Die Dicke singt

Am vergangenen Sonntag gab Lucien Favre seinen Rücktritt als Trainer von Gladbach bekannt
© getty

Der Rücktritt Lucien Favres beendet das erfolgreichste Kapitel der jüngeren Vereinsgeschichte von Borussia Mönchengladbach. Favres Entscheidung ist keinesfalls eine Kurzschlussreaktion, sondern seit Jahren gereift und auch persönlich motiviert. Der Verein ist nicht schuld-, aber fast chancenlos.

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Lucien Favre ist kein einfacher Trainer. Das wissen die Spieler, die unter ihm gearbeitet haben, das wissen die Vereine, das weiß er selbst. Favre ist emotional, Favre ist penibel, Favre ist bisweilen dünnhäutig und divenhaft. Einmal in Ungnade gefallene Spieler haben einen weiten Weg zurück in seine Gunst, Transferentscheidungen kippte er teilweise mehrfach. Weil er darüber hinaus bereits einige Male seinen Rücktritt anbot, wird es die Verantwortlichen der Borussia kaum überrascht haben, dass er sich nach dem schwächsten Bundesliga-Start der Vereinsgeschichte erneut zur Disposition stellte.

Gladbach lehnte sein Angebot ab. Jeder im Verein ist der vollen Überzeugung, "dass es keinen besseren Trainer für Mönchengladbach gibt als Lucien Favre", wie Max Eberl nach Bekanntwerden des Rücktrittsgesuchs bestätigte. Der Schweizer ist unumstritten einer der besten Coaches der Liga.

In Mönchengladbach entwickelte er einen fast sicheren Absteiger zu einem Champions-League-Teilnehmer, formte Nationalspieler und begeisterte ganz Deutschland mit erfrischendem Angriffs- und Kombinationsfußball. Favre brachte die graue Maus Gladbach zurück auf die europäische Karte, hinaus aus einem Strudel von Abstiegssorgen und Zweifeln, hin zu Erfolgen und Hoffnung. Die Vereinsführung weiß, was sie an Favre hat - und nahm seine komplizierte Art deshalb immer in Kauf.

Nie völlig zufrieden

Am Sonntag gelang es Eberl und Co. erstmals nicht, ihn umzustimmen. Zu gefestigt war sein Gedanke, "nicht mehr der perfekte Trainer für Borussia Mönchengladbach zu sein", wie Favre verlauten ließ. Seine Entscheidung resultiert aber ebenso aus den Situationen, die er in den vergangenen Jahren Saison für Saison erlebt hat: den Verlust von Leistungsträgern. Egal ob Dante, Marco Reus und Roman Neustädter nach der Saison 2011/2012 oder Max Kruse und Christoph Kramer in diesem Sommer - jedes Jahr verliert er einige seiner Schlüsselspieler und ist gezwungen, schwerwiegende Veränderungen vorzunehmen.

Zwar machte der 57-Jährige immer klar, die Automatismen des Profifußballs und die Rolle Mönchengladbachs darin sehr wohl einschätzen zu können, sein Unmut über die stetige Neuausrichtung wurde zuletzt aber immer deutlicher und versteckte sich längst nicht mehr zwischen den Zeilen wie in seinen ersten beiden Jahren am Niederrhein. Bei gleichzeitig steigender Erwartungshaltung wuchs der auf Favre lastende Druck - und zerrte an seiner Geduld.

Gladbach nicht schuld-, aber auch chancenlos

Schuld daran trägt natürlich der Verein, der jene Spieler nicht halten konnte und es seinem Trainer so nicht ermöglichte, mit einer qualitativ konstanten Mannschaft zu arbeiten. Gleichzeitig kann man dies Gladbach aber nicht zum Vorwurf machen, die Borussia wirtschaftet und handelt im Rahmen beziehungsweise am Limit ihrer finanziellen Möglichkeiten.

Gehälter, wie sie auf Schalke, in Dortmund, München oder Leverkusen gezahlt werden, sind am Niederrhein nicht drin. Im Kampf um die fertigen, gestandenen "Star"-Spieler ist Gladbach fast chancenlos.

Nicht nur deshalb sieht sich Favre mit dem VfL am höchstmöglichen Punkt der Entwicklung. Die wirtschaftliche Situation des Vereins und der wiederkehrende personelle Aderlass machen es nicht nur undenkbar, größere Ziele anzupeilen, sondern verhindern sogar, den aktuellen Level zu halten.

Favre, der aufgrund seiner Erfolge in Gladbach mittlerweile über eine ausgezeichnete Reputation auch außerhalb von Deutschland verfügt und mehrfach mit namhaften Klubs in Verbindung gebracht wurde, will sich diesem Kampf gegen die Windmühlen nicht mehr Jahr für Jahr aussetzen - und dabei Gefahr laufen, den Nimbus des "Super-Trainers" zu verlieren oder zumindest beflecken zu lassen, so wie es ihm einst bei Hertha BSC wiederfuhr.

Favres Entscheidung persönlich motiviert

Seine Entscheidung, nicht mehr Trainer von Borussia Mönchengladbach zu sein, ist entsprechend auch persönlich motiviert und erklärt, warum er sie zu einem für den Verein so unglücklichen Moment traf: Aufgrund der bevorstehenden englischen Woche empfangen die Fohlen den FC Augsburg schon am kommenden Mittwoch. Nur drei Tage später geht es zum ebenfalls punktlosen VfB Stuttgart. Beide Partien sind gute Gelegenheiten, den Bock umzustoßen und für eine völlig veränderte Situation zu sorgen. Nun aber geht eine ohnehin verunsicherte Mannschaft ohne ihren Fixpunkt der letzten vier Jahre in diese Spiele. Das kann auch in Lucien Favres Augen kaum ein Vorteil sein und lässt seinen Abgang wie eine Flucht wirken.

Gleichzeitig stellt Favre Eberl vor eine wahnsinnig schwere Aufgabe. Dieser muss nun einen Nachfolger finden, der im mächtigen Schatten Favres nicht untergeht. Auch wenn der gesamte Verein, das Umfeld und die Fans Favre immer mit einem Gefühl der Dankbarkeit verbinden werden, fühlt man sich in Gladbach im Stich gelassen.

Ein amerikanisches Sprichwort (It ain't over till the fat lady sings) besagt, dass die Oper nicht vorbei ist, bevor die meist dicke Sopran-Sängerin die letzte Arie durch den Saal geschmettert hat. Die Geschichte, die Lucien Favre und Borussia Mönchengladbach in den letzten viereinhalb Jahren geschrieben haben, ist durchaus mit einer Oper zu vergleichen. Sie erzählt von Erfolgen, von Verlusten, ist tragisch und rührend. Dass der letzte Akt "Diva" Favre vorbehalten ist, überrascht dabei kaum. Der Weg, hinter dem Rücken der Vereinsführung an die Öffentlichkeit zu treten, allerdings schon.

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