Mitten im Münchner Stadtteil Giesing, zwischen Candidplatz und Wettersteinplatz gelegen, schrauben sich vier Flutlichtmasten in den Himmel der bayrischen Landeshauptstadt und bilden, gemeinsam mit einem steinernen, pragmatischen Tribünen-Quartett, das Stadion an der Grünwalder Straße. Ein Ort, der eine Geschichte zu erzählen hat, eine Spielstätte, die das Herz der hiesigen Fußballromantiker höherschlagen lässt.
Hier gab sich Weltstar Pele 1960 mit dem FC Santos die Ehre, der TSV 1860 feierte hier 1966 mit dem Gewinn der deutschen Meisterschaft seinen größten Erfolg. Länderspiele, 14 an der Zahl, wurden an dieser Stelle ausgetragen. Mitte 2012 wurde eine 225 Kilogramm schwere Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg in einem der Sechzehner entdeckt und beseitigt, nachdem der Rasen im Zuge einer Modernisierungsmaßnahme einem neuen Untergrund weichen musste. "Im Strafraum lauerte der Tod", titelte die AZ.
Mehr als 40 Jahre zuvor (bis der FC Bayern 1972 ins Olympiastadion umzog) "lauerte" neben dem Sprengsatz passenderweise regelmäßig ein Spieler, dem im Laufe seiner Karriere der Beiname "Bomber" verliehen werden sollte: Gerd Müller, seines Zeichens später mit schier unglaublichen 365 Treffern für den FC Bayern erfolgreichster Torschütze der Bundesliga-Historie.
40 davon alleine in der Saison 1971/72, vier davon in einem einzigen denkwürdigen Spiel. Beim 11:1 gegen Borussia Dortmund. Noch heute gleichzeitig höchster Sieg der Bayern- und - zumindest ergebnistechnisch - zweitgrößte Schmach der BVB-Geschichte (1978 verlor man mit 0:12 gegen Borussia Mönchengladbach).
Franz Roth erinnert sich: "Zuschauer und Spieler verschmolzen"
"Gegen den BVB, das waren schon immer Knallerspiele. Die Stimmung im Grünwalder Stadion war gewaltig, vor allem, wenn man elf Tore schießt", erinnert sich Franz "Bulle" Roth, der damals zur glorreichen FCB-Elf zählte, selbst zwei Tore beim damaligen Kantersieg (zum zwischenzeitlichen 8:1 und 10:1) beisteuerte, im Gespräch mit SPOX und Goal. "Zuschauer und Spieler verschmolzen quasi, weil die Fans so nah am Spielfeld saßen. Da gab es keine Absperrungen."
Die Demütigung fand im Anschluss entsprechenden Nachklang. Die Westfälische Rundschau schrieb von einer "Hinrichtung", hatte den "schwärzesten Tag der Vereinsgeschichte" in der Packung für die Dortmunder an der Isar ausgemacht. Udo Lattek, anno dazumal Trainer bei den Bayern, sagte: "Heute haben wir gezeigt, dass wir einen Gegner auch killen können." Martialische Worte, um ein Fußballspiel zusammenzufassen, kriegslüsterne Formulierungen, die in ihrer Überspitzung den Kern aber trafen. Was war geschehen, wie kam es zu diesem abstrusen Ergebnis?
Ex-Torhüter Sepp Maier hat seine eigene These dafür: "Damals war Winter. Die Dortmunder haben bis dato keinen Schnee gekannt. Da oben gibt es das selten, wir haben hier oft im Schnee trainiert", scherzte er. Die Vorzeichen für die Gäste standen aber nicht nur mit Hinblick auf die Witterungsbedingungen schlecht, waren die Dortmunder doch mit enormer Personalnot angereist, gleich sieben potenzielle Stammspieler standen verletzungsbedingt nicht zur Verfügung. Zudem herrschten im Klub immer wieder interne Querelen, wenige Tage vorher hatte BVB-Ikone Helmut "Jockel" Bracht sein Amt als Obmann niedergelegt.
Paul Breitner erzielt eines von zwei Kopfballtoren seiner Karriere
Trainer Horst Witzler blieb nichts anderes übrig, als dem Favoriten aus dem Süden mit einer Mauertaktik beizukommen, die man im modernen Fußballjargon wohl als "Bus parken" bezeichnen würde. Als erfolgreich sollte sich die von Witzler gewählte Spielweise nicht herausstellen. Im Gegenteil: Bereits zur Halbzeit hatten die Hausherren dank Müller, Uli Hoeneß, Willi Hoffmann und abermals Müller eine 4:0-Führung herausgeschossen.
Offensichtlich kein Grund für die Münchner, im zweiten Durchgang einen Gang zurückzuschalten. Roth sagt: "Da brauchte der Trainer nicht zu motivieren. Alleine schon aus dem Grund, dass Gerd Müller - egal, wie hoch wir geführt haben - sauer war, wenn ein schlechter Pass kam." Roth schiebt nach: "Wir wollten immer Tore schießen. Das war auch eine Verpflichtung gegenüber unseren Fans. Man konnte nicht sagen: 'Jetzt führen wir 4:0, drehen den Hahn zu und schonen uns.' Diese Taktiererei gab es damals nicht. Unsere Mentalität war, dass wir immer weiter angreifen."
Dementsprechend präsentierte sich die Lattek-Truppe nach dem Seitenwechsel weiter hungrig, ließ sieben weitere Tore folgen. Paul Breitner traf ebenfalls: "Da habe ich eines von zwei Kopfballtoren meiner Karriere gemacht. Ich erinnere mich noch an das Foto, das mich dabei zeigt", lässt er die Geschehnisse im Rahmen der Eröffnung der Hall of Fame des DFB bei SPOX und Goal Revue passieren.
Breitner, der mit dem Ball am Fuß alles konnte, in der Luft nun wirklich nicht als große Koryphäe galt, traf per Kopf. Ein Sinnbild, wie schlimm die ersatzgeschwächten Westdeutschen bloßgestellt wurden.
Stetigen Bayern-Gier aufs Toreschießen
BVB-Coach Witzler bat nach der schmerzlichen Pleite vorsichtig um Verständnis. "Die jungen Kräfte in unserer Mannschaft sind nach drei Monaten zermürbenden Bundesligakampfes ausgelaugt. Da war kein Halt da. Ein Gegentor, und schon ließen fast alle den Kopf hängen und sagten sich im Unterbewusstsein: 'Dieses Spiel ist im Eimer, hier ist nichts mehr zu gewinnen.'"
Ehe Roth viele Jahre später von der stetigen Bayern-Gier aufs Toreschießen schwärmt, schien einem Protagonisten eine derartige Dominanz nicht so recht zu behagen. Hoeneß, damals jüngster Spieler im Kader, gab offen zu: "Wenn wir so hoch führen, wie heute, fehlt mir einfach der richtige Ehrgeiz." Dafür bewunderte er den Vierfach-Torschützen Müller, der im Gegensatz zu ihm "bis zuletzt nach Toren jagt, ganz gleich, ob in der Bundesliga oder in einem Privatspiel."
Eine Einschätzung, die Roth teilt: "Gerd ist für mich der größte Torjäger aller Zeiten, ein Phänomen. Was er damals für Tore gemacht hat, so etwas gibt es nicht noch einmal", sagt der mittlerweile 72-jährige Allgäuer. "Er hat sich nie zufriedengegeben. Wenn er fünf Tore gemacht hat, wollte er das sechste oder siebte machen. Er hat einfach nie aufgegeben. Er war geboren, um Tore zu schießen." Eine Qualität, die den Schwarz-Gelben 1971 unter anderem zum Verhängnis wurde.
Denn: Neben der zuverlässigen Müller'schen Torausbeute konnten sich die Bayern zu jener Zeit auf eine enorme mannschaftliche Geschlossenheit verlassen, wie Roth verrät. "Das war eine Truppe, in der jeder für den anderen da war. Wenn einer einen schlechteren Tag hatte, wurde er von seinen Kollegen aufgefangen. Darum waren wir so beständig."
BVB steigt in 2. Liga ab
Beständigkeit, die die Münchner, angeführt von Kapitän Franz Beckenbauer, den Roth als "absolute Ausnahmeerscheinung" bezeichnet, die Meisterschaft 1971/72 bescherte, während für die Westfalen der bittere Gang in die Zweitklassigkeit anstand. Erst vier Jahre später kehrten sie ins Oberhaus zurück.
In den Siebzigern deutete also nichts darauf hin, dass sich zwischen den von Titel zu Titel eilenden Bayern und den niedergeschlagenen Dortmundern auch nur ansatzweise so etwas wie Rivalität entwickeln würde.
Doch mit der Zeit mauserte sich der Traditionsklub von der Ruhr zu einem bisweilen echten Konkurrenten, was sich Mitte der 1990er Jahre im Gewinn zweier deutscher Meisterschaften in Serie äußerte und 1997 im Champions-League-Triumph gipfelte.
FC Bayern gegen BVB verspricht wieder Hochspannung
Am Samstag treffen die beiden Kontrahenten zum 100. Mal in der Bundesliga aufeinander (18.30 Uhr im LIVETICKER). Nach einer gefühlten Ewigkeit verspricht das Duell, das in Anlehnung an den Clasico zwischen Real Madrid und dem FC Barcelona im Ausland nicht selten als "Klassiker" deklariert wird, wieder Hochspannung.
Vielmehr noch: Es könnte darüber entscheiden, ob der BVB nach sechs Spielzeiten Meisterschalen-Abstinenz wieder auf dem Borsigplatz jubeln darf oder ob die Bayern am Ende, und somit zum siebten Mal in Serie, doch wieder fröhlich vom Rathausbalkon winken. Für "Bulle" Roth ist die Sachlage im Vorfeld klar: "Sollten die Bayern das Spiel gewinnen, gehe ich davon aus, dass sie Meister werden. Wenn das verlorengeht, wird es schwierig, noch fünf Punkte aufzuholen. Dortmund macht in dieser Saison einen konstanten Eindruck."
Im Gegensatz zu damals, beim Gastspiel an der Grünwalder Straße, im November 1971.