"Die großen Aufreger kommen erst noch"

Adrian Fink
15. September 201711:07
Urs Meier hat vier Wochen nach der Einführung ein erstes Fazit zum Videobeweis gezogenSPOX
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In der Bundesliga wurde zur Saison 2017/18 der Videobeweis eingeführt. Mittlerweile gab es drei Spieltage, an denen der Videoassistent zum Einsatz kam. Für SPOX blickt Urs Meier auf die ersten Wochen der technischen Hilfe zurück. Im Interview erklärt der ehemalige FIFA-Schiedsrichter, was bereits gut funktioniert, wo noch Luft nach oben ist und was er verändern würde.

SPOX: Herr Meier, zur Saison 2017/18 wurde der Videoschiedsrichter eingeführt. Wie fällt Ihr Fazit nach dem ersten Monat aus?

Urs Meier: Ehrlich gesagt habe ich mir mehr erwartet. Wir sind noch nicht da, wo wir eigentlich sein sollten. In der Bundesliga wurde sehr viel Geld investiert und anders als in anderen Ländern wurde in Deutschland im Vorfeld intensiv getestet. Die Erwartungshaltung war groß und man hatte sich erhofft, dass die Einführung ohne Nebengeräusche über die Bühne geht. Das hat sich mit den Problemen am ersten Spieltag direkt zerschlagen.

SPOX: War nicht damit zu rechnen, dass es zu Beginn hier und da hakt?

Meier: Es wurde viel Geld in die Hand genommen, die Schiedsrichter wurden eindringlich geschult, es wurden Tests gemacht - eben damit der Einstieg auf Anhieb funktioniert. Daher war ich zuversichtlich, dass die Bundesliga mit einem guten Vorbild vorangeht und es bei der Einführung keine Probleme gibt. Dafür sind die Tests ja eigentlich da. Aber wir haben das Ziel noch nicht erreicht.

Urs Meier hat vier Wochen nach der Einführung eine erste Einschätzung zum Videobeweis abgegebengetty

SPOX: Was läuft in Ihren Augen noch nicht optimal?

Meier: Bei den Tests hätte man sehen müssen, dass es noch Handlungsbedarf gibt, da wir noch nicht alle Szenarien durchgespielt haben. Die großen Aufreger kommen erst noch und dann werden die Diskussionen aufs Neue beginnen. Es gibt Situationen, die im Fernsehen ein Stück weit anders aussehen als auf dem Feld und in diesen Fällen wird der Schiedsrichter den Videoassistenten hin und wieder überstimmen. Auf die Reaktionen darauf bin ich gespannt. Der Weg ist zwar richtig, aber es gibt noch einige Fragezeichen, die sich erst mit der Zeit auflösen werden. Womit ich mich zum Beispiel noch gar nicht anfreunden kann, ist die Grundausrichtung bei Abseitsentscheidungen.

SPOX: Warum?

Meier: Knappe Abseitssituationen, aus denen Tore oder Elfmeter resultieren, werden annulliert. Da reicht es, wenn der Angreifer nur zehn Zentimeter vor dem Verteidiger steht und es mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen ist. Gleichzeitig kann man es aber nicht kompensieren, wenn ein Angreifer wegen einer vermeintlichen Abseitsstellung zu Unrecht zurückgepfiffen wird. Der Angriff ist für immer weg. Da fehlt die Gerechtigkeit. Außerdem sehe ich in diesem Zusammenhang eine große Gefahr für den Spielfluss, weil die Schiedsrichterassistenten im Prinzip dazu ermutigt werden, passiv zu agieren.

SPOX: Wie meinen sie das?

Meier: Die Assistenten auf dem Feld können im Zweifel alle Abseitsentscheidungen einfach laufen lassen und darauf warten, ob sie vom Videoassistenten in Köln korrigiert werden. Ich würde das gut verstehen, der Videobeweis klärt die Situation ohnehin auf, aber so untergräbt der Videobeweis nicht nur die Autorität des Schiedsrichters auf dem Platz, so ein Vorgehen führt auch zu zahlreichen Unterbrechungen.

SPOX: Der unterbrochene Spielfluss ist ein Kernargument der Videobeweis-Gegner. Wo liegt die Grenze? Wann sind es zu viele Unterbrechungen?

Meier: In meinen Augen wird der Videobeweis tendenziell zu inflationär eingesetzt, weil für mich jede Unterbrechung eine Unterbrechung zu viel ist. Trotzdem bin ich grundsätzlich ein Befürworter des Videobeweises, weil die Fehlerquote minimiert wird. Für den Schiedsrichter ist der Videoassistent ein Airbag, der ihn vor fatalen Fehlentscheidungen rettet. Aber: Wenn ich Auto fahre, will ich ja auch nicht, dass der Airbag aufgeht. Wenn er maximal zweimal pro Spiel aufgeht, ist das noch in Ordnung, alles darüber sehe ich problematisch.

SPOX:Heiko Herrlich zufolge benachteiligt der Videobeweis die Fans im Stadion gegenüber den Zuschauern im TV. Muss der Videobeweis im Stadion transparenter dargestellt werden?

Meier: Der Fan im Stadion ist der Leidtragende, weil er unwissend bleibt. Wenn wir schon diese Kamerabilder haben, dann sollten wir die Situationen im Stadion aufklären. Ich verstehe nicht, warum das nicht umgesetzt wird, beim Rugby beispielsweise funktioniert das auch. Der Fan im Stadion sollte sich wie der Schiedsrichter oder der Zuschauer auf dem Sofa ein vernünftiges Bild machen können. Da könnte man direkt einen Schritt weiter denken und gleichzeitig auch die Kommunikation zwischen den Schiedsrichtern einspielen. Damit würde man dem Schiedsrichter die Möglichkeit geben, seine Stellung zu stärken, weil jeder nachvollziehen kann, warum er eine Entscheidung getroffen hat.

SPOX: Könnte das nicht dazu führen, dass die Emotionen in den Fankurven Überhand nehmen?

Meier: Unabhängig vom Videobeweis können Emotionen überkochen, aber der Videobeweis kann auch das Gegenteil bewirken. Wenn die Fans sehen, dass ein Spieler wegen einer klaren Tätlichkeit zu Recht vom Platz gestellt wird, gibt das keine Probleme. Auch wenn das ein Spieler des eigenen Teams ist. Problematischer wäre es, wenn eine Tätlichkeit übersehen wird und eben dieser Spieler danach ein Tor schießt. Dann ist die Hölle los.

SPOX: Wir haben bislang über viele Probleme beim Videobeweis gesprochen. Wann greift er bereits erfolgreich?

Meier: Bei schwarz-weißen Entscheidungen funktioniert die Absprache sehr gut. Das war am letzten Spieltag bei der Roten Karte für Yoric Ravet im Spiel zwischen Freiburg und Dortmund oder dem Elfmeter für Schalke gegen Stuttgart der Fall. Und auch wenn man nach diesen langen Tests gerade technisch mehr erwarten konnte, hat die DFL ihre Schiedsrichter intensiv vorbereitet und das hat sich bezahlt gemacht. Trotzdem bleibe ich dabei: Der Schiedsrichter darf sich nicht hinter dem Videobeweis verstecken, sonst wird es gefährlich.

SPOX: Sonst geht der Airbag auf und überstimmt den Schiedsrichter im Zweifel auch mehrmals pro Spiel. Kratzt das nicht an der Autorität des Unparteiischen?

Meier: Auch wenn es eigentlich nicht der Fall sein sollte: Jede Fehlentscheidung beschäftigt den Schiedsrichter und bringt ihn ins Grübeln. Und die Spieler merken das sofort. Viele Schiedsrichter verkaufen auch nicht so gute Entscheidungen hervorragend. Da die Situation binnen weniger Sekunden aufgelöst werden kann, ist dieser Bonus jetzt weg und dadurch gerät auch die Akzeptanz auf dem Feld in Gefahr. Aber das ist keine Einbahnstraße. Erhält der Schiedsrichter aus Köln die Info, dass die Entscheidung korrekt war, gibt das Selbstvertrauen.

SPOX: Ändert sich für den Schiedsrichter der Umgang mit den Spielern?

Meier: Absolut. Gerade in der Schlussphase werden die Teams nach jedem Strohhalm greifen - und das ist der Videobeweis. Früher oder später wird er garantiert als taktisches Mittel eingesetzt. Merkt der Trainer, dass das eigene Team gerade keinen Fuß auf den Boden bekommt, wirkt er auf den Schiedsrichter ein und forciert den Videobeweis. Das könnte wirklich hässlich werden, wie wir beim Confed Cup schon vereinzelt gesehen haben.

SPOX: Was wäre die Lösung, um das zu verhindern?

Meier: Innerhalb der FIFA kursieren verschiedene Entwürfe. Muss der Videobeweis immer eingesetzt werden? Stellen wir den Mannschaften pro Spiel eine bestimmte Anzahl an Challenges zur Verfügung? Sollte es eine grundlegende Review-Obergrenze geben? Wollen wir das überhaupt reglementieren?

SPOX: Der Trend ist offensichtlich: Durch technische Errungenschaften sollen die Fehler der Schiedsrichter minimiert werden. Wo führt das hin?

Meier: Ich bin davon überzeugt, dass wir noch nicht alle Ressourcen optimal einsetzen. Die Torlinienrichter braucht zum Beispiel kein Mensch. Es wäre zielführender gewesen, die Schiedsrichter auf dem Platz noch besser zu schulen und zu professionalisieren. Da gibt es im Profifußball noch viel Luft nach oben. Die Technik löst nicht alle Probleme. Deshalb müssen wir den Fokus vermehrt auf die Menschen legen und dann ergänzend mit der Technik arbeiten. Die Kombination aus professionellen Schiedsrichtern und reibungslos funktionierender Technik ist am vielversprechendsten.