"Ich gehe jetzt halt öfter spazieren"

Jochen Tittmar
15. Oktober 201510:00
Martin Schmidt wurde am 17. Februar 2015 neuer Cheftrainer des 1. FSV Mainz 05getty
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Der letzte Eintrag in der kuriosen Vita von Martin Schmidt (siehe Infokasten auf Seite 1) lautet: Bundesliga-Coach beim 1. FSV Mainz 05. Dabei wollte der Nachfolger von Kasper Hjulmand eigentlich nie Trainer werden. Im Interview spricht Schmidt zudem über eine entscheidende Begegnung mit seinem Förderer Thomas Tuchel, die großen Anlaufschwierigkeiten in Deutschland sowie die Problematik, als Person innerhalb der Blase Bundesliga Mensch zu bleiben.

SPOX: Herr Schmidt, als Sie noch Trainer in der Schweiz beim unterklassigen FC Raron waren, wurden Sie von den Spielern "Treno" gerufen - eine Bezeichnung für einen kumpelhaften Coach. Wie kam das denn zustande?

Martin Schmidt: Ich war zwei Jahre lang Spieler in Raron, das letzte Jahr aufgrund eines Kreuzbandrisses aber fast durchgehend verletzt. Im Sommer 2001 hat mich der damalige Trainer gefragt, ob ich nicht sein Assistent werden wolle. Ich wäre ja eh immer da, ob ich verletzt bin oder nicht. Ich habe zugesagt und bin zwei Jahre später Cheftrainer geworden. Ich war also sehr eng in diesem Team drin und der Übergang vom Spieler zum Trainer war nahtlos. Daher "Treno", das Wort Coach gibt es in der Schweiz auch gar nicht. Die Spieler und der Präsident von damals schreiben mich heute immer noch so an.

SPOX: Gibt's das Treno auch in Mainz?

Schmidt: Nein.

SPOX: Wieso nicht?

Schmidt: Ich kam unter Thomas Tuchel als Ausbilder zur U23, wir haben damals den Altersschnitt des Teams dramatisch gesenkt. Dadurch wurde ich von den jungen Spielern schneller als Respektsperson gesehen. Jetzt bin ich zum Cheftrainer hochgepurzelt und trainiere auch einige Jungs, die ich schon damals unter meinen Fittichen hatte. Für die bin ich der Coach. Diese Rolle behagt mir auch: ich will nicht die absolute Autorität sein, sondern ein Chef, der nah an den Spielern dran und sozusagen einer von ihnen ist.

SPOX-Redakteur Jochen Tittmar traf Martin Schmidt am Mainzer Bruchwegspox

SPOX: In Raron waren Sie fünf Jahre lang der "Treno" und stiegen von der viert- in die dritthöchste Spielklasse der Schweiz auf. Musste man Sie dazu überreden, Trainer zu werden?

Schmidt: Das nicht. Ich war verletzt, wollte meine Zeit aber trotzdem am Fußballplatz verbringen. Der Einstieg als Assistent war daher ideal. Ich wollte aber nie Trainer sein - überhaupt nicht. Als ich noch Spieler war, kam der Verein auf uns zu und meinte, wir sollen doch ein paar Lizenzen machen, um unsere Jugendteams trainieren zu können. Ich sagte immer, dass ich diese Kurse nicht brauche. Ich wollte das einfach nicht. Als ich mit 35 Jahren Assistent wurde, hatte ich natürlich auch noch keinen Trainerschein.

SPOX: Als Sie später Cheftrainer wurden, hatten Sie die nötigen Scheine aber in der Tasche?

Schmidt: Nein, meinen ersten Schein habe ich erst ein Jahr später gemacht. Das war immer mein Problem: Ich hinkte ständig den Lizenzen hinterher. (lacht) Als Trainer hatte ich auf all meinen drei Stationen immer einen Status, für den ich Schein X gebraucht hätte - und musste den dann erst nachholen. Beim Schweizer Fußballverband zählte es aber schon, wenn man sich nur für den Kurs einschrieb. Dann konnte man nebenbei das Training leiten.

SPOX: Wenn Sie es sich als Spieler nicht vorstellen konnten, wieso sind Sie dann doch Trainer geworden?

Schmidt: Das hat sich auch aufgrund der Schweizer Regeln so entwickelt: Wenn man einen Schein in der Tasche hat, muss man erst einmal zwei Jahre lang trainieren und darf dann den nächsten angehen. Es hört sich banal an, aber ich habe im Laufe der Zeit Feuer gefangen. Ich habe gemerkt, dass man vieles gemeinsam in einem Team erledigt und als Handwerkszeug auch alltägliche Dinge benötigt wie Sozialkompetenzen oder Psychologie. Dazu kann man bei den Einheiten auf dem Platz kreativ und erfinderisch sein.

SPOX: Zumal der Weg ja auch gestimmt hat, Sie waren mit all Ihren Mannschaften sportlich erfolgreich.

Schmidt: Das hat natürlich auch eine Rolle gespielt, klar. Ich bin in den sechs Jahren zwischen 2008 und 2014 mit drei verschiedenen Teams jeweils aufgestiegen. Man hat sich dadurch für den hohen Aufwand belohnt und Vertrauen in seine eigenen Stärken gewonnen. Es hat mir auch geholfen, mit dem 1900-Einwohner-Dorf Raron aufzusteigen. Dadurch ist man beim FC Thun, der damals mit der ersten Mannschaft in der Champions League spielte, auf mich aufmerksam geworden.

SPOX: Dort waren Sie zwei Jahre lang Trainer der U21. Bevor 2010 der Wechsel nach Mainz folgte, besiegten Sie im Jahr zuvor bei einem Jugendturnier in Ergenzingen im Finale die von Thomas Tuchel betreute A-Jugend des FSV mit 6:4 im Elfmeterschießen. Welche Erinnerungen haben Sie daran noch?

Schmidt: Sehr lebhafte. Thomas Tuchel hatte mich während des Turniers beobachtet. Wir schlugen mehrere Top-Teams, kamen ohne Gegentor ins Endspiel und spielten im damals noch unüblichen 3-5-2-System. Der Kontrast zu den Mainzern war einfach groß: die kamen mit dem Bus der Profimannschaft und hatten eine riesige Entourage mit dabei. Wir dagegen sind mit dem Zug nach Deutschland gefahren und haben dort einen Sechs-Sitzer-Bus angemietet, um die Materialien transportieren zu können. Wir sind dann jeden Tag mit diesem kleinen Bus rumgedüst, die Mainzer kamen mit dem Luxusliner. (lacht) Als mein Assistent und Physio nach zwei Tagen abreisen musste, war ich als Trainer, Pfleger und Betreuer alleine für alles verantwortlich.

SPOX: Und Tuchel sprach Sie dann irgendwann darauf an?

Schmidt: Das Finale fand vor 6000 Zuschauern statt und kurz vor Anpfiff gab es ein Interview mit uns beiden Trainern. Thomas flachste dann herum und meinte, wir hätten doch bestimmt unseren Kleinbus vor dem Tor geparkt, sonst wären wir niemals ohne Gegentor ins Endspiel eingezogen. So hat sich das aufgeschaukelt und mit einer lustigen Episode im Spiel fortgesetzt.

SPOX: Welcher?

Schmidt: Ich hatte zwei Torhüter mit dabei, die Nummer zwei war aber nur 1,77 Meter groß. Ich habe mit dem Team im Spaß verabredet, dass ich ihn zur zweiten Halbzeit einwechsele, sollten wir ins Finale kommen. Plötzlich waren wir im Finale, führten zur Pause 2:0 - und ich musste ihn bringen. Thomas hat mir im Nachhinein erzählt, dass er seinen Augen nicht traute und sein Team anwies, aus der Distanz zu schießen. So kamen die Mainzer zum 2:2, wir retteten uns ins Elfmeterschießen. Und dort hat der kleine Kerl dann drei Elfmeter gehalten und uns den Turniersieg beschert. (lacht) SPOX

SPOX: Das können aber nicht die Gründe gewesen sein, weswegen Tuchel Sie wenige Monate später als Bundesligacoach des FSV nach Mainz lotste.

Schmidt: Er hatte mich eben im Kopf, wir haben aber keine Kontaktdaten ausgetauscht. Thomas wurde ein paar Wochen nach dem Turnier plötzlich Trainer der Profis und hatte erst einmal genug zu tun. Während der Winterpause kamen sie beim FSV dann auf die Idee, die U23 wie gesagt anders aufstellen zu wollen und erinnerten sich an mich. Den ersten Kontakt gab es dann im März.

SPOX: Was wäre gewesen, wenn die U21 des FC Thun nicht für das Turnier in Ergenzingen gemeldet hätte?

Schmidt: Das Leben besteht aus Zufällen. Auch in Raron bin ich mehr oder weniger zufällig Assistent geworden. Als ich in Thun mit der U21 aufstieg, war ich bereits in der sportlichen Leitung integriert und diskutierte beispielsweise in Trainerfragen mit. Es gab also auch dort durchaus die Chance, eines Tages Chefcoach der ersten Mannschaft zu werden. In Thun wuchs mein Wunsch, einmal Profitrainer zu werden. Ob das ohne das Turnier in Ergenzingen geklappt hätte, kann ich Ihnen aber nicht vollständig beantworten.

SPOX: Auf einmal lebten Sie in Deutschland - nachdem Sie über 40 Jahre lang in Ihrer Schweizer Heimat zugegen waren. Wie groß war der Unterschied?

Schmidt: Deutschland war eine Art Kulturschock. Das ist nicht negativ gemeint, aber ich war eben die Berge, einen richtigen Winter und ambitioniertes Skifahren gewohnt. All dies fiel komplett weg. Und in erster Linie natürlich auch meine relativ große Familie. Ich bin in der Schweiz jeden Tag am Mittagstisch bei meinem Vater gesessen. Es war eine große Umstellung.

Seite 1: Schmidt über seine Unlust auf den Trainerjob und das Turnier gegen Tuchel

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SPOX: Wie groß war anfangs die Sehnsucht nach der Heimat?

Schmidt: Ich bin ehrlich: Als ich hier meinen Dreijahresvertrag unterschrieb, habe ich die ersten 16, 17 Monate am Kalender zu Hause einzeln durchgestrichen. Ich hatte vor allem an freien Tagen extremes Heimweh und war froh, wenn die Monate weniger geworden sind. Nach einem Jahr dachte ich: ich werde den Vertrag auf jeden Fall erfüllen, danach haue ich aber wieder ab nach Hause. Familie, Wintersport, die Natur, das heimische Vereinsleben - das fehlte mir alles.

SPOX: Wer oder was hat Ihnen durch diese Phase geholfen?

Schmidt: Die bloße Zeit und ein guter Rat meines Kumpels Raphael Wicky, der früher in der Bundesliga spielte. Er meinte, ich solle nicht blauäugig sein, es benötige einfach eineinhalb bis zwei Jahre, sich zu lösen. Das stimmte auch. Nach eineinhalb Jahren bin ich an einem freien Wochenende während der Länderspielpause erstmals in Mainz geblieben. Damit fing es an, dass ich allmählich merkte, in Deutschland angekommen zu sein.

SPOX: Was ist denn typisch deutsch für Sie?

Schmidt: Ich finde zum einen die Sprache sehr schwierig. Bei euch habe ich erlebt, wie schön eigentlich die deutsche Sprache ist und wie wenig wir in der Schweiz davon nutzen. Typisch deutsch ist für mich aber vor allem die Direktheit und Offenheit in Gesprächen - besonders, was Kritik angeht.

SPOX: Wie meinen Sie das?

Schmidt: In der Schweiz würde man erst lange um den heißen Brei reden, in Deutschland wird einem einfach knallhart ins Gesicht gesagt, was passt und was nicht. Und dann ist das Thema auch erledigt. In der Schweiz wird weniger gehandelt. Dort diskutiert man erst einmal drei Monate, dann gibt es eine Volksabstimmung und ein, zwei Jahre später wird dann langsam etwas umgesetzt.

SPOX: Als Ihr Mentor Thomas Tuchel in Mainz aufhörte, waren Sie einer der möglichen Nachfolgekandidaten. Hatten Sie damals auf den Job geschielt?

Schmidt: Ich spürte, dass ich eine Chance habe, weil eine gewisse Wertschätzung für meine Arbeit da war. Ich habe auch in die Richtung gearbeitet, dass ich für diesen Job einmal ein Thema werden könnte.

SPOX: Sprich: Sie waren enttäuscht, als nichts daraus wurde?

Schmidt: Nein. Ich habe das sportlich weggesteckt und als Herausforderung akzeptiert. Meine Motivation war in der Folge sehr groß. Wir qualifizierten uns mit der U23 für die Relegation um den Drittligaaufstieg, ich wollte das unbedingt packen. Damit habe ich ein Ausrufezeichen gesetzt und konnte künftig in einer professionellen Liga arbeiten.

SPOX: Tuchel-Nachfolger Kasper Hjulmand hat sich nicht lange beim FSV gehalten - und Sie wurden sozusagen im zweiten Anlauf Cheftrainer. Was wäre gewesen, wenn man Sie nach Hjulmands Aus nicht gefragt hätte?

Schmidt: Keine Ahnung. Mein Vertrag lief Ende Juni 2015 eh aus und ich war nach allen Seiten offen. Christian Heidel und ich haben uns natürlich frühzeitig zusammengesetzt, um auszuloten, wie es mit mir weitergeht. Wir haben die finale Entscheidung dann immer wieder vertagt - und auf einmal war ich dann Cheftrainer. Wäre das nicht so gekommen, hätte ich mich entweder in Deutschland umgeschaut oder vielleicht auch eine andere Aufgabe beim FSV übernommen.

SPOX: Wie war es denn dann, auf einmal vor einer "richtigen" ersten Mannschaft mit gestandenen Profis zu stehen? SPOX

Schmidt: Ich habe mir beim Einstand drei, vier Stichworte aufgeschrieben und dann einfach ad hoc eine kleine Rede rausgehauen. Ich war auch nicht nervös. Die Spieler kannten mich ja gut, da ich zuvor als Assistent von Thomas und seinem Co-Trainer Arno Michels bereits in die Spiel- und Gegneranalyse involviert war, in die Trainingslager reiste und häufig bei den Profis mit auf dem Platz stand. Man kannte mich, ich kannte die Abläufe. Das Selbstverständnis war also bereits da.

SPOX: Sie haben jetzt rund acht Monate als Bundesligatrainer auf dem Buckel. Ihr Zwischenfazit?

Schmidt: Die Intensität ist um ein Vielfaches gestiegen. Allerdings betrifft das weniger die Arbeit als Trainer, sondern eher die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Da geht es um interne wie externe Abläufe, die die Woche zu einhundert Prozent ausfüllen. Das sprengt bisweilen den Rahmen und man merkt, warum ein Job als Bundesligatrainer nach außen lange nicht so wirkt, wie es den eigentlichen Tatsachen entspricht.

SPOX: Die reine Trainerarbeit ist also gleich geblieben?

Schmidt: Gewissermaßen schon. Ich will damit sagen, dass das gesamte Profil dieses Berufs einfach sehr anspruchsvoll ist. Das wiederum betrifft in erster Linie die reine Trainerarbeit. Die Analyse des Trainings oder der Spiele ist aufgrund der großen Masse an Daten sehr umfangreich. Man muss all diese Informationen aufnehmen, sich in die unterschiedlichen Daten einlesen, die wichtigen Videoszenen anschauen. Es reicht ja nicht, wenn der Assistenztrainer zu mir sagt, dass wir drei Kilometer mehr gelaufen sind. Ich muss wissen, wer wo mehr gelaufen ist, wo sich Verbesserungen ergeben haben oder mit wem ich eine Einzelsitzung abhalten sollte. Viel Stoff, aber auch unglaublich spannend. Die Bundesliga ist ein Traumjob auf dem Schleudersitz.

SPOX: Was bereitet Ihnen noch die größten Schwierigkeiten, wenn Sie sich in der "Blase Bundesliga", wie Sie es einmal bezeichneten, aufhalten?

Schmidt: Die Begleiterscheinungen des Geschäfts. Es umgibt einen ja ein permanenter Hype. Ich bin dabei zu lernen, unwichtige Themen auch einmal an mir abprallen zu lassen, mich hin und wieder etwas abzuschotten und selbst zu schützen. Ich lebe jetzt in dieser Blase, aber ich möchte Mensch bleiben. Es ist mir sehr wichtig, in der Lage zu sein, mir auch meine Freiheiten nehmen zu können, um ein normaler Mensch zu bleiben.

SPOX: Die Berge weit weg, dazu ein zeitintensiver Job - wie schalten Sie vom Stress ab?

Schmidt: Ich hole mir die Berge, wenn ich sie brauche und tanke dort neue Kraft. Die Berge haben für mich, der über 40 Jahre seines Lebens in einem Tal in den Alpen verbrachte, einen enorm hohen Stellenwert, mit dem ich vor allen Dingen Freiheit verbinde. Dann fahre ich schnell nach Hause, wandere in die Höhen und sauge alles auf, weil ich weiß: das war es jetzt wieder für die nächsten paar Wochen. Einen echten Ersatz dafür habe ich in Mainz nicht. Ich gehe jetzt halt öfter spazieren. (lacht)

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