Die Gedanken kommen immer wieder. Auch in Allerweltssituationen. Platzt irgendwo ein Luftballon, fährt ein LKW ganz langsam vorbei, geht es wieder im Bus vom Hotel zum Stadion - dann haben die Spieler von Borussia Dortmund den Bombenanschlag auf ihr Leben vor Augen. "Da beginnt bei mir das Kopfkino", sagt Weltmeister Matthias Ginter.
Ab Donnerstag, 12.00 Uhr, steht in Saal 130 im Prozessgebäude des Landgerichts Dortmund der mutmaßliche Attentäter Sergej W. vor Gericht. Dem 28-Jährigen werden versuchter Mord in 28 Fällen (18 Spieler, acht Trainer und Betreuer, der Busfahrer, ein auf dem Motorrad vorausfahrender Polizist), das Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion sowie gefährliche Körperverletzung in zwei Fällen vorgeworfen.
Lebenslange Haftstrafe droht
Motiv: Habgier. Angeblich spekulierte Sergej W. über kreditfinanzierte Put-Optionen auf einen sinkenden Aktienkurs - ausgelöst durch seine Tat am 11. April: "Aus Habgier, heimtückisch und mit gemeingefährlichen Mitteln.". Die Staatsanwaltschaft geht von einem maximal möglichen Gewinn von 506.275 Euro aus. Bis zum 28. März sind 18 Verhandlungstage angesetzt. Das Landgericht teilte mit, es drohe eine lebenslängliche Haftstrafe. Mehrere Spieler haben sich dem Verfahren als Nebenkläger angeschlossen, vor Gericht auftreten werden sie wahrscheinlich nicht.
Der Mannschaftsbus hatte das Hotel l'Arrivee gerade Richtung Stadion verlassen, als am 11. April um 19.16 Uhr in einer Hecke drei Sprengsätze detonierten. "Wir dachten alle, dass wir jetzt sterben", berichtete der damalige BVB-Profi Mikel Merino zuletzt noch einmal im englischen Guardian. In der Anklage heißt es: "Die fernzündbaren Sprengsätze sollen jeweils mit (...) einer Wasserstoffperoxid-Brennstoff-Mischung sowie mindestens 65 in Epoxidharz eingeschlossenen Metallbolzen mit einem Durchmesser von 6 mm und einer Länge von 74 mm (...) bestückt gewesen sein."
Sprengsatz verfehlte Bus - Glück im Unglück
Einer davon schlug neben dem spanischen Innenverteidiger Marc Bartra in der Kopfstütze ein. Zwischen Leben und Tod lagen vielfach nur Zentimeter: Der mittlere der drei Sprengsätze verfehlte den Bus knapp. Er war, so steht es auch in der Anklage, wohl zu hoch angebracht. Somit hatte die Besatzung noch Glück im Unglück: Bartra erlitt einen Armbruch und Fremdkörpereinsprengungen, der Polizist ein Knalltrauma. Es hätte viel, viel schlimmer kommen können.
Dennoch wird rund um den Prozess selbstverständlich auch bei Spielern und Betreuern alles wieder hochkommen. Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke berichtete zuletzt, der BVB stelle weiterhin professionelle Hilfe bereit: "Der Anschlag hat diesen Verein erschüttert. Ich habe mich mit Psychologen ausgetauscht, die sagen, gerade das Risiko sechs, sieben Monate nach einem solchen Attentat sei extrem hoch." Somit, vermutet Watzke, könne es auch für den vermeintlich unerklärlichen Absturz der Dortmunder in der Bundesligatabelle verantwortlich sein.
Abseits allen Leids hatte des Attentat ohnehin gravierende sportliche Folgen. An der raschen Neuansetzung des ausgefallenen Champions-League-Spiels gegen den AS Monaco für den Folgetag entbrannte ein öffentlich geführter Streit zwischen Trainer Thomas Tuchel und Watzke. Ohnehin vorhandene Gräben rissen weiter auf - sie waren schließlich nicht mehr zu überbrücken. Nach dem DFB-Pokal-Sieg musste Tuchel gehen.