Tuchels komplettes Erzeugnis

Ben Barthmann
02. September 201515:10
Unter Thomas Tuchel gewann der BVB seine ersten acht Pflichtspiele der Saisongetty
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Der Saisonstart von Bundesliga-Tabellenführer Borussia Dortmund verlief beeindruckend. In Thomas Tuchels BVB stecken schon früh in der Saison zahlreichen Änderungen und Verbesserungen des neuen Trainers. SPOX wirft einen Blick auf die Taktik der Schwarzgelben.

Die Grundordnung

Die schlichte Grundordnung spielt keine allzu große Rolle im Denken von Thomas Tuchel, liefert aber einen guten ersten Anhaltspunkt, will man die Organisation des BVB in der noch jungen Saison nachvollziehen. Auf dem Papier formieren sich die Dortmunder derzeit in einem 4-2-3-1.

Das wird dem tatsächlichen Spiel allerdings nicht immer gerecht. Durch die Bewegungen auf der Doppelsechs von Julian Weigl und Ilkay Gündogan entsteht ebenso schnell ein 4-3-3, bei dem Weigl als Verbindungsspieler vor der Verteidigung bleibt, während Gündogan in den rechten Halbraum schiebt.

Dies wiederum würde allerdings unterstellen, dass Dortmund mit zwei Flügelspielern agiert, was ebenfalls nicht ganz der Wahrheit entspricht. Vielmehr zeigen sich Marco Reus, Shinji Kagawa und Henrikh Mkhitaryan in der ersten Elf bisher sehr beweglich und zählen damit vielleicht eher in ein 4-1-2-2-1 oder 4-1-4-1.

Die Breite wird im Angriff meist über die Außenverteidiger hergestellt, weshalb sich die offensiven Spieler vermehrt in der Mitte aufhalten oder sich gar komplett frei auf dem Spielfeld bewegen. Verschiedene Szenen gegen Gladbach und Odds BK zeigen Mkhitaryan mal links, mal rechts - ohne, dass Reus zwingend auf der anderen Seite wäre. SPOX

Insoweit könnte man Verbindungen herstellen zum Juego de Posicion, von dem Pep Guardiola bekanntlich großer Fan ist. Er unterteilt das Spielfeld nicht in Positionen oder Formationen, sondern in Räume. Im Idealfall ist jeder Raum besetzt, die Spieler reißen durch freie Bewegungen und ständige Dreiecke in Ballbesitz Lücken, die wiederum andere Spieler nutzen.

Ein reines Juego de Posicion setzt Dortmund allerdings nicht um. Vielmehr wurden Teile übernommen und bilden zusammen mit bekannten Abläufen ein für den aktuellen Stand der Saison beeindruckendes Komplettpaket in Ballbesitz.

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Seite 2: Das Spiel in Ballbesitz

Seite 3: Umschalten nach Ballverlust

Seite 4: Das Spiel ohne Ballbesitz

Seite 5: Umschalten nach Ballgewinn & Fazit

Das Spiel in Ballbesitz

In der abgelaufenen Spielzeit wurde der BVB vermehrt für sein Spiel mit dem Ball kritisiert. Stand der Gegner eng und verließ sich darauf, dass die Borussia die Spielgestaltung übernehmen würde, hatte das Team von Jürgen Klopp enorme Probleme, Chancen herauszuspielen und zu Toren zu kommen.

Gegenpressing ist der beste Spielmacher, hatte Klopp einmal gesagt. Es fällt aber aus, wenn der Gegner nicht mitspielen will.

Bei Tuchel ist die Mannschaft der beste Spielmacher. Seine Elf beginnt ruhig von hinten heraus. Die Innenverteidiger stehen etwas enger zusammen als noch zuvor, die Außenverteidiger dafür sehr breit und ein Stück nach vorne geschoben. Der Ball läuft von Seite zu Seite - und damit auch die Gegenspieler.

Bisher spielte der BVB ausschließlich gegen sehr tiefe Gegner. Doch selbst in Phasen, in den beispielsweise Gladbach nach vorne schob, zeigte sich die Abwehr erstaunlich ruhig und sicher im Aufbau. Besonders Mats Hummels überragt in seiner Rolle als aufbauender Innenverteidiger.

Der Nationalspieler stößt gegen einen tiefen Gegner mit Ball am Fuß in den linken Halbraum vor, während Sokratis oder Neven Subotic auf der anderen Seite eher den einfachen Weg zum Außenverteidiger wählen.

Gündogan unterstützt dies, indem er wie unter Klopp auf die rechte Seite herauskippt. Allerdings findet das nicht mehr so oft und extrem statt wie noch in der letzten Saison.

Weigl auf der Sechs bewegt sich meist zwischen seinen Gegenspielern und kann über simples Prallenlassen des Balles seinen Teil beitragen. Presst der Gegner mit zwei Stürmern die Innenverteidiger, lässt er sich gelegentlich auch zurückfallen, um Überzahl in erster Linie herzustellen.

Auf dem Weg nach vorne sucht der BVB bevorzugt die linke Seite auf. Der spielstarke Hummels löst mit seinen Pässen ein Überladen des Halbraums aus: Marcel Schmelzer erhält den Ball und wird durch das Juego de Posicion sowie die daraus resultierende Freiheit seiner Mitspieler unterstützt. Durch die Überzahl verschiebt der Gegner zahlreich oder gerät in Unterzahl.

Der BVB kann diese Situation dann ausspielen oder bei Gleichzahl eine schnelle Seitenverlagerung vortragen, um den Rechtsverteidiger im anderen Halbraum in eine gefährliche Eins-gegen-eins-Situation zu schicken. Hier weiß besonders Weigl zu überzeugen, der mit großer Ruhe die Bälle verteilt und stets die Schnittstellte zwischen links und rechts darstellt.

Dortmund besetzt in offensiven Szenen gezielt die Zwischenlinienräume, um mehrere Spieler auf sich zu ziehen. Das öffnet nach schnellen Pässen entweder Räume für Mitspieler oder bindet im Falle des brillanten Mkhitaryan mehrere Gegner, wenn der Armenier mit kurzen, aber schwer zu verteidigenden Dribblings jegliche Ordnung zerstört.

Eine Spielszene gegen Gladbach: Hummels treibt den Ball nach vorne, die Fohlen stehen tief. Dortmund besetzt die Zwischenlinienräume geschickt, der linke Halbraum ist voll, rechts hält sich Piszczek für eine Verlagerung bereitspox

In der finalen Chancenerarbeitung zeigen sich die Dortmunder beeindruckend effektiv. Mit gewissermaßen einfachen Mitteln wie Doppelpässen und Spiel an die Grundlinie spielt der BVB seine Stürmer so frei, dass sie im Grunde nur noch einzuschieben haben.

Entscheidend für die Qualität der Chancen ist, dass die Hereingaben - meist von links - flach, scharf und in den Rücken der Innenverteidiger kommen, da der Flankengeber den Ball bereits im Strafraum erhält und nicht etwa nahe der Eckfahne.

Auffallend sind zudem hohe Bälle in den Rücken der Abwehr aus dem Zentrum heraus. Weigl und Gündogan stechen hier heraus, die mit perfekt getimten Bällen besonders Schmelzer in Szene setzen. Gegen tiefstehende Gegner ein sehr geeignetes Mittel, um deren kompakten Block zu überspielen.

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Umschalten nach Ballverlust

Bei Ballverlust greift sofort das bekannte Gegenpressing der Dortmunder. Hier sollte Tuchel wohl am wenigsten Arbeit verrichtet haben müssen, war doch der BVB bereits unter Klopp extrem stark in der direkten Wiedereroberung.

Allerdings haben die Veränderungen im Ballbesitz auch für Veränderungen beim Gegenpressing gesorgt.

Wer so konsequent Dreiecke in Ballbesitz aufstellt, der hat auch im Nachsetzen stets eine Absicherung. Dazu kommt, dass Dortmund beim Überladen der linken Seite per se viele Spieler versammelt - es fällt somit deutlich einfacher, Zugriff zu erlangen.

Meist setzen ein oder zwei Spieler direkt auf den Balleroberer nach, während sich die restlichen Mitspieler an den möglichen Anspielstationen orientieren. Dies erfolgt äußerst aggressiv und mit höchstem Tempo.

Aufgrund dieser Intensität konnten sich die Gegner nur äußerst selten aus der Raumverengung lösen. Selbst einer Mannschaft wie Mönchengladbach, die das Direktspiel nach vorne exzellent beherrscht, gelingt dies nicht.

Leichte Unterschiede sind im Gegenpressing zwischen linker und rechter Seite zu bemerken. Während links auf den Spielfuß des Gegners angelaufen wird, um ungenaue und lange Schläge zu provozieren, wird rechts eher lenkend nachgesetzt.

Der Ball soll im Idealfall nach hinten rechts gespielt werden und bloß nicht in den Raum hinter dem Rechtsverteidiger, da dieser aufgrund der Asymmetrie im Angriff mit hoher Linkstendenz nicht abgesichert ist.

Piszczek verliert den Ball, Johnson will den Konter einleiten. Der Pole läuft aber nach innen an, Gündogan, Kagawa & Reus übernehmen sofort die nächsten Anspielstationen. Pass zu Sommer, Dortmund ist trotz rotem Risikoraum nicht überspielt wordenspox

Auffällig ist zudem das risikoreiche Herausrücken der Innenverteidiger im Gegenpressing.

Sind sich diese sicher, an den Ball oder Gegenspieler zu gelangen, scheuen sie sich nicht, weit über der Mittellinie in einen Zweikampf zu gehen oder ein Tackling anzusetzen, während sich der zweite Innenverteidiger sofort in den Rücken des Herauslaufenden fallen lässt.

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Das Spiel ohne Ballbesitz

Tuchel verfolgt auch im Spiel gegen den Ball eine dominante Linie: Er will das Spiel immer kontrollieren. Das macht sich auch dann bemerkbar, wenn die Borussia nicht in Ballbesitz ist.

Dortmund agiert bei sicherem Ballbesitz des Gegners in einem hohen Mittelfeld- oder sogar Angriffspressing. Dabei verschiebt der BVB mit seiner ersten Linie rund 15 Meter vor die Mittellinie und stellt den Gegner zu, sobald dieser den Ball auf den Flügel spielt.

Von dort wird der Kontrahent nach hinten gelenkt. Kommt der Ball ungenau beim Gegner an, geht die Borussia in einen aggressiveren Modus über und läuft aus dem Spielfeld heraus an.

Die Stürmer setzen dabei wie von Dortmund gewohnt ihren Deckungsschatten gut ein, um den Zielspieler im Pressing zu isolieren und ihm die nächstmöglichen Anspielstationen zu nehmen.

Gelegentlich orientiert sich der Stürmer dabei leicht an der nächsten offensichtlichen Anspielstation und versucht diese sofort unter Druck zu setzen oder gar den Ball abzufangen.

Im Mittelfeld fällt derweil auf, dass Dortmund sehr intensiv verteidigt, sich nicht nach hinten drücken lassen will und selbst bei einem Überspielen der ersten Linie sofort nach vorne schiebt.

Die Fohlen spielen nach rechts, Dortmund verschiebt und bedrängt Jantschke. Aubameyang lauert auf Schulz, der wählt aber den Pass nach vorne. Hummels attackiert und zwingt zum Rückpass. Gladbachs Angriff endet an der rechten Eckfahne mit Einwurfspox

Daraus resultieren viele abgefangene Bälle. Der Anteil solcher an den gesamten Balleroberungen hat im Vergleich zur letzten Saison laut Opta um 17 Prozent zugenommen. Weigl oder Gündogan rücken oft heraus und stellen damit aus dem 4-2-3-1 gegen den Ball ein 4-1-4-1 her.

Ziel ist es immer, den Gegner zu einem Rückpass zu verleiten, um damit Meter zu gewinnen oder gleich den Ball zu erobern.

Allerdings muss erwähnt werden, dass Tuchels Dortmunder bisher nur selten einen organisierten Spielaufbau verteidigen mussten. Hertha BSC, Ingolstadt und Odds BK entschieden sich schnell zu langen Bällen, anstatt von hinten heraus kurz zu kombinieren.

Doch selbst dann steht Dortmund verhältnismäßig hoch und verengt so das Spielfeld.

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Umschalten nach Ballgewinn

Dortmund hat es nicht mehr unbedingt nach jedem Ballgewinn eilig, direkt vor das gegnerische Tor zu kommen. Unter Tuchel entscheiden sich die Spieler nach Balleroberung häufiger zu einem ruhigen Spielaufbau, anstatt direkt den Weg nach vorne zu suchen.

Besonders die Eroberung nach Gegenpressing ist nicht immer erfolgsversprechend: Dortmund hat Überzahl in Ballnähe, der Gegner in den meisten Fällen aber auch verschoben. Somit gibt es wenig Platz, erste Wahl ist dann oft ein Rückpass mit anschließender Seitenverlagerung über die Innenverteidigung.

Dennoch bleiben die Konter besonders über die schnellen Marco Reus und Aubameyang weiter eine gute Möglichkeit. Da sich die Zonen der Balleroberung aber meist im Mittelfeld befinden, werden die beiden nicht mit Pässen gesucht, sondern erobern den Ball selbst.

Dann geht es im Dribbling nach vorne. Dortmund verzichtet hier in den meisten Fällen auf einen raumöffnenden Pass, geht stattdessen sofort Richtung Tor oder zumindest Grundlinie.

Am Strafraum ist immer wieder ein Spiel über drei Spieler zu beobachten, bei dem Spieler 2 den Ball direkt in den Lauf eines im Rücken startenden Spieler 3 legt.

Das Fazit

Thomas Tuchel hat innerhalb kurzer Zeit einen sehr kompletten BVB erzeugt. Die größten Veränderungen fanden im Spiel mit Ball statt und wissen bis jetzt eindeutig zu gefallen. Obwohl die Dortmunder gleich mehrfach gegen tiefstehende Gegner spielten, fanden sie stets Mittel und Wege, um zu hochkarätigen Chancen zu kommen.

Das Team nutzt auf der einen Seite geschickt die Fähigkeiten einzelner Spieler - die spielmachende Funktion von Hummels und die Intelligenz von Mkhitaryan in engen Räumen sei hier erwähnt -, auf der anderen wirkt es in der Chancenerarbeitung dennoch unabhängig von individuellen Spielern.

Tuchel hat dem Team eine verbesserte Organisation verpasst, ohne dabei die schon vorhandenen Stärken auszulassen.

Dortmund ist eine Mannschaft, die nun in jeder Phase des Spiels dominiert. Unter Klopp war das Team stark gegen den Ball, in der Rückeroberung und auch im Pressing. Hatte Klopps Elf allerdings den Ball, bestimmte überspitzt ausgedrückt der Gegner die Partie.

Die weitere Entwicklung unter Tuchel dürfte daher interessant bleiben. Im Gegenpressing wurde das Zentrum zuletzt des Öfteren lediglich Weigl überlassen, auch das Angriffspressing kam zu Teilen gegnerbedingt noch nicht zur vollen Entfaltung.

Tuchel trainiert nahezu nur mit Spielformen - und das spiegelt sich bereits wieder. Aufgrund der vom Training gewohnten engen Räume mit hohem Gegnerdruck und vielen Über- und Unterzahlsituationen wirken die Dortmunder gruppentaktisch ideal aufeinander abgestimmt und strahlen in Ballbesitz eine bislang ungewohnte Ruhe aus.

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