das Team aus Madrid, kann gegen jeden Gegner zuschlagen. Sei es gegen einen Underdog, der sich auf das Verteidigen beschränkt oder gegen einen großen Gegner wie Lokalrivale Real.

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