Verkehrte Welt in der Bundesliga an diesem Samstag: Da gewann der FC Bayern München durch ein 4:1 beim FC Augsburg vorzeitig die sechste Deutsche Meisterschaft in Folge, doch statt einer rauschenden Feier wurde nur artig und ein bisserl gedämpft gejubelt.
Ein paar Stunden später gewann rund 750 Kilometer nördlich der HSV gegen S04 - aber obwohl die Aussichten auf den Klassenerhalt trotz des Dreiers immer noch alles andere als rosig sind, wurde der Erfolg von Fans und Spielern geradezu euphorisch gefeiert.
Der Grund: Bei den Bayern steht am Mittwoch schon wieder Champions League auf dem Programm. Man hat in den nächsten Wochen noch eine Menge zu verlieren. Beim Bundesliga-Dino dagegen hat man zuletzt so oft verloren, dass es jetzt, fünf Spieltage vor Schluss, praktisch nichts mehr zu verlieren gibt. Frei nach Pep Guardiola: "Wunder oder nix." Warum soll man sich also nicht freuen, über den ersten klitzekleinen, aber doch so wichtigen Schritt? "So lange es rechnerisch möglich ist", werde man alles versuchen, betonten Lewis Holtby und Aaron Hunt nach der Partie unisono.
Aber was die beiden Torschützen vielleicht noch mehr freute, war die Art und Weise, wie ihre Mannschaft den ersten Dreier seit 15 Spielen eingefahren hatte - und gleichzeitig den ersten Sieg unter Trainer Christian Titz.
HSV unter Trainer Titz: Mutiges Spiel nach vorn
Titz hat es geschafft, der Mannschaft in nur kurzer Zeit eine furchtlose Mentalität einzuimpfen: Rückzugsgefechte kann man vielleicht im Winter führen, mit einem Vorsprung auf die Abstiegszone in petto, von dem gezehrt werden kann. Rückzugsgefechte auf dem letzten Tabellenplatz? Unmöglich. Stattdessen mutig voran - die Raute hat wieder Traute.
Und so stürmten die Hamburger beinahe mit dem Anstoß nach vorn, gegen den Tabellenzweiten, der mit einer brauchbaren Siegesserie im Gepäck angereist war und fünf Spiele kein Gegentor gefangen hatte. So stürmten die Hamburger weiter nach vorn, als Naldo den frühen und eigentlich irregulären 1:0-Treffer für S04 erzielt hatte. So stürmten sie nach dem Ausgleich und dem Führungstreffer zum 2:1 durch Holtby. "Der HSV hat uns von Anfang an das Leben zur Hölle gemacht", klagte Schalke-Trainer Domenico Tedesco.
Die Flucht nach vorn der Hamburger war schließlich nicht nur gepaart mit traditionellen teutonischen Tugenden. Es war spielerisch teilweise erste Sahne, was die Rothosen den gut 54.000 Fans im Volksparkstadion boten: schnelles, direktes Spiel nach vorn, extremes Pressing gegen den Ball, kompromisslose Zweikampfführung, Kombinationen über mehrere Stationen im gegnerischen Spieldrittel.
Hunt lobt Entwicklung unter Titz: "Erstes Mal, dass wir Fußball spielen"
Titz hat der Mannschaft nicht nur den Glauben an die eigene Stärke zurückgegeben, sondern auch die passende Spielidee dazu in die Hand gedrückt. Dass Akteure wie Kostic, Holtby oder Hunt eigentlich kicken können, ist kein Geheimnis. Dazu die Infusion junger, gut ausgebildeter Spieler wie Steinmann, Waldschmidt oder Ito. Plötzlich flutscht es.
"Man sieht, was [Titz] in der kurzen Zeit bewirkt hat", lobte Hunt nach der Partie. "Wie wir Fußballspielen von hinten raus. Es ist in dieser Saison das erste Mal, dass wir richtig Fußball spielen." Klare Worte auch in Richtung der Vorgänger Markus Gisdol und Bernd Hollerbach. Holtby schlug in die gleiche Kerbe: Wie man seit drei Spieltagen "Fußball spiele, wie wir uns nicht aufgeben, wir wir als Mannschaft endlich auftreten, das gefällt mir, das tut der ganzen Mannschaft gut."
Selbst als Burgstaller zum 2:2 traf und die Kräfte langsam schwanden, spielte der HSV weiter nach vorn. Und wenige Minuten vor dem Ende nahm Hunt Maß. Vielleicht war es der Glaube an die eigene Stärke, vielleicht auch Mut der Verzweiflung. Wie dem auch sei: Sein Fernschuss schlug unhaltbar im Knick ein. "Wenn man nicht aufs Tor schießt, fallen keine Tore", konstatierte der erneut weit vorn mitspielende Torwart Julian Pollersbeck beim NDR. "Der Hunter hat das Ding da oben reingeschweißt, ich glaube, der zappelt immer noch." Hunt erklärte, er habe "einfach draufgehalten. Ein bisschen Glück war auch dabei."
Nach dem Sieg sprachen mehrere Spieler und auch Titz davon, dass man sich endlich belohnt habe. Schon gegen die Hertha (1:2) und den VfB (1:1) hatte man ähnlich gute Anlagen gezeigt, ähnlich viel investiert. "Wir haben versucht, das Gute aus den letzten Spielen über 90 Minuten zu zeigen", sagte Pollersbeck. "Jetzt haben wir gezeigt, dass wir auch zurückkommen können."
HSV im Abstiegskampf: 1. FC Köln als Warnung?
Zurückkommen ist das richtige Stichwort. Bei noch fünf ausstehenden Spieltagen fehlen fünf Punkte auf Mainz 05 und den Relegationsplatz, der VfL Wolfsburg ist mittlerweile sogar sieben Punkte weg. 22 Punkte zu diesem Zeitpunkt haben in der Geschichte der Liga erst ein einziges Mal zum Klassenerhalt gereicht. Vor 31 Jahren. "An der Situation hat sich nichts geändert", warnte Titz. "Wir haben nur ein Spiel gewonnen."
Ein Blick auf das Restprogramm verrät, dass zudem noch der eine oder andere Brocken wartet. Andererseits könnte sich die neue, hanseatische Spielidee gegen Kontrahenten wie Hoffenheim, Frankfurt oder Mönchengladbach durchaus als nützlich erweisen.
Spieltag | Heim/Auswärts | Datum | Anstoß | Gegner |
30 | A | Sa., 14.04. | 15.30 Uhr | TSG Hoffenheim |
31 | H | Sa., 21.04. | 15.30 Uhr | SC Freiburg |
32 | A | Sa., 28.04. | 15.30 Uhr | VfL Wolfsburg |
33 | A | Sa. 05.05 | 15.30 Uhr | Eintracht Frankfurt |
34 | H | Sa. 12.05 | 15.30 Uhr | Borussia Mönchengladbach |
Wenn man denn den nun geholten Schwung mitnehmen kann in den letzten Saisonmonat. Mahnendes Beispiel könnte das Team sein, das Hamburg gerade überholt hat: Auch der 1. FC Köln spielte plötzlich befreit auf, als der Abstieg fast schon festzustehen schien, holte unter anderem sieben Punkte aus den ersten drei Spielen nach der Winterpause. Zuletzt verpuffte die Aufholjagd jedoch: 0:6 in Hoffenheim, jetzt ein bitteres Unentschieden daheim gegen Mainz.
Verständlich also, dass Titz auf die Bremse drückt. "Ich hoffe, dass die Uhr über die Saison hinaus tickt. Aber das wäre viel zu euphorisch." Das "Unmögliche möglich" machen, könne nur eine sehr altmodische Idee, die da heißt: harte Arbeit.