In der Saison 2017/18 wird der Videoassistent erstmals in der Bundesliga zum Einsatz kommen. Sein Pflichtspieldebüt feiert er beim Supercup 2017 zwischen Borussia Dortmund und Bayern München. Im Rahmen eines Workshops in der Münchner Allianz Arena erklärten Videobeweis-Projektleiter Hellmut Krug und FIFA-Schiedsrichter Felix Brych die bevorstehenden Neuerungen. SPOX war vor Ort und fasst alle wichtigen Informationen zusammen.
Organisatorische Einführung des Videobeweises
Das International Football Association Board (IFAB; Gremium, das für Regeländerungen im Fußball verantwortlich ist) stimmte im Jahr 2016 einer zweijährigen Testphase des Videobeweises zu. Bei Profispielen kam der Videobeweis dann erstmals im niederländischen Pokal der Saison 2016/17 zum Einsatz und in Folge dessen auch beim Confed Cup und der U20-WM im Sommer 2017.
In Deutschland wurden in der vergangenen Saison dagegen lediglich offline-Tests durchgeführt. Bundesligaspiele wurden dabei von Videoassistenten (VA) betreut, die jedoch nicht in Kontakt mit den Schiedsrichtern standen. Den Auswertungen zufolge hätten in der abgelaufenen Saison 77 von 104 spielrelevanten Fehlentscheidungen vermieden werden können, pro Spiel hätte es einen bis sechs Kommunikationsprozesse zwischen dem VA und dem Schiedsrichter gegeben. Ein solcher dauert in der Regel zwischen zehn und 40 Sekunden.
In der Saison 2017/18 kommt der Videobeweis in allen deutschen Bundesligaspielen, dem Supercup und den Relegationsspielen zum Einsatz. Außer Deutschland beteiligen sich noch 14 weitere europäische Nationen an der Testphase. "Diese Länder reichen Erfahrungen und alle Einzelsituationen ein", erklärt Krug, "und diese werden dann an einer belgischen Universität ausgewertet."
Im März 2018 entscheiden FIFA und IFAB gemeinsam mit den übrigen Stakeholdern und unter Berücksichtigung der Auswertungen, ob der Videobeweis bei der Weltmeisterschaft in Russland und letztlich auch langfristig eingeführt wird.
Arbeitsplatz und -ablauf des Videoassistenten (VA)
In der neuen Saison gibt es in der Bundesliga einen Pool von insgesamt 23 Schiedsrichtern, die als VA in Frage kommen. Dies sind alle Unparteiischen, die bereits mindestens eine Saison in der Bundesliga gepfiffen haben sowie Jochen Drees, Wolfgang Stark und Günter Perl, die ihre aktiven Karrieren zum Ende der vergangenen Saison beendeten. Die vier Schiedsrichter, die zur neuen Saison in die Bundesliga aufsteigen (Bibiana Steinhaus, Martin Petersen, Sven Jablonski und Sören Storks), werden noch nicht eingesetzt.
Jeden Donnerstag werden im Rahmen der gewohnten Schiedsrichter-Ansetzung für den anstehenden Spieltag künftig auch die jeweiligen VA bekanntgegeben.
Die VA betreuen ihre Spiele nicht aus dem Stadion, sondern einem Studio in Köln, wo insgesamt sechs Arbeitsplätze eingerichtet sind. Ein Arbeitsplatz besteht aus einem Screen mit vier getrennten Bildabschnitten. Für gewöhnlich läuft auf einem das TV-Bild, auf einem das Stadion-Bild (stets live und ohne Zeitlupen) und auf den beiden übrigen wechselnde, zeitlich leicht versetzte und für den jeweiligen Zeitpunkt relevante Kamera-Perspektiven.
Für die Auswahl dieser (insgesamt stehen knapp 25 verschiedene Perspektiven zur Verfügung) sind pro Arbeitsplatz zwei gleichberechtigte Operator zuständig, die den VA unterstützen. Die Operator werden von der Firma Hawk Eye gestellt und entstammen vornehmlich technischen Berufen (sind beispielsweise ausgebildete Bildmischer oder Videotechniker). "Wichtig ist aber, dass sie auch fußballaffin sind", sagt Krug. Sie benötigen schließlich ein Gespür für das Spiel, um die richtigen Perspektiven auswählen zu können.
Pro Spieltag gibt es darüber hinaus einen Supervisor (ein Vertreter der Schiedsrichterkommission), der die pro Spiel verantwortlichen Trios überwacht und im Notfall beratend assistiert. "Er steht hinter einem und passt auf", erklärt Brych.
Eingriffsmöglichkeiten und Kommunikation mit dem Schiedsrichter
Der VA kommt prinzipiell nur in spielentscheidenden Situationen zum Einsatz. Als solche gelten Szenen, bei denen es sich um die Regelkonformität von Toren (Foul, Handspiel, Abseits, Ball aus dem Spiel), Elfmetern (berechtigt/nicht berechtigt, innerhalb/außerhalb des Strafraums) Platzverweisen oder Spielerverwechslungen handelt. Kommt es zu einer entsprechenden Situation, wird sie vom VA automatisch überprüft.
Eingreifen darf der VA jedoch nur dann, wenn eine dieser spielentscheidenden Situationen vom Schiedsrichter klar falsch beurteilt wurde. Sollte eine Entscheidung des Schiedsrichters lediglich strittig und nicht ganz klar auflösbar sein, bleibt sein Urteil bestehen - selbst wenn es tendenziell falsch ist. "Sobald es unterschiedliche Meinungen gibt, ist es keine klare Fehlentscheidung", stellt Krug klar.
Auch wenn wegen einer klaren Fehlentscheidung eine Änderungs-Empfehlung des VA vorliegt, ist der Schiedsrichter nicht dazu verpflichtet, diese auch zu übernehmen. "Chef und Entscheidungsträger bleibt immer der Schiedsrichter", sagt Brych, "der VA ist ein Assistent genau wie der an der Linie." Wie mit dem Assistenten an der Linie findet auch die Kommunikation mit dem VA per Headset statt. "Immer wenn ich mir nicht sicher bin, könnte ich sofort Kontakt aufnehmen und Rücksprache halten", erklärt Brych.
Spezielle Situationen
Ballbesitzwechsel: Die zeitliche Grenze für die Korrektur potenzieller Fehlentscheidungen ist immer der letzte Ballbesitzwechsel zwischen den Teams. Sollte Mannschaft A also den Ball regelwidrig erobern (ohne direkte Ahndung des Schiedsrichters) und ohne zwischenzeitlichem Ballverlust eine Minute später ein Tor erzielen, könnte der VA eingreifen und dem Schiedsrichter eine Annullierung empfehlen. Wäre die regelwidrige Eroberung im gegnerischen Strafraum vonstattengegangenen, könnte gar auf Elfmeter für Mannschaft B entschieden werden.
Abseitsentscheidungen: Eine spezielle Rolle spielen Abseitsentscheidungen vor spielentscheidenden Situationen. Diese sind dank der technischen Voraussetzungen klar auflösbar, subjektive Wahrnehmungen spielen somit keine Rolle. "Wir können ein Gitternetz auf das Feld legen, das exakt kalibriert ist", erklärt Krug. Selbst wenn eine minimale Abseitsposition vorliegt, wird ein potenzieller Treffer annulliert. Da die Linien der übertragenden TV-Anstalten oftmals etwas ungenau sind, werden die exakt kalibrierten Linien, auf die der VA zurückgreifen kann, sofort an die Sender geschickt. Zur Verdeutlichung für den TV-Zuschauer sollten sie in der nächsten Spielunterbrechung eingespielt werden.
Gelbe und Gelb-Rote Karten: Anders als Rote Karten zählen Gelb-Rote nicht zum Aufgabengebiet des VA. Grund dafür ist, dass in diesem Fall jede einzelne Gelbe Karte überprüft werden müsste, was pro Spiel zu einer Flut an Szenen führen würde, in denen der VA zum Einsatz kommen könnte.
Ermessensentscheidungen: Ebenfalls nicht eingreifen darf der VA bei Ermessensentscheidungen des Schiedsrichters. Als solche gelten etwa die Fragen, ob der Ball im Vorfeld eines Tores bei einem Freistoß ruhte, bei einer Standardsituation an der richtigen Stelle lag oder ob ein Treffer mit einem falschen Einwurf eingeleitet wurde.
Schlusspfiff: Ab dem Schlusspfiff des Schiedsrichters darf der VA nicht mehr eingreifen - selbst wenn kurz zuvor eine spielentscheidende Situation auftrat, die er ansonsten melden müsste. "Sollte der VA kurz vor Schluss der Annahme sein, dass etwas passiert ist, muss er dem Schiedsrichter dies deshalb sofort mitteilen um zu verhindern, dass er das Spiel abpfeift", sagt Krug.
Referee Review Area (RRA)
Die Referee Review Area (RRA) befindet sich gegenüber den Trainerbänken und dort hinter der Werbebande. Hier hat der Schiedsrichter die Möglichkeit, sehr strittige Szene selbst in der Wiederholung zu begutachten. Der VA spielt ihm dabei auf einem Bildschirm die aus seiner Sicht günstigsten Kamera-Perspektiven der entsprechenden Situation ein.
"Die RRA kann genutzt werden, wenn der Schiedsrichter ein komisches Gefühl hat oder sich von einer unübersichtlichen Situation überfallen fühlt", erklärt Brych. Außerdem sollte der Unparteiische die RRA aufsuchen, wenn es zu (technischen) Kommunikationsproblemen über das Headset kommt.
"Wir wollen Besuche dieser Zone jedoch nicht überstrapazieren", sagt Krug. Die Anweisung des DFB sei es, in der Bundesliga deutlich restriktiver mit dem Aufsuchen der RRA umzugehen als etwa beim Confed Cup.
Diesbezüglich kommt in der Bundesliga (anders als bei internationalen Spielen) erleichternd hinzu, dass zwischen dem Schiedsrichter und dem VA keine Sprachprobleme bestehen und durch die langfristige Zusammenarbeit gleichzeitig eine gewisse Vertrauensbasis besteht. Mit Missverständnissen ist deshalb eher nicht zu rechnen. "Wenn der VA einen klaren Fehler erkannt haben will, sollte ihm der Schiedsrichter glauben", sagt Krug.
Änderungen für den Schiedsrichter
Durch die Einführung des VA werden Schiedsrichter angehalten, Szenen in unmittelbarer Tornähe erst abzupfeifen, wenn die Situation abschließend beendet ist - der Ball also entweder im Tor oder aus dem Spiel ist. Pfeift er nämlich zu früh ab, nimmt er sich die Möglichkeit, eine potenzielle Fehlentscheidung nachträglich zu korrigieren. Sein Pfiff beendet eine Spielszene weiterhin endgültig.
Selbst wenn der Assistent an der Linie wegen Abseits die Fahne hebt, solle der Schiedsrichter das Spiel zunächst laufen lassen. Ungewohnt wird das vor allem auch für die beteiligten Spieler, die sich künftig noch weniger nach dem Zeichen des Assistenten an der Linie richten sollten. "Darauf werden die Spieler noch vor der Saison explizit hingewiesen", erklärt Krug.
Schiedsrichter werden künftig gelegentlich mit der Situation konfrontiert werden, dass Spieler den Videobeweis einfordern. Dies ist unrechtmäßig und muss genau wie das Fordern einer Verwarnung für einen gegnerischen Spieler mit einer Gelben Karte geahndet werden. Ebenfalls mit Gelb bedacht werden sollen Spieler, die dem Schiedsrichter auf dem Weg zur RRA folgen.
Die Einführung des VA sorgt darüber hinaus für zwei neue Signale im Gesten-Repertoire eines Schiedsrichters. Greift sich der Unparteiische ans Ohr, bedeutet es, dass nach einer strittigen Szene eine Kommunikation zwischen dem Schiedsrichter und dem VA stattfindet. Macht der Unparteiische das beidhändige TV-Zeichen, bedeutet es entweder, dass eine Entscheidung geändert wird, oder dass der Schiedsrichter eine Szene in der Referee Review Area (RRA) begutachten will.
Der Schiedsrichter darf im Laufe des Spiels jedoch auch mit dem VA kommunizieren, ohne ein Signal zu geben. Dies betrifft kurze Absprachen nach jedem Tor und nach Szenen, die nicht im absoluten Mittelpunkt von Diskussionen stehen. In solchen ist je nach Situationen eines der beiden oben genannten Signale erforderlich.
Erklärung von Entscheidungen im Stadion
Kommt der Videobeweis zum Einsatz, werden die strittigen Szenen nicht auf den Videowänden des entsprechenden Stadions eingespielt. "Der Grund dafür ist, dass die technischen Voraussetzungen in den verschiedenen Stadien unterschiedlich sind", erklärt Krug. In manchen Spielstätten reiche die Bildqualität der Videowände nicht aus, um strittige Szenen klar aufzulösen. "Dadurch könnte Unruhe im Stadion entstehen", folgert Krug. Stattdessen werden auf den Videowänden laut Krug aber "aller Voraussicht nach Wortblöcke eingespielt, die die Zuschauer darüber in Kenntnis setzten, was passiert ist".