Die Arbeit des Aufbauhelfers

Jochen Tittmar
27. Juli 201523:27
Die Truppe von Borussia Dortmund vor einer Trainingseinheit in Bad Ragazimago
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Sicheres Passspiel mit automatisierten Abläufen in engen Räumen war einer der Schwerpunkte, auf den Borussia Dortmunds neuer Trainer Thomas Tuchel während des Trainingslagers im schweizerischen Bad Ragaz Wert legte. Wie gab sich "Aufbauhelfer" Tuchel als Coach auf dem Platz und wie sahen seine Übungen aus? SPOX war vor Ort und bietet einen Einblick - inklusive Bewegtbildmaterial.

SPOX

Tuchel und sein Selbstverständnis als "Aufbauhelfer"

Borussia Dortmund hat zum Abschluss des Trainingslagers in der Schweiz am Samstag das erst seit wenigen Tagen im Training befindliche Juventus Turin mit 2:0 geschlagen. Als bloßes Ergebnis während der Vorbereitungsphase nicht mehr als ein Muster ohne Wert.

Die Art und Weise, wie es zustande kam, ließ BVB-Trainer Thomas Tuchel aber sagen: "Wir fahren mit einem sehr guten Gefühl nach Hause, weil wir es geschafft haben, aus einer sehr guten Woche eine Top-Woche zu machen."

Tuchel war die Bestätigung wichtig, dass seine Mannschaft die neuartigen Einflüsse auch nach vier Wochen gemeinsamer Zusammenarbeit vernünftig kanalisiert und die Entwicklungskurve nach oben zeigt.

Neues soll zur Gewohnheit werden

"In der Kompaktheit der Reihen kam das unseren Vorstellungen sehr nahe", fuhr Tuchel fort. Auch im Passspiel und Gegenpressing harmonierte sein Team schon sehr ordentlich.

Dennoch ist der Neustart beim BVB weiterhin in vollem Gange. Es stürzt aktuell viel Ungewohntes auf die Mannschaft ein, was sowohl an der Andersartigkeit des neuen Trainers, als auch schlicht an der Tatsache liegt, dass nach sieben Jahren nun eben eine andere Person als zuvor an der Seitenlinie steht.

Tuchels Schwerpunkte, das haben die Einheiten in Bad Ragaz gezeigt, liegen eindeutig auf einem effektiven Passspiel - verbunden mit der Frage, in welchen Bereichen des Spielfelds es sein Personal am besten aufziehen kann. Der Coach möchte das Passen, Prallen lassen, Drehen und Wenden in unübersichtlichen und engen Spielsituationen zur Gewohnheit werden lassen.

"Aufbauhelfer" Tuchel: "Ich bin ja Trainer"

Damit soll ein im Spieler verankerter Automatismus entstehen, dem man baldmöglichst intuitiv folgt: Nämlich immer eine Option für ein sicheres Abspiel zu besitzen und zugleich zu wissen, in welchen Räumen man sich dafür aufhalten muss.

Tuchel begann damit zunächst im Kleinen. Es ging ihm darum, den Spielern die Sinnhaftigkeit eines Passes zu erklären: Mit welchem Fuß passe ich? In welcher Schärfe? Auf welchem Fuß meines Mitspielers soll der Pass ankommen? In welche Bereiche des Spielfelds darf ich hinein spielen? In der Schweiz goss Tuchel dies nun in diverse Spielformen, die allesamt auf minutiös abgesteckten Feldern abgehalten wurden.

Wenn man Tuchel beim Arbeiten zuschaut, wird schnell deutlich: Dieser Coach packt überall mit an - weil dies schlicht seiner Definition des Trainerjobs entspricht. "Ich bin ja Trainer", sagte er vergangenen Montag mit einer Mischung aus Verwunderung und Rechtfertigung in der Stimme.

Tuchel und Michels bauen gemeinsam auf

Tuchel wurde gefragt, weshalb er schon weit vor dem Start der Einheiten am Platz aufwartet und gemeinsam mit seinem Co-Trainer Arno Michels die Spielfelder beinahe pedantisch drapiert und absteckt (siehe Video 1).

In Tuchels Selbstverständnis jedoch ein alternativloser Vorgang. Es könne schließlich vorkommen, dass eine zuvor in der Theorie festgelegte Spielfeldgröße sich auf dem Rasen plötzlich doch zu groß oder klein anfühle.

Und so kommt es, dass man Tuchel und Michels in trauter Zweisamkeit sowie mit Bändern und Stangen unter den Armen den Platz so lange abschreiten sieht, bis die idealen Räume gefunden sind, die wenig später mit einer Vielzahl an Spielern geflutet werden sollen.

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Passspiel- und Pressingübung - Tuchel als laustarker Kommandeur

Erreichten die Kicker den Sportplatz Ri-Au auf ihren Fahrrädern, gesellten sie sich kurz darauf zum Trainerteam auf das Geläuf. Jedem Profi hing dann bereits eine schwarze Weste um den Brustbereich.

Tuchel erhebt mit Hilfe eines satellitengesteuerten GPS-Tracking-Systems Laufleistung und Belastung der einzelnen Akteure, die zudem von Videoanalyst Benjamin Weber permanent gefilmt werden.

Die Schulungen am Fernsehbild gehörten zwischen den Einheiten zum Tagesprogramm. Tuchel zeigt dabei fehlerhaftes Verhalten auf, legt das Hauptaugenmerk gerade jetzt zu Beginn aber vor allem darauf, seinen Spielern positive Bestätigungen für das Geleistete zu geben.

Tuchel und Michels immer mittendrin

Tuchel begleitete auch das Aufwärmprogramm, das je nach Belastungssteuerung zwischen beinharten Sprints und lockerem Fußballtennis variierte, intensiv. Michels und er sind immer mittendrin, ein Zuschauen mit verschränkten Armen aus der Ferne gibt es nicht.

Die beiden Coaches leben die Übungen vielmehr gleichberechtigt mit, wenn auch anhand der scharfen Kommandos schnell klar wird, wem die Chefrolle gehört.

Dies lässt sich exemplarisch während einer Übung beobachten, für die Tuchel ein 15 mal 15 Meter großes Quadrat absteckt.

Vier rote, vier gelbe und drei blaue Spieler tummeln sich zu einem Sieben gegen Vier, bei dem die drei blauen Akteure die zentrale Achse bilden und als Anspielstationen für die an der Umrandung des Spielfelds postierten Kicker dienen.

"Keine Pässe durch die Mitte"

Der Ball wird nun in schneller Abfolge und bei höchstens zwei Ballkontakten pro Spieler gepasst. Gewinnen die im Feld postierten Balljäger die Kugel, muss vom Team, das den Ball verlor, sofort der Reflex zum Gegenpressing kommen.

Alle sollen aktiv sein, auch diejenigen, die an einzelnen Situationen nicht direkt beteiligt sind.

"Keine Pässe flach durch die Mitte", "nicht über den Rücken spielen", "bleib' dort drin" - mit Pfeife um den Hals gibt Tuchel permanente Hilfestellungen, spart auch nicht mit Lob.

Besonders wichtig ist ihm die nötige Konzentration, damit eine Übung ohne große Anlaufzeit sofort mit Leben gefüllt werden kann und sie auch zwischendurch nicht ins Stocken gerät (siehe Video 2).

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Verteidigungsverhalten: Dauerfeuer mit Wettbewerbscharakter

Die Mannschaft machte während des Trainings einen lernwilligen Eindruck, die neuen Einflüsse scheinen dankbar aufgenommen zu werden - selbst wenn manche Einheit die Zwei-Stunden-Grenze überschritt und hoch intensiv war.

Tuchel wählte in den Tagen in der Schweiz jedoch nicht nur die harte Gangart. Das Trainerteam muss sich während dieser Startphase nämlich auch selbst disziplinieren.

Tuchel weiß um die Gefahr, seine Belegschaft gerade jetzt zu Beginn mit zu viel Theorie und neuen Ansätzen zu überladen. Die Vorbereitung ist kurz, der Pflichtspielstart am kommenden Donnerstag in der Europa-League-Qualifikation beim Wolfsberger AC (Do., 21.05 Uhr im LIVE-TICKER) hat demnach große Auswirkung auf die Belastungssteuerung. Die Arbeit an den grundsätzlichen Abläufen und Spielprinzipien wird den BVB, so ist sich Tuchel sicher, die gesamte Hinrunde über begleiten. Bundesliga Spielplaner - Der Tabellenrechner von SPOX.com

Hummels brennen die Oberschenkel

Dies gilt insbesondere auch für das Verteidigungsverhalten seiner Spieler - sowohl individuell, als auch gruppentaktisch. Dies war im Vorjahr eine der größten Baustellen des BVB.

Auch die Testspiele unter Tuchel förderten bisweilen zu Tage, dass sich die Borussia noch auf einem sehr schmalen Grat befindet, was die Balance zwischen hochstehender Vorwärtsverteidigung und der Absicherung im Rücken angeht.

Um gegnerische Angriffe im direkten Duell abzuwehren, ließ Tuchel eine Übung ablaufen, über die Kapitän Mats Hummels anschließend sagte: "So ein langes Eins-gegen-eins, bei dem die Oberschenkel einfach nur noch die ganze Zeit brennen, habe ich zum letzten Mal in der U15 gemacht."

Tuchel ließ dabei 45 Minuten lang nicht locker. Er schickte Angriffs- und Abwehrspieler in einen abgesteckten Strafraum, die wartenden Akteure am Rande des Feldes betätigten sich als Passspieler.

Dauerfeuer mit Wettbewerbscharakter

Derjenige, der verteidigen musste, trug einen Gegenstand in den Händen, um nicht die Möglichkeit zu haben, seinen Kontrahenten am Trikot zu zupfen. Erfolgte der Abschluss des Angriffsspielers oder wurde erfolgreich verteidigt, rollte sofort der nächste Ball in die Mitte.

Tuchel stachelte beide Spieler während der intensiven Intervalle, die nie länger als 30 Sekunden dauerten, zu heißen Zweikämpfen an und korrigierte in den kurzen Verschnaufpausen. Dabei achtete er penibel auf die Körperstellung des Verteidigenden - und ließ die Übung im Zwei-gegen-zwei wiederholen (siehe Video 3).

Ein Dauerfeuer für die Spieler, die sich jedoch vor allem mit dem Wettbewerbscharakter der Übungen anfreunden konnten. So wies Tuchel, der wie schon in Mainz praktiziert nie auf die gesamte Spielfeldgröße trainieren ließ, bei einer größeren Spielform an, dass das zuvor bereits erfolgreiche Team mit einem 1:0-Vorsprung in die neue Übung gehen darf - die Tore der in Rückstand befindlichen Mannschaft würden allerdings doppelt zählen. Ein Treffer wiederum findet nur dann Anerkennung, wenn die beiden letzten Ballberührungen jeweils direkt erfolgen. Das Abseits war aufgehoben.

Immer noch in der Kennenlernphase

Auch während der Zeit in der Ostschweiz machte der Trainer im Gespräch mit den Medien immer wieder deutlich, dass trotz der sichtbaren Fortschritte die gegenseitige Kennenlernphase noch nicht abgeschlossen sei. SPOX

"Wir werden erst lernen und verstehen müssen, welche Spieler welche Fähigkeiten einbringen, in welchen Räumen sie dies am liebsten tun und mit welchen Mitspielern ihnen das am leichtesten fällt", sagte Tuchel. Personell mischte er daher bewusst durch, auch um niemandem das Gefühl zu geben, "dass wir uns schon festgelegt hätten".

Die Rochaden, das Testen und wieder Verwerfen, das Neuartige im Alltag, das zur Gewohnheit werden soll - all dies dürfte sich in den nächsten Wochen mit unterschiedlichen Akzentuierungen fortsetzen. Für mangelnde Flexibilität in der Entscheidungsfindung ist Tuchel nämlich nicht bekannt - selbst am Ende einer "Top-Woche" nicht.

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