Als die grausige Saison des VfL Wolfsburg 112 Tage alt war, saß da Mario Gomez. Eingerollt in seine Post-Match-Jacke, bei Sky zum Post-Match-Interview. "Wer nicht hier sein will, soll gehen", sagte der Nationalspieler nach einem 1:0 gegen Eintracht Frankfurt, dem ersten VfL-Heimsieg der Saison.
Gerne gedeutet als Abrechnung mit dem immer noch nach einem Wechsel quengelnden Julian Draxler, war Gomez' Satz mehr. Er war das Dilemma der Wölfe seit August, kurz und knapp, heruntergebrochen auf einen einzigen Satz.
So viele Punkte wie Spiele (16), dazu Platz 13 und mittendrin im Tanz am sportlichen Abgrund: Für die Ambitionen und Ressourcen in der Autostadt war die Hinserie ein Desaster, an dem Draxler als Gallionsfigur der Krise aber keine alleinige Schuld trug. Lethargie, keine Motivation, im Kopf schon in schöneren Städten bei schöneren Vereinen ein schöneres Leben lebend: Das große Problem des VfL Wolfsburg entspann sich in den Köpfen vieler Spieler. Bei zehn wechselwilligen Akteuren, rechnete Gomez vor, "spielen fünf von Anfang an". "Scheiß Millionäre", skandierten die Fans.
Nun zählt man Wolfsburg nicht zu den Vereinen, die für Zurückhaltung auf dem Transfermarkt und ausgedehnte Sparmaßnahmen bekannt sind. Warum auch, mit einem Giganten wie Volkswagen, mit dessen immervollen Geldspeichern im Rücken?
Verzerrte Wolfsburger Realitäten
Umso bemerkenswerter ist es, dass gerade in dieser hysterischsten Phase ein Umdenken eingesetzt hat in Wolfsburg. Auf die entlassenen Dieter Hecking und Klaus Allofs folgten als Coach Valerien Ismael und als Sportdirektor Olaf Rebbe; und was der ehemalige Jugendcoach und der ehemalige Bezirksoberligakicker in wenigen Wochen beim VfL angezettelt haben, ist nicht weniger als eine Revolution. Eine stille, die gesünder sein dürfte als alles Geld von VW.
Rebbe, schon seit der gemeinsamen Zeit bei Werder Bremen engster Vertrauter und rechte Hand Allofs', kippte nur Tage nach der Amtsübernahme den lange gehegten Plan des ehemaligen Führungsduos. Kein Wintertrainingslager in Florida, keine PR-Kicks in den Staaten, keine Störungen in der Vorbereitung. Stattdessen: La Manga del Mar Menor, Spanien.
Jetzt ist es nicht so, dass man an der Costa Calida vor den Trainingseinheiten Schnee von Torfplätzen schippen müsste. Dennoch ist es eine Entscheidung, die symbolisch wirkt: Ein Schritt zurück und kleiner denkend. Weg vom Zwang nach Internationalisierung und der "Wir sind da, wenn die Bayern schwächeln"-Denke, die seit der Vizemeistersaison die Wolfsburger Realitäten verzerrt.
Es ist ein Nein zu Ablenkung, Strapazen und dafür täglich zwei Stunden Busfahrt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das vor allem ein Land der endlosen Wege ist. "In La Manga", sagte Rebbe, "haben wir mehr Ruhe."
Er kam, sah und transferierte
Der 38-Jährige, erprobt im Fädenziehen hinter den Kulissen, hatte schnell ebenjene Ruhe als Priorität ausgegeben. Die verkörpert er genauso, wie den von der heftig angeschlagenen VW-Spitze angekündigten "Kurswechsel".
"Im Moment geht es bei uns nur um den Klassenerhalt, nur darauf ist die Mannschaft fokussiert", sagt Rebbe. Aber: "Parallel dazu arbeiten wir aber konsequent an der Neuausrichtung des Teams, denn der VfL muss perspektivisch wieder zu den Top sechs in Deutschland zählen."
Keine hohlen Worthülsen, wie der Neusportchef bereits gezeigt hat: Problemfall Julian Draxler wurde - ein halbes Jahr zu spät, zu dieser Einsicht ist man in Wolfsburg längst gelangt - geräuschlos für über 40 Millionen Euro nach Paris verkauft. Daniel Caligiuri ist wohl auf dem Weg nach Schalke, Gespräche mit dem unzufriedenen Bruno Henrique und Leihgabe Philipp Wollscheid laufen.
Im Gegenzug kam Riechedly Bazoer aus Amsterdam, mit Yunus Malli von Mainz 05 gelang ein kleiner Transfercoup und Paul-Georges Ntep aus Frankreich hat bereits bewiesen, dass er zwar nicht das selbstattestierte Talent eines Ousmane Dembele hat, aber durchaus Bewegung in das bislang so fürchterlich träge Wölfe-Team bringen kann. Und das alles für überschaubares Geld, 33 Millionen für das Trio und Perspektivspieler Victor Osimhen. Rebbe: "Die Dinge, die wir uns vorgenommen haben, haben wir umgesetzt."
"Alles, was wir jetzt machen, muss sitzen"
Neben Rebbe soll auch Coach Ismael für den neuen VfL stehen, der kein teurer, renommierter Trainer ist, sondern zuvor die eigene Jugend trainierte. Die Mannschaft hält zu ihm, sei es Gomez, der von Hingabe und Gänsehaut bei Ansprachen schwärmt, Guilavogui, der Ismael gar mit Diego Simeone verglich, oder Ricardo Rodriguez, der sich nach dem Einsatz von Medizinbällen in La Manga an Felix Magath erinnert fühlte.
Dennoch bleibt hinter Ismael ein kleines Fragezeichen. Seinen Job sicherten zwei Siege in den beiden letzten Spielen 2017. Diese ausgeklammert konnte auch Ismael die verheerende Bilanz der Wölfe nicht merklich aufbessern. Und was, wenn sich David Wagner von Huddersfield Town und der VfL kurz vor Weihnachten geeinigt hätten?
"Alles, was wir jetzt machen", weiß Ismael umso mehr, "muss sitzen".
Anfangen können die Wölfe am Samstag gegen Hamburg am offiziell letzten Spieltag der Hinrunde, eine Woche drauf dann gegen den FC Augsburg. Nicht zuletzt dank der Auswirkungen der stillen Revolution darf man beim Konzernklub hoffen.
"Alle sind befreiter", sagte Gomez in La Manga. "Die, die hier sind, haben wirklich Lust auf die Rückrunde und wollen es auch besser machen als in der Hinrunde." Eine Jacke braucht er dieses Mal nicht.
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