Der Eindruck täuscht nicht: In der Bundesliga-Saison 2017/18 fallen so viele Tore nach Standardsituationen wie noch nie. Die Gründe für diesen Standard-Boom sind jedoch nur schwer zu bestimmen. Schaut man sich die einzelnen Klubs genauer an, ist ein Team nach ruhenden Bällen ganz besonders schwach - und ein anderes punktet nun schon seit Jahren mit einem herausragenden "Standard-Guru".
Stellt sich ein Spieler in dieser Saison nach Abpfiff verschwitzt den Mikrofonen, kommen in gefühlt jedem zweiten Satz die berühmt-berüchtigten Standardsituationen zur Sprache. Manchmal geht es um die eigene Stärke bei Elfmetern, Freistößen, Ecken - vereinzelt auch mal bei Einwürfen. Viel öfter aber machen die Akteure ihrem Ärger darüber Luft, die ruhenden Bälle nicht anständig verteidigt zu haben.
"Wir haben drei Gegentore durch Standards bekommen. Das müssen wir abstellen, denn das entscheidet Spiele", sagte Bayer Leverkusens Bernd Leno schon nach dem ersten Spieltag gegen Bayern München (1:3). "Bremen ist stark bei Standards, da haben wir nicht aufgepasst", analysierte Hoffenheims Serge Gnabry. "Vielleicht sollten wir mal zum Handball gehen, damit man sieht, wie da mit dem Körper gearbeitet wird", schimpfte Leipzigs Kapitän Willi Orban nach der Niederlage gegen Freiburg. Die Liste ließe sich problemlos weiter fortsetzen.
Bei den Trainern ist es auf den Pressekonferenzen nicht anders. Julian Nagelsmann bemängelte, dass man gegen die Bayern "die Gegentore nach Standards zu einfach bekommen" habe, und auch gegen Hannover 96 hatte er Stärken bei "Standards und Umschalten" ausgemacht. RB-Coach Ralph Hasenhüttl wird von Woche zu Woche verzweifelter, zumal man bereits in der Königsklasse aufgrund chronischer Standardschwäche gescheitert war. In Leverkusen sieht es nicht viel anders aus. Spaß an den Dingern haben gefühlt nur James Rodriguez, Naldo und der SC Freiburg.
Die Frustration ist verständlich: Von einem überlegenen Gegner ausgespielt werden, vielleicht auch mal ein Konter, wenn man hinten aufmachen muss, das ist kaum zu verhindern. Aber Standards? Klar, manche Dinge kann man nicht verteidigen. Aber mit Disziplin und der richtigen Einstellung sollte auch der Effzeh vermeiden können, dass die Bayern am Fünfer frei zum Kopfball kommen.
Bundesliga: So viele Tore nach Standardsituationen wie noch nie
Nimmt man die Standardsituationen in der Bundesliga unter die Lupe, stellt sich zuallererst die Frage, ob es sich lediglich um eine gefühlte Inflation handelt. Fallen wirklich mehr Treffer nach Standards, oder verzerrt das wöchentliche Frustschieben der Leipziger - "Das zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Saison. Wir dürfen die Punkte nicht durch Standards einfach so abschenken", klagte etwa Marcel Sabitzer nach dem Freiburg-Spiel - die Realität?
Die Opta-Daten* sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache.
Standardtore in der Bundesliga - letzte 5 Jahre | ||||
Saison | Tore nach Standards | Tore nach Elfmetern | Tore nach Freistößen | Tore nach Ecken |
2017/18 | 38,4% | 10,1% | 10,5% | 16,1% |
2016/17 | 30,1% | 8,1% | 10,4% | 10,9% |
2015/16 | 27,9% | 7,9% | 8,2% | 11,1% |
2014/15 | 32,3% | 6,9% | 12,8% | 10,4% |
2013/14 | 30,3% | 6,6% | 11,7% | 10,5% |
*Alle Statistiken dieser und der folgenden Tabellen bis einschließlich 19. Spieltag (international bis zum 25. Januar)
Die Zahlen belegen: In dieser Saison fallen so viele Tore nach Standards wie noch nie seit Beginn der Datenerfassung. Während der Trend in den Jahren zuvor relativ konstant blieb, schnellt die Quote 2017/18 in die Höhe.
Dabei liegt die Bundesliga auch im internationalen Vergleich komfortabel an der Spitze.
Standardtore Top-5-Ligen 2017/2018 | ||
Rang | Liga | Anteil der Standardtore |
1 | Bundesliga | 38,4% |
2 | Ligue 1 | 30,2% |
3 | Serie A | 29,7% |
4 | Primera Division | 28,3% |
5 | Premier League | 27,4% |
Welche Erklärungen lassen sich dafür finden? Die eine Änderung im Vergleich zu den vorigen Spielzeiten liegt auf der Hand: der Video-Beweis. Video-Beweis = mehr Fouls, die geahndet werden = mehr Standards = mehr Tore?
Vielleicht ist die Rechnung nicht ganz so einfach. 48 Mal wurde in der Hinrunde eine Entscheidung per Videoassistent korrigiert, gaben DFB und DFL in der Winterpause bekannt. Aufgesplittet in die einzelnen Entscheidungen wurde diese Zahl nicht. Dennoch wurden mehrere Elfmeter erst nach Videobeweis gegeben, gekoppelt mit der überdurchschnittlichen Treffsicherheit (82 Prozent in der Hinrunde, im Jahr zuvor nur 67 Prozent) mag das erklären, warum sich die Quote der Strafstöße immerhin um rund 25 Prozent gesteigert hat.
Bei den Freistößen lässt sich jedoch im mehrjährigen Vergleich kein Trend erkennen. Und den Löwenanteil der zusätzlichen Tore machen ohnehin die Ecken aus - hier hat sich die Quote um fast 50 Prozent gesteigert. Allein mit dem VAR lässt sich das nicht erklären. Zwar darf der theoretisch überprüfen, ob der Ball im Aus war, aber das betraf bisher nur wenige Entscheidungen - und etwaige Fouls bei Ecken im Strafraum würden ja dann wieder zu den Elfmetern gerechnet werden. Wird aus Angst vor dem Video-Referee bei Ecken in dieser Saison so viel lascher verteidigt? Das erscheint als Erklärung ungenügend.
Man darf auch nicht vergessen, dass in der Serie A der Videoassistent ebenfalls im Einsatz ist - und augenscheinlich nicht zur gleichen Entwicklung wie in der Bundesliga geführt hat.
Ob es sich bei den Standards in dieser Saison um einen einmaligen Ausreißer nach oben handelt, oder ob sich der Trend bestätigt, gerade nach Ecken verstärkt zuzuschlagen, wird man erst in den nächsten Jahren einwandfrei sagen können.
Die zweite Frage ist: Welche Vereine profitieren ganz besonders vom Fokus auf die Standards? Und welche Klubs leiden in der Verteidigung am bittersten?
Standardtore - Bundesliga 2017/18 | |||||
Rang | Verein | Tore | Tore nach Standards | in % | Anteil Zuspiele** |
1 | SC Freiburg | 20 | 12 | 60 | 43% |
2 | Hertha BSC | 27 | 15 | 56 | 44% |
3 | Hamburger SV | 15 | 8 | 53 | 47% |
4 | Hannover 96 | 28 | 14 | 50 | 47% |
5 | 1. FC Köln | 14 | 7 | 50 | 44% |
6 | Schalke 04 | 30 | 14 | 47 | 49% |
7 | Werder Bremen | 16 | 7 | 44 | 45% |
8 | VfB Stuttgart | 16 | 7 | 44 | 50% |
9 | Mainz 05 | 24 | 10 | 42 | 45% |
10 | Bor. Mönchengladbach | 30 | 12 | 40 | 50% |
11 | RB Leipzig | 31 | 11 | 35 | 57% |
12 | Eintracht Frankfurt | 24 | 8 | 33 | 45% |
13 | FC Augsburg | 28 | 9 | 32 | 45% |
14 | VfL Wolfsburg | 22 | 7 | 32 | 50% |
15 | Bayern München | 44 | 13 | 30 | 66% |
16 | Borussia Dortmund | 40 | 12 | 30 | 64% |
17 | 1899 Hoffenheim | 29 | 8 | 28 | 53% |
18 | Bayer Leverkusen | 39 | 9 | 23 | 53% |
**Prozentualer Anteil der Pässe des Teams in einer Partie. In etwa vergleichbar mit Ballbesitz.
Wie man vielleicht vermuten könnte, sind es im Schnitt eher die spielschwachen Vereine, die gerade über die Standards zum Erfolg kommen. Niemand überlässt das Spielgerät so oft dem Gegner wie Freiburg, Berlin und Köln - und alle drei Klubs befinden sich unter den Top 5, was ihre Erfolge nach Standards angeht. Die Breisgauer markierten bis zum 19. Spieltag unglaubliche 60 Prozent ihrer Tore nach ruhendem Ball.
Umgekehrt treffen die spielbestimmenden Teams wie Bayern oder Dortmund prozentual sehr viel seltener durch Standards, auch Leipzig, Hoffenheim oder Leverkusen sind in dieser Hinsicht in der "unteren Tabellenhälfte" zu finden.
Obwohl die Bayern mit James mittlerweile einen waschechten Standard-Spezialisten in ihren Reihen haben und sich unter Jupp Heynckes ("Bei Standardsituationen sind wir in dieser Saison sehr gefährlich.") noch einmal gesteigert haben - gerade mal elf Standardtore unter Carlo Ancelotti in der vergangenen Saison -, treffen drei Teams nach Standards häufiger.
Ein weiterer interessanter Aspekt: In dieser Saison treffen Abwehrspieler vergleichsweise extrem häufig. 12,42 Prozent aller Tore wurden durch Verteidiger erzielt, nur dreimal waren es seit Beginn der Datenerfassung mehr. Schicken die Teams also einfach ihre baumlangen Innenverteidiger nach vorn? Erklärt das die vielen Tore nach Ecken? "Aus dem Spiel heraus lassen wir nicht viel zu, aber bei Standards versuchen die Gegner immer alles", lamentierte Hasenhüttl zuletzt.
Andererseits sind die Teams mit den treffsichersten Hintermannschaften (Gladbach und Mainz erzielen über ein Viertel aller Tore durch Abwehrspieler) in der obigen Tabelle genau in der Mitte zu finden.
Wie sieht es bei den Gegentoren aus?
Gegentore nach Standards - Bundesliga 2017/18 | ||||
Rang | Verein | Gegentore | Gegentore nach Standards | in % |
1 | Bayer Leverkusen | 27 | 14 | 52 |
2 | 1. FC Köln | 33 | 16 | 48 |
3 | Mainz 05 | 33 | 16 | 48 |
4 | RB Leipzig | 28 | 13 | 46 |
5 | Eintracht Frankfurt | 20 | 9 | 45 |
6 | Hertha BSC | 27 | 12 | 44 |
7 | Bayern München | 14 | 6 | 43 |
8 | VfB Stuttgart | 24 | 10 | 42 |
9 | FC Augsburg | 25 | 10 | 40 |
10 | Hannover 96 | 29 | 11 | 38 |
11 | 1899 Hoffenheim | 27 | 9 | 33 |
12 | Schalke 04 | 25 | 8 | 32 |
13 | Hamburger SV | 28 | 9 | 32 |
14 | Werder Bremen | 25 | 8 | 32 |
15 | Bor. Mönchengladbach | 30 | 9 | 30 |
16 | VfL Wolfsburg | 24 | 7 | 29 |
17 | Borussia Dortmund | 25 | 7 | 28 |
18 | SC Freiburg | 33 | 9 | 27 |
Erste Erkenntnis: Der hadernde Ralph Hasenhüttl hat nicht ganz Unrecht. Die Bullen sind bei den Gegentoren nach Standards weit vorn. Was aber soll Bayer Leverkusen sagen? Die Werkself trifft nicht nur so selten wie sonst kein Team durch Ecken, Freistöße und Co., sondern kassiert gleichzeitig auch als einziges Team über die Hälfte aller Gegentreffer, wenn sich der Gegner den Ball vorher hübsch zurechtgelegt hat. Es stimmt, über ein Drittel dieser Gegentreffer fielen allein in den zwei Spielen gegen die Bayern, dennoch ist die Statistik für Trainer Heiko Herrlich auf der Jagd nach dem Champions-League-Platz besorgniserregend.
Zweite Erkenntnis: Eine Tendenz bei spielstarken und -schwachen Teams lässt sich hier schwerer feststellen. Leverkusen und Leipzig lassen sich vergleichsweise leicht bezwingen, Gladbach und Dortmund stehen bei Standards aber sehr sicher. Die Kölner treffen bei eigenen Standards, kassieren andererseits aber eben auch häufig.
Dritte Erkenntnis: Lars Voßler ist immer noch ein Genie.
Freiburgs Co-Trainer Voßler ist ein Standard-Experte
Voßler ist seit vielen Jahren Co-Trainer von Christian Streich und im Breisgau für das Einstudieren von Standardstituationen zuständig. Das machte er schon vor der WM 2014 so gut, dass Hansi Flick in der Vorbereitung auf das Turnier in Brasilien Rat bei ihm suchte, nachdem die DFB-Elf vermehrt den ruhenden Ball trainieren wollte.
Voßler präsentierte ihm seine Ideen, Flick wiederum gab sie an Löw weiter. Das Ergebnis ist bekannt: Deutschland traf in Brasilien so oft wie kein anderes Team nach Standards - und wurde am Ende Weltmeister. "Sehr dankbar" sei man Streich und dem SC für deren Offenheit, erklärte Flick später in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.
Voßler und die Wichtigkeit von Standards in engen Spielen ist also längst kein Geheimnis mehr. Scheinbar kann ihm die Konkurrenz aber immer noch nicht das Wasser reichen: Keine Mannschaft trifft nach Standards prozentual so häufig wie der SC Freiburg - und niemand verteidigt diese Situationen so geschickt.
Mittlerweile werden sogar schon Talentscouts für viel Geld abgeworben. Da würde sich, gerade im Zuge der zunehmenden Spezialisierung im Training, vielleicht auch ein gewisser Co-Trainer anbieten.