Zwischen den Zeilen hatte man es bereits ein wenig erahnen können. "Ehrlich gesagt grüble ich häufiger", sagte Marcel Schmelzer im SPOX-Interview vom Februar 2016 zwar. "Ich mache mir Gedanken darüber, ob ich mir nicht nach der Karriere die Frage stellen werde, wieso ich nie gewechselt bin oder es nicht zumindest probiert habe."
Zwei Monate später verlängerte Schmelzer seinen Vertrag bei Borussia Dortmund bis 2021. Er machte damals im Gespräch durchaus den Eindruck, ernsthaft über einen Wechsel nachzudenken. Dass ihn die gerade in der heutigen Zeit spezielle Aussicht, auf Jahre seinem Herzensverein treu zu bleiben, mehr reizte und er sie wohl wahrnehmen wird, überraschte letztlich jedoch nicht.
Einige Monate später und nur drei vor dem Anschlag auf den BVB-Mannschaftsbus, gab Schmelzer ein weiteres Interview. "Wenn alles läuft wie geplant, würde ich gern als Spieler in Erinnerung bleiben, der seine komplette Profizeit bei Borussia verbracht hat. Das haben nicht viele geschafft. Es würde mich sehr stolz machen, das zu Ende zu bringen, was ich hier begonnen habe. Aus meiner Sicht wäre es dann eine erfüllte Karriere", sagte Schmelzer dem Magazin 11 Freunde.
Marcel Schmelzer durchlebte zuletzt seine schwerste BVB-Zeit
Schmelzers Vertragsverlängerung zeigte, dass er beim BVB eine Legende werden und in ähnlich guter Erinnerung bleiben möchte wie die Nicht-Wechsler Lars Ricken oder Michael Zorc. Zwischenzeitlich hatte ihn Thomas Tuchel sogar zum Kapitän ernannt. Doch dies ist rückblickend der Ausgangspunkt für die Probleme, die anschließend auf Schmelzer zukamen - und bis in die Gegenwart nachhallen.
Für die Mehrheit der Dortmunder Anhänger hat Schmelzer bereits jetzt den Legendenstatus inne. Dafür gibt es auch eine Menge Gründe: Der Linksverteidiger spielt seit 13 Jahren für den Klub, gewann zwei Meisterschaften, holte zwei Pokalsiege und stieß bis ins Champions-League-Finale vor. Doch es gibt eine Minderheit unter den Fans, die ihm seit deutlich über einem Jahr diese Reputation streitig macht.
Schmelzer durchlebte zuletzt die schwerste Zeit seiner Karriere in Dortmund. Als am Sonntag gegen Leipzig beim Verlesen der Mannschaftsaufstellung sein Name genannt wurde, waren im Stadion vereinzelte Pfiffe zu hören. Woher rührt das?
Tuchels unnötige Kapitänsdebatte um Schmelzer und Reus
Zunächst lässt sich recht leicht feststellen, dass Schmelzers zwei Spielzeiten als Kapitän in eine Phase fielen, die zweifelsfrei die komplizierteste in Dortmunds letzten zehn Jahren war.
Als ihn Tuchel im Sommer 2016 zum Spielführer machte, war Marco Reus verletzt. Nach dessen Rückkehr im Winter entfachte der Ex-Coach eine unnötige Debatte, die sich viel zu lange hielt: "Ich werde mit Marcel und auch mit Marco darüber reden." Der Eindruck, dass Tuchel Schmelzer am liebsten absetzen würde, war in der Welt. Das dürfte auch einer der Gründe gewesen sein, weshalb Schmelzers Verhältnis zu Tuchel zu Bruch ging.
Es folgten die Turbulenzen um den Anschlag und Tuchels Zukunft, der nach dem gewonnenen Pokalfinale von seinem Kapitän in aller Deutlichkeit einen mitbekam: Schmelzer zeigte sich noch am selben Abend geschockt und echauffiert von der Nichtberücksichtigung seines Freundes und Mitspielers Nuri Sahin. Ein paar Tage später wurde Tuchel entlassen und spätestens ab diesem Zeitpunkt vergrößerte sich in der Fangemeinde die Anzahl von Schmelzers Kritikern.
Marcel Schmelzer: Die Leistungdaten seiner BVB-Karriere
Wettbewerb | Pflichtspiele | Tore | Assists |
Bundesliga | 243 | 2 | 22 |
DFB-Pokal | 35 | 2 | 0 |
Champions League | 40 | 1 | 7 |
Europa League | 26 | 1 | 4 |
Schmelzer: "Das öffentliche Reden ist nicht wirklich meins"
Einige sahen in ihm einen der Anführer der Kontra-Tuchel-Gruppe innerhalb der Mannschaft, die damals in zwei Tuchel-Lager gespalten war. Andere beschwerten sich lauthals über Schmelzers stagnierende Leistungen. Und diese Polemik begleitet den 30-Jährigen seitdem.
Blickt man lediglich auf die vergangene Saison, die in Sachen Irrungen und Wirrungen den letzten Tuchel-Monaten in nichts nachstand, ist zwar richtig, dass Schmelzer weit von seinem gewohnten Leistungsniveau entfernt war. Dies galt jedoch für jeden anderen Spieler auch. Schmelzer stellte, zumal am Saisonbeginn zwei Mal in Serie und in der Winterpause erneut verletzt, keine Ausnahme dar.
Doch er war der Kapitän eines sinkenden Schiffes. "Ich halte mich grundsätzlich schon lieber im Hintergrund auf, das öffentliche Reden ist nicht wirklich meins. Ich muss auch nicht ständig meinen Kopf in die Kameras halten. Ich wäre als Mensch aber gerne noch etwas selbstbewusster, was mein Auftreten angeht", sagte er vor zwei Jahren zu SPOX.
Schmelzer personifiziert den BVB-Neustart wie kein anderer
All dies gehörte allerdings zu Schmelzers Aufgaben als Kapitän, er musste medial omnipräsent sein. Es gab in dieser sportlich wie politisch sehr komplizierten Zeit einige Situationen, die nur schwer zu moderieren waren und ihn bisweilen überforderten. Schmelzer gehört verdientermaßen zu den Führungsspielern beim BVB und trägt seit Jahren auch intern viel Verantwortung, doch die Persönlichkeit eines starken Leaders geht ihm etwas ab.
Die Negativspirale erreichte ihren Tiefpunkt zum Ende der letzten Saison. Peter Stöger setzte Schmelzer überraschend auf die Tribüne, beorderte Manuel Akanji auf die für ihn völlig ungewohnte Linksverteidigerposition und kritisierte seinen Kapitän deutlich. Die Verantwortlichen hatten eine hilflose Körpersprache beim formschwachen Schmelzer ausgemacht und trauten ihm nicht mehr zu, das stark verunsicherte Team zu führen.
Das Ende vom Lied: Vor drei Monaten gab Schmelzer die Binde ab. Genauso lange ist es auch her, als man zuletzt ein Statement von ihm bekam. Seit dem Start der Vorbereitung hat sich Schmelzer bewusst nicht geäußert, man wartet bis heute auf eine Einschätzung des Ex-Kapitäns zum Umbruch des Klubs und seiner eigenen Situation.
Schmelzer personifiziert den Neustart beim BVB daher wie kaum ein anderer. Er war schon mehrfach abgeschrieben, in diesem Jahr tauchte er häufiger auf einer der medialen Abschusslisten auf, das Dortmunder Interesse an Kölns Jonas Hector war verbürgt. Doch Schmelzer kickt immer noch beim BVB, ist weiterhin Stammkraft und auch beim fünften Trainer in Folge gesetzt.
Schmelzer steht für Ruhrpott-Werte
Allein dies spricht schon gegen die Behauptungen seiner Kritiker, Schmelzer verkörpere kaum noch Bundesliganiveau. Stattdessen sollte bei der Einschätzung seiner Leistungen wie bei jedem anderen Fußballspieler Realismus einkehren: Schmelzer ist ein spielintelligenter Kämpfer, der gut antizipieren kann und offensiv immer wieder unterstützt. Der Saisonstart gelang auch ihm persönlich, gegen Leipzig bereitete er das wichtige 1:1 vor und machte ein gutes Spiel.
Er wird aber seinen Spielertypus nicht mehr grundsätzlich ändern können, auch die Phase in der Klopp-Ära zwischen 2010 und 2013 kehrt in dieser Form nicht mehr zurück. Trotzdem ist es bei weitem nicht so, dass sich in der Bundesliga 15 deutlich bessere Linksverteidiger tummeln würden.
Schmelzer wird aktuell die Hoffnung haben, ohne die Aufmerksamkeit, die das Kapitänsamt mit sich bringt, wieder zurück in die Spur und zu Konstanz zu finden. Die Strapazen der vergangenen zwei Jahre haben seinem Legendenwunsch zugesetzt, an Schmelzers Status beim BVB wurde stark gerüttelt und er hat zwischenzeitlich gewankt.
Er darf aber nicht fallen. Das wäre gänzlich untypisch für Borussia Dortmund, wo man sich derzeit noch dazu wieder auf die Kerneigenschaften des Vereins besinnen möchte. Und nur wenige im Kader des BVB stehen wie Schmelzer für traditionelle Ruhrpott-Werte wie Maloche, Kämpferherz und Treue.
Mit dem Spruch "Alles auf neu! Jeder hier kricht seine Schangs'!" leitete die Südtribüne am Sonntag ein großes Banner ein. Das sollte gerade in Dortmund für einen verdienten Spieler wie Marcel Schmelzer auch gelten.