SPOX: Wie blicken Sie heute, vier Jahre nach Ihrem Aus beim FC Bayern, auf den Nachwuchsfußball?
Hummels: Es gibt noch genug junge, talentierte Spieler. Es wird auch ausreichend trainiert, Technik und Passspiel sind gut. Was den meisten Spielern aber fehlt, ist etwas mehr individuelle Qualität und Mut im Dribbling. Dafür braucht es aber Trainer, die das lieben und fördern wollen. Und eins darf dabei nicht vergessen werden: Wir brauchen den hochwertigen Wettkampf zum Üben und Lernen. Dann erlangen die Spieler auch eine Wettkampfhaltung und Erfahrung, die notwendig ist, um später Bundesligaspieler zu werden. Und dies alles muss individuell zum Spieler passen.
Bayerns NLZ-Leiter Dremmler im Interview: "Wo ist der Charakter geblieben?"
SPOX: Heißt?
Hummels: Ein 1,90 Meter großer Spieler muss spielen wie ein 1,90-Meter-Spieler. Es hilft nichts, ihm die Hebel und Bewegungsabläufe eines 1,70 Meter-Spielers beibringen zu wollen. Das heißt aber nicht, dass der 1,90-Meter-Spieler nicht dribbeln darf und der 1,70-Meter-Spieler kein gutes Kopfballspiel haben kann. Es geht darum, dass Technik und Spielstil zum Spieler passen müssen.
SPOX: Man soll also individuell heranwachsen können, ohne gleich durchs Raster zu fallen?
Hummels: Genau. Wir müssen einfach offener sein, denn jeder Jugendspieler bringt Vor- und Nachteile mit sich. Einem Lahm mit seinem Größennachteil muss das Recht eingeräumt werden, wie Lahm groß zu werden. Müller muss trotz technischer Unsauberkeiten wie Müller groß werden dürfen - und zwar in der Kategorie Weltklassespieler. Wir müssen geduldig mit den Schwächen sein und keine frühzeitigen Schlüsse aus den Stärken ziehen. Wir loben immer die "Straßenfußballer", aber was war typisch für den Straßenfußball?
SPOX: Sagen Sie es uns.
Hummels: Ich bin jetzt mal zynisch: Das Beste am Straßenfußball früherer Generationen war, dass kein Erwachsener dabei war, der alles vorgegeben und das freie Spiel beschnitten hat.
SPOX: Momentan ist die Nachwuchsarbeit des FC Bayern kein Ruhmesblatt, in den U-Mannschaften des DFB findet sich so gut wie kein Spieler vom Rekordmeister. Muss es nicht aber der Anspruch als Branchenführer sein, auch im Jugendbereich zur nationalen Spitze zu gehören?
Hummels: Nein, muss es nicht.
SPOX: Weshalb?
Hummels: Für die Optik ist es auf jeden Fall besser, wenn ein Verein viele Jugendnationalspieler in seinen Reihen hat. Für mich spielen Nominierungen aber überhaupt keine Rolle. Lahm und Müller waren keine U15-Nationalspieler, Manuel Neuer war in diesem Alter gerade mal Torwart bei Schalke. Die große Gefahr für eine Jugendabteilung besteht darin, dass man die Spieler, die physisch und athletisch schon sehr früh sehr weit sind, automatisch für die Talentiertesten hält. Sehr oft aber explodieren dann zeitlich etwas später andere Spieler aus der sogenannten zweiten Reihe und werden überragend. Verein und Trainer dürfen diese Spieler nicht ignorieren und vergessen, sie zu fördern. Gerade zwischen dem 13. und 17. Lebensjahr muss man den Spielern auch schwierige Phasen zugestehen, die nur allzu natürlich und menschlich sind.
SPOX: Wie meinen Sie das konkret?
Hummels: Philipp Lahm hatte diese Phase zum Beispiel zwischen 15 und 17, da er keine Masse aufbauen konnte. Wir haben ihn aber nicht nur daran gemessen, sondern an ihn geglaubt. Das hat sich dann auf ihn ausgewirkt. Er hatte kein persönliches Problem mit seinem Körper, sondern ist ruhig und gelassen geblieben. In meinen Augen ist es heutzutage fast besser, in diesem Alter nicht in die Jugendnationalelf berufen zu werden.
SPOX: Wieso das?
Hummels: Wer mittlerweile ein Guter in der U15 ist, hat mit vielen äußeren Einflüssen und Erwartungen umzugehen. Gefühlt muss man dann gleich einen Fünfjahresvertrag bei einem großen Erstligisten unterschreiben. Ich würde am liebsten gar keine Verträge machen. Martin Ödegaard ist in meinen Augen ein abschreckendes Beispiel.
SPOX: Erläutern Sie bitte.
Hummels: Hinter ihm war halb Europa her. Der Junge kann nicht mehr wie ein normaler 16-Jähriger aufwachsen. Wollte man früher einen talentierten Spieler in diesem Alter holen, zahlte man die Summe X. Heute muss man meist das Zehnfache von Summe X hinlegen, aber bei Ödegaard war es 100 Mal die Summe X. Das ist nicht mehr vernünftig. Damit gehen dann Erwartungshaltungen einher, die den Jungen daran hindern, normal zu sein. Wenn es bei ihm mal sechs Wochen nicht so gut läuft, kriegt er von allen Seiten zu hören: Der wird nix.
SPOX: Der FC Bayern baut im Norden der Stadt momentan ein neues Nachwuchszentrum, da es an der Säbener Straße immer sehr eng zuging und sich mehrere Mannschaften einen Platz teilen mussten. Wie war das damals für Sie?
Hummels: Es war nicht das, was sich ein Trainer wünscht, aber vielleicht war es gut für die Spieler. Im Winter hatten wir einen Platz für mehre Mannschaften. Wir haben dann Sechs gegen Sechs in drei Teams spielen lassen. Die Mannschaft, die gerade verloren hatte, ist gelaufen. Wir haben also quasi nur gespielt. Und das auf einem schlechten Kunstrasen, den sich vier Mannschaften zeitgleich geteilt haben. Am Ende sind die angesprochenen Lahm, Müller, Schweinsteiger oder Trochowski herausgekommen.
SPOX: Welchen Einfluss hatten die widrigen Bedingungen auf diese Spieler - oder waren sie einfach besonders talentiert?
Hummels: Es hat Typen gebildet und kam der Straße näher, nach der wir doch immer wieder rufen. Ich sehe teilweise Trainingseinheiten, da werden aufblasbare, aber unbewegliche Dummies ausgedribbelt und insgesamt vielleicht fünf Minuten gespielt. Das ist mein großer Kritikpunkt, der quasi überall gilt und den ich gerne wiederhole: Wir trainieren zu wenig hoch qualifiziertes Wettkampfspiel, stattdessen machen wir viel zu viel Mannschaftstaktik. Die Jungs kommen in den Seniorenbereich, sind technisch und taktisch hervorragend ausgebildet, wissen aber nicht, wie man Spiele in Drucksituationen bestreitet. Und der Profifußball bedeutet nun mal auch, Druck aushalten zu können.
SPOX: Ist das für Sie eine Frage der Qualität der Jugendtrainer?
Hummels: Wir müssen im Jugendbereich einfach wieder das Spiel und den Spieler in den Vordergrund stellen und nicht die Bedürfnisbefriedigung des Trainers. Nicht die Spieler müssen dem Trainer dienen, der Trainer muss dem Spieler dienen. Der Trainer hilft dem Spieler beim "Besserwerden". Zudem sollte es eine größere Individualisierung geben und nicht zu früh zu viel Taktik gelehrt werden. Damit meine ich kein Einzeltraining, sondern jeden Spieler gesondert individuell zu betrachten, damit man seine Qualitäten auf ihn zugeschnitten fördern kann.
SPOX: Verglichen mit Ihrer Zeit: Fehlt Ihnen etwas auf Spielerseite?
Hummels: Nein, für mich nicht. Der junge Spieler vor 30 oder 40 Jahren hatte weder mehr noch weniger Leidenschaft, Tatendrang oder Wille. Vielleicht geht im Laufe der Zeit etwas davon verloren.
SPOX: Zumindest beklagte Holger Badstuber Anfang des Jahres bei manchen Bayern-Talenten Bequemlichkeit und fehlende Leidenschaft.
Hummels: Damit könnte er auch Recht haben, doch über meinen Ansatz des vermehrten Einsatzes von Wettkampfspielen im Training kann Leidenschaft auch schnell anstecken - und er würde darüber hinaus sowohl den Taktiker, als auch den Willensschuler auf Seiten der Trainer befriedigen. Wenn ich im Training immer nur passen und verschieben muss, dann fehlt bei manchen vielleicht das nötige Feuer. Lasse ich in den Einheiten aber vermehrt spielen, kommen alle diese temporär verschütteten Eigenschaften schnell wieder ans Tageslicht.