"So etwas habe ich noch nicht erlebt", schüttelte Trainer Markus Gisdol den Kopf. Vor Beginn des Bundesliga-Auftakts gegen den FC Augsburg hatten die Fans des HSV noch positive Stimmung verbreitet. "In Hamburg werden Träume wahr", versprach ein Transparent in der Nordkurve. Am Ende standen für die Hanseaten ein 1:0-Erfolg und drei Punkte zu Buche - in der vergangenen Spielzeit hatte der HSV nach zehn Spieltagen erst zwei Zähler auf dem Konto.
Der Erfolg hinterließ jedoch einen bitteren Nachgeschmack. Ausgerechnet Siegtorschütze Nicolai Müller zog sich bei seinem patentierten "Hubschrauber-Jubel" eine Knieverletzung zu, die sich später als Kreuzbandriss entpuppte. Dem Hoffnungsträger, gegen dessen Abschied sich der HSV im Sommer mit Händen und Füßen gewehrt hatte, drohen nun mindestens sieben Monate Pause.
So wurde die gelungene Wiedergutmachung für das Debakel beim 1:3 im Pokal gegen Osnabrück schnell zur Nebensache. Müllers Verletzung hinterlässt in der Hamburger Offensive eine riesige Lücke, die nun kurzfristig gefüllt werden muss.
Müller: Verletzungsgeplagt, wechselwillig, unverzichtbar
Bereits gegen Ende der letzten Saison fiel der ehemaligen Mainzer mit einem Innenbandriss sechs Wochen aus. Die Folge waren Niederlagen gegen Darmstadt, Augsburg und Bremen, fünf Punkte aus sieben Spielen und akute Abstiegsangst. Erst am letzten Spieltag verließ der HSV mit Rückkehrer Müller und einem Sieg gegen den VfL Wolfsburg den Relegationsplatz.
Müllers Zahlen sind zwar nicht allzu beeindruckend, in einer von Mittelmaß geprägten Offensive ist er dennoch unverzichtbar. In 82 Spielen für die Hamburger stehen für den 29-Jährigen je 16 Tore und Assists zu Buche, 14 beziehungsweise 12 Scorerpunkte machten ihn in den vergangenen beiden Jahren zum effektivsten Angreifer der Rothosen.
Die entsprechende Wertschätzung von Seiten des Vereins schien Müller im Sommer zu vermissen. Verhandlungen über eine Verlängerung seines bis 2018 laufenden Vertrages ließ er platzen, aus Wolfsburg lag wohl ein deutlich lukrativeres Angebot vor. Die lange Pause könnte dem HSV, der laut Sportchef Jens Todt "weiterhin sehr interessiert" an einer Verlängerung ist, diesbezüglich nun sogar in die Karten spielen.
Hahn & Co.: Müller-Ersatz aus den eigenen Reihen?
Obwohl Todt bekräftigte, "nicht in Panik verfallen" zu wollen, könnten die Hanseaten kurz vor Ende der Transferperiode noch einen Ersatz für Müller suchen. Mit Andre Hahn und Filip Kostic stehen auf den Außenbahnen nur zwei gestandene Bundesligaspieler zur Verfügung.
Spieler wie Bobby Wood, Aaron Hunt oder der junge Luca Waldschmidt haben ihre Stärken auf anderen Positionen. Der erst 19-jährige Bakery Jatta zeigte zwar hervorragende Leistungen in der Regionalliga, eine tragende Rolle bei den Profis kommt für den Mann aus Gambia jedoch vermutlich zu früh.
Borja Mayoral: Real-Stürmer im Visier des HSV?
Viel Zeit bleibt den Verantwortlichen allerdings nicht mehr, um einen externen Ersatz für den verletzten Topscorer zu finden. An Gerüchten mangelt es dabei nicht, bis zu 30 Berater sollen täglich bei Todt anrufen. "Wenn bei einem Klub wie dem HSV ein Bedarf entsteht, dann ist der Beratermarkt innerhalb von Minuten aktiv", so der Sportdirektor.
Zunächst galt der 23-jährige Sinan Gümüs von Galatasaray Istanbul als Kandidat. Die MOPO brachte den ehemaligen Kölner Zoran Tosic von ZSKA Moskau ins Gespräch, auch Jairo (FSV Mainz 05), Maxime Kristof Lestienne (Rubin Kazan) sowie ein Leihgeschäft mit Borja Mayoral scheinen Optionen zu sein. Der 20-Jährige steht noch bis 2021 bei Real Madrid unter Vertrag, hat bei den Königlichen jedoch auch nach dem Ende seiner Leihe nach Wolfsburg nur geringe Chancen auf regelmäßige Einsätze.
Ganz nebenbei soll Todt in der verbleibenden Woche bis zur Transfer-Deadline auch noch die Lücke auf der linken Außenverteidiger-Position schließen. Dort ist das Interesse des HSV an Wunschspieler Konstantinos Stafylidis verbrieft, noch stellt sich der FC Augsburg allerdings quer. Um die aufgerufene Ablöse von mindestens sieben Millionen Euro zu stemmen, müsste zuvor der Wechsel von Douglas Santos nach Eindhoven unter Dach und Fach gebracht werden.
Neues Theater um HSV-Investor Kühne
Bei der Frage nach weiteren Transfers kommt eine weitere Baustelle ins Spiel, die in der Hansestadt in den vergangenen Tagen und Wochen wieder einmal für gehörigen Lärm sorgte: die Rolle von Investor Kühne. Noch vor dem Bundesliga-Start nahm der 80-Jährige die Pokalblamage zum Anlass für einen erneuten Rundumschlag.
In Interviews mit dem SPIEGEL und dem TV-Sender Sky drohte der Wahl-Schweizer zunächst mit einem möglichen Ende seiner Finanzspritzen und kündigte an, künftig "wesentlich zurückhaltender zu sein als bisher". Seine Weigerung, die Verpflichtung eines neuen Linksverteidigers mitzutragen, dürfte einer der Gründe für die Hängepartie um Stafylidis sein.
Höhere Wellen schlug allerdings Kühnes Kritik an Spielern und sportlicher Leitung. Todt habe demnach weder beim Verkauf in Ungnade gefallener Spieler noch bei der angestrebten Vertragsverlängerung mit Müller ausreichend "Druck gemacht", so der Unternehmer: "Da wird zu wenig Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt."
Hamburger "Luschen" und der "Flop des Jahrhunderts"
Besonders heftig bekam den Unmut des Finanziers aber ein ehemaliger Hoffnungsträger zu spüren: Der Fünfjahresvertrag, der Pierre-Michel Lasogga noch bis 2019 ein Jahresgehalt von drei Millionen Euro einbringen wird, sei der "Flop des Jahrhunderts" und lässt den ehemaligen Berliner aus der Gruppe der (anscheinend zahlreichen, aber nicht namentlich genannten) übrigen "Luschen" in roten Hosen herausragen.
Wie neue und alte Spieler - egal ob Luschen oder nicht - zu ihren Verträgen beim HSV kommen, wurde indessen selbst zum Politikum. Während Vorstandschef Heribert Bruchhagen nicht müde wird zu betonen, dass "Herr Kühne niemals ins operative Geschäft eingreift" und der Verein "in allen Facetten autark" sei, plauderte der Milliardär ganz offen über eben dieses Geschäft.
Gisdol, Struth und Kühne: Im Team für Bobby Wood
Als der Aufsichtsrat des HSV - wohl aus Sorge um die angespannte Finanzlage des Vereins - hinsichtlich einer Verpflichtung von Hahn und der Vertragsverlängerung mit Wood zögerte, kam es zu einer ungewöhnlichen Teamleistung. Trainer Gisdol informierte seinen Berater Volker Struth über sein Interesse an Hahn und Wood.
Struth wiederum, nicht nur Vertreter der beiden Spieler, sondern auch ehemaliger persönlicher Berater und langjähriger Vertrauter Kühnes, gab dieses Interesse an den Investor weiter. Der Berater habe ihn im Auftrag Gisdols "gebeten, mich zu engagieren", so Kühne. Daraufhin habe er den HSV-Verantwortlichen "zu der Verlängerung geraten und gesagt, dass ich Andre Hahn nur finanziere, wenn ihr Wood haltet".
Auch wenn Kühne und Struth einen eventuellen Interessenkonflikt in solchen Transferangelegenheiten als "absurd" abtun, wirkt zumindest Bruchhagens Beharren auf der angeblichen Unabhängigkeit der sportlichen Leitung von den Wünschen des Logistik-Unternehmers vor diesem Hintergrund wie eine hohle Phrase.
"Viele falsche Transfers" als Hauptproblem des HSV
Doch während Bruchhagen ebenso wie Todt und Gisdol versucht, trotz allem endlich Ruhe bei den Hanseaten einkehren zu lassen, folgte auf Kühnes Störfeuer das übliche Defilee von Ex-Verantwortlichen, Ex-Spielern und Experten, die ihre Meinung zur Situation dem nächstbesten Mikrophon mitteilen durften.
KSC-Manager Oliver Kreuzer empfahl Kühne höflich, "einfach den Mund zu halten", auch der ehemalige Hamburger Trainer Bert van Marwijk wunderte sich über die Angriffe gegen die eigenen Spieler. Und Tolgay Arslan, inzwischen zweifacher türkischer Meister mit Besiktas Istanbul, erkannte neben der hohen Erwartungshaltung des Umfelds die "vielen falschen Transfers" als Hauptproblem des Bundesliga-Dinos.
Damit könnte Arslan den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Die 18 Top-Transfers des HSV (mit einer Ablöse von mindestens fünf Millionen Euro) in den vergangenen zehn Jahren - von Thiago Neves über Marcus Berg bis Douglas Santos - kosteten den Klub knapp 150 Millionen Euro. Dabei schafften es die Hamburger und ihre 15 verschiedenen Cheftrainer, den durchschnittlichen Marktwert dieser Spieler innerhalb der ersten drei Jahre in der Hansestadt zu halbieren.
Hoffnung auf einen Weg aus dem Teufelskreis
Zehn dieser Spieler wurden anschließend wieder abgegeben - und brachten dabei noch rund ein Drittel der zuvor gezahlten Ablösesummen ein. Ein Verein, der die Lizenz für die laufende Spielzeit nur unter Auflagen erhalten hatte, sollte wohl besser vermeiden, den Marktwert seiner "Luschen" durch Kritik des eigenen Mäzens noch weiter zu senken.
Nach eigenen Angaben lebt dieser Mäzen als HSV-Fan selbst nur noch "von der Hoffnung". Genau davon scheint der gesamte Klub mindestens seit Kühnes erstem Engagement vor sieben Jahren zu Leben. Die Hoffnung, dem Teufelskreis aus enttäuschten Erwartungen und internen Querelen endlich zu entkommen, besteht natürlich auch in diesem Jahr. Nicolai Müller hat den HSV mit seinem Hubschrauber jedoch schon acht Minuten nach Saisonbeginn ein Stück tiefer in diesen Kreis geflogen.