Hamburgs Abstieg: Der Nimbus ist tot - lang lebe der HSV!

Die Uhr im Hamburger Volksparkstadion hat aufgehört zu ticken.
© getty

Am Samstag ist der HSV nach fast 20.000 Tagen ununterbrochener Bundesliga-Zugehörigkeit erstmals abgestiegen. SPOX-Redakteur Oliver Wittenburg drückt den Rothosen seit etwa 13.000 Tagen die Daumen und fragt sich natürlich: und nu? Seine erste Maßnahme: eine Überdosis Nostalgie gegen den Schreck. Die zweite: eine Messerspitze Hoffnung. Prognose: Wird.

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Musste am Samstag mehr an meinen Vater denken als an den HSV. Der hatte Geburtstag, also mein Alter, und was kriegt er? Der Klub, den er seit seligen Seeler- und Dörfel-Zeiten verehrt, steigt ab. In your face!

Meine erste Maßnahme: Realitätsflucht, also: Oldies gucken. HSV gegen Real von 1980 auf Dings.

Der Reporter nölte noch am Anfang, dass heute aber was kommen müsse, weil: Vor 14 Tagen im Bernabeu sei das ja nix gewesen. 0:2 in Madrid. Was erlaube HSV?

Und dann ging's los: Real wusste vom Anpfiff weg nicht, wo oben oder unten, vorne oder hinten war. Nur am Hinterherlaufen die Königlichen. Die wurden überrannt von Kaltz und Reimann, von Keegan, Memering und Magath. In der Mitte: der personifizierte Schrecken namens Hrubesch. 4:1 stand's zur Pause. 4:1. Gegen Real Madrid. Zur Halbzeit.

HSV: Die beste Abwehr Europas

Dann noch ein bisschen durch die Highlights gescrollt und unweigerlich beim 4:3 in München hängengeblieben. 1982 war das und da ging's um die Wurst. Bayern und Köln wären um ein Haar auf einen Punkt rangekommen, doch es hat den HSV nicht die Bohne interessiert, dass die Bayern nach 64 Minuten 3:1 vorne lagen.

Da sind die erst mal richtig sauer geworden und haben alles nach vorne geworfen. Und dann haben von Heesen und Hrubesch das Ding noch gedreht.

1999/2000 hat der HSV unter Pagelsdorf richtig coolen Fußball gespielt. In der Saison 2005/06 unter Doll ebenso. Ich weiß noch, als die SZ von Europas bester Abwehr schwärmte. Ich glaube, das war nach dem 16. Spieltag, da war der HSV mit 7 (!!!) Gegentoren und 37 (WTF!?) Punkten Zweiter hinter den Bayern.

Erinnerungen an die Juve-Trilogie

Dann noch ein bisschen Juve-Trilogie (1:0 Athen, 4:4 Hamburg, 3:1 Turin), Mannis Freistoß vom Pokalfinale 1987 - und abschließend die Lektüre vom geilsten Endspiel um die deutsche Meisterschaft ever, die von 1922.

Werde dem Kollegen Maack immer zu Dank verpflichtet sein, dass er das Ding für SPOX mal so hübsch ins Reine geschrieben hat. Eins der unzähligen Highlights ist das Zitat eines Augenzeugen: "Im Geiste sehe ich den Kugler Toni, wie er einen Zahn um den andern auf die geweihte, blutgetränkte brandenburgische Erde spotzt."

1922 ist jetzt sehr weit hergeholt, ändert aber nichts daran, dass die Hochzeiten (mit langem O) vorbei sind. Was kam eigentlich dann ... also zwischen damals und diesem verdammten Jetzt? Neben dem gewaltigen Ärger über anhaltendes Missmanagement und sportliche Irrungen und Wirrungen wuchs in Ermangelung echter Erfolge ein eigentümlich verschämter Stolz auf die Zähigkeit, der es der HSV verdankte, nicht schon 2012 abgestiegen zu sein oder 2014, 2015, 2017.

Christian Titz: bodenständig wie Ackerklee

Aus Stolz wurde Trotz, während da draußen (bei den Nicht-Rothosen) dieser klägliche Nimbus der Unabsteigbarkeit allmählich zum Stigma mutierte. Statt "Chapeau!" hieß es jetzt: "Was, Ihr seid immer noch da?!".

Es muss Erneuerung her beim HSV und das unabhängig von der Ligazugehörigkeit. Und wenn der sicher unangenehme Absturz in die 2. Liga die Steilvorlage liefert, ein paar Sachen ganz anders zu machen als bisher (Sparen wäre mal so ein Konzept), dann sei er herzlich willkommen.

Der Mann für diese Erneuerung ist an sichtbarster Stelle Trainer Christian Titz, den der HSV völligst! richtigst! mit einem neuen Vertrag ausgestattet hat.

Der Mann ist bodenständig wie Ackerklee und strahlt gleichzeitig eine Kompetenz in seinem Fachgebiet aus, die Respekt einflößt. Sein einnehmend positiver Ansatz hat dem HSV jetzt schon einen Imagegewinn beschert, der fast mehr zählt als der deutlich spürbare fußballerische Aufschwung.

Es besteht die realistische Chance, daraus eine Erfolgsgeschichte zu machen. Titz gibt dafür den perfekten Erzähler - und Bernd Hoffmann ist abgewichst genug, das Potenzial zu erkennen und zu nutzen.

"Ich glaub', die steigen schon wieder auf", hab ich zu meinem Vater gesagt. Vielleicht schon zum 70., also dem meines Alten, 2019. Nächste Saison. Wäre jedenfalls ein schönes Geburtstagsgeschenk. Lang lebe der HSV!

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