Es ist schon eine ganze Weile her, in Zeiten wie diesen eine gefühlte Ewigkeit, da stand zuletzt ein Spieler von Borussia Dortmund einer versammelten Runde von Journalisten zur Verfügung und sprach über seine Wahrnehmung der Corona-Pandemie sowie das, was damit für seinen Beruf zusammenhängt.
Anfang April war das. Roman Bürki und Kollegen hatten eine Woche zuvor damit begonnen, sich wieder auf dem Trainingsgelände im Stadtteil Brackel einzufinden und in Zweiergruppen zu trainieren. Dann waren die Einheiten auf Kleingruppen ausgeweitet worden und seit einiger Zeit befindet sich der BVB wieder im Corona-regulären Mannschaftstraining.
Als "überhaupt nicht angenehm" beschrieb der Schweizer Keeper das erste Geisterspiel seiner Karriere, als die Borussia 0:2 bei Paris Saint-Germain verlor und aus der Champions League ausschied. "Dort konnte kein Spieler das abrufen, was er eigentlich kann", sagte Bürki. "Ich bin davon überzeugt, dass wir in Paris, als wir am Schluss so viel Druck gemacht haben, mit Zuschauern noch ein Tor gemacht hätten. Diese Stimmung, die uns die Zuschauer vor allem in unserem Stadion geben, die pusht einen natürlich noch mal richtig nach vorne. Deswegen brauchen wir noch einmal eine spezielle Vorbereitung auf Geisterspiele."
BVB-Geisterspiel in Paris: Weit weg von der Leistungsgrenze
Die hat es zwischenzeitlich gegeben, der BVB simulierte immer wieder die außergewöhnliche Situation, die am kommenden Samstag nicht nur auf seine Spieler, sondern den gesamten Verein zukommt: Ein Heimspiel ohne Zuschauer im größten Stadion Deutschlands zu absolvieren. Und dies auch noch im Revierderby gegen den FC Schalke 04.
Das bedeutet nicht nur Druck, sondern vor allem Ungewissheit. Ein Vorteil gegenüber dem ewigen Rivalen könnte jener Auftritt in Frankreich am 11. März aber sein, immerhin haben die Dortmunder nun schon erste Erfahrungswerte mit einer solchen Situation sammeln können. Auch wenn das keine guten waren, nach zuvor fünf Siegen in Folge war der BVB in Paris individuell wie auch als Mannschaft weit weg von der eigenen Leistungsgrenze.
"Sie waren auf die Situation ohne Zuschauer nicht so vorbereitet, wie man vielleicht auf sie hätte vorbereiten sein können", sagt Mental- und Karrierecoach Holger Fischer im Gespräch mit SPOX und Goal. "Innerhalb der Mannschaft schienen zu wenige Spieler fähig, andere mitzunehmen, um dagegen zu halten. Paris war eher überlegen, als dass Dortmund unterlegen war. Der BVB hat am Anfang gespielt, um kein Gegentor zu bekommen und nicht zu verlieren."
Dortmund reagiert mit Verpflichtung von Psychologe Laux
Was in der Bundesliga am Samstag und anschließend anders sein wird als damals in der Königsklasse: Die Situation an sich hat sich noch einmal erheblich verschärft, die Spieler kommen aus einer neuartigen Ausgangslage auf das Feld. Auch die Bilder werden verschieden sein. In Paris musste noch nicht penibel auf den Abstand geachtet werden. Dort saßen keine Ersatzspieler mit Mundschutz auf der Bank und es durfte noch eng umschlungen gejubelt werden oder zu Rudelbildungen kommen.
Es könnte also verstärkt auf die Psyche jedes einzelnen Spielers ankommen, die neue Situation anzunehmen und in ihr so gut wie möglich sein Potential auszuschöpfen. Der BVB hat zumindest reagiert und die ohnehin geplante Verpflichtung des diplomierten Psychologen Philipp Laux, der 2002 als zweiter Torwart Meister mit Schwarzgelb wurde, vorgezogen. "Wir hatten auch in Nizza einen Psychologen, ich finde, das ist sehr gut und auch nötig", sagte BVB-Coach Lucien Favre. Laux war zuvor mehrere Jahre lang in gleicher Funktion beim FC Bayern, RB Leipzig und dem VfB Stuttgart angestellt und in letzter Zeit als Freiberuflicher unter anderem im Wirtschaftsbereich tätig. Dort hielt er Vorträge oder gab Coachings für Führungskräfte.
Würde Fischer derzeit eine ähnliche Aufgabe übernehmen, sähe er den wichtigsten Hebel darin, "den Spielern noch einmal genau bewusst zu machen, weshalb sie überhaupt bei ihrem Verein spielen". Den Profis dabei zu helfen, ihre intrinsische, also die von innen kommende Motivation zu schärfen, sei wichtig, um "sich selbst so zu motivieren, dass sie unabhängig sind von Dingen wie Zuschauer, Adrenalin oder Presse".
Coach Fischer: "Top-Spieler haben Spaß und wollen gewinnen"
Dass damit öfter gerade junge Spieler Probleme haben, liegt für Fischer auf der Hand: "Manche jungen Spieler haben einen riesigen Spaß am Kicken, aber spielen nicht immer, um zu gewinnen, sondern um gefeiert zu werden und das Adrenalin zu spüren. Die Top-Spieler dagegen haben Spaß am Fußball, aber wollen auch gewinnen."
Eine andere Lesart weg vom Thema Eigenmotivation wäre der Fakt, dass bei Geisterspielen externe Reize wie die Resonanz vom Publikum wegfallen. Für Profis sind die Reaktionen des Publikums enorm mit dem Fußball verknüpft. Dies könnte sich als Störfaktor herausstellen, weshalb der Einzelne nicht mehr Zugriff auf sein volles Potential bekommt. Es würde dann weniger aus motivationalen Gesichtspunkten schlicht darauf ankommen, wie die Spieler mit dieser neuen Lernerfahrung umgehen und deren Widerstände überwinden.
Auch Werder Bremen hat mit Mentaltrainer Jörg Löhr jemanden von außen ins Boot geholt. Fischer sieht den größten Vorteil vor allem in der Kurzfristigkeit, mit der ein Mentaltrainer Impulse bei Mannschaft und Spielern setzen kann. "Die Sportpsychologie ist aufgrund ihres Vorgehens eher dazu geeignet, langfristige Ziele zu verfolgen", sagt Fischer.
Psychologie als gleichgesetzter Teilbereich des Profifußballs
Der weitläufig verbreitete Glaube, es käme nun ein Guru zur Mannschaft, der sie wahlweise über Scherben laufen lässt oder mit Motivationsreden heiß macht, um die Köpfe frei zu bekommen, greift in jeder Hinsicht zu kurz. Sportpsychologie ist als interdisziplinäre Prozessarbeit zu verstehen, die im Zusammenspiel mit anderen Teilbereichen zur Leistungsentwicklung beitragen soll.
Denn es sind eben fünf und nicht vier Bereiche, die im Profifußball vorherrschen und idealerweise ineinandergreifen: Technik, Taktik, Athletik, Medizin und Psychologie. Derart gleichgesetzt muss der mentale Bereich auch bewertet werden. Schließlich kann ein Spieler psychisch voll auf der Höhe sein, wenn er es aber technisch oder taktisch nicht ist, wird er den ihm gestellten Anforderungen scheitern.
Für Laux und die Dortmunder wird es bis zum Derby darum gehen, die gemachten Erfahrungen von Paris zu thematisieren und Lerneffekte daraus abzuleiten. Beispielsweise nach dem Motto: Was kann jeder Einzelne in seiner Herangehensweise verändern? Was hat ihm zuvor in besonderen Situationen gutgetan? Denn es würde bei einem Kader von über 20 Spielern nicht verwundern, wären die Eindrücke aus Paris vielfältig und sehr individuell, möglicherweise auch abseits der Psychologie gelagert.
Klarere Hierarchien durch Geisterspiele?
Dieser Coachingprozess beginnt also erst, denn nach Geisterspiel Nummer zwei werden neue Eindrücke auf die BVB-Spieler eingeprasselt sein, die sich von denen aus Paris unterscheiden können. Entscheidend für alle - und das betrifft die gesamte Bundesliga - wird sein, die spezielle Situation zu akzeptieren. Das könnte sich als die höchste Kunst erweisen, denn es ist ja durchaus denkbar, dass es Geisterspiele auch in einem halben Jahr noch geben wird.
Fischer glaubt zudem fest daran, dass sich in den nächsten Wochen die Qualität des Einzelnen mehr herauskristallisieren wird. Und: "Es werden sich innerhalb der Mannschaften aus sich heraus klarere Hierarchien bilden, die nicht vom Trainer vorgegeben sind. Die Hierarchien, die von oben vorgegeben werden, sind ja oft ohnehin gar nicht die, die innerhalb der Kabine oder auf dem Platz gelebt werden."
Wer weiß, vielleicht stellt sich in diesem Sinne der voraussichtliche Ausfall der Dortmunder Defensivachse um Axel Witsel und Emre Can gegen Schalke gar nicht als schwerwiegend heraus?
BVB: Die nächsten fünf Bundesligaspiele von Dortmund
Heim | Auswärts | Datum |
Borussia Dortmund | FC Schalke 04 | 16.5.2020 |
VfL Wolfsburg | Borussia Dortmund | 23.5.2020 |
Borussia Dortmund | FC Bayern München | 27.5.2020 |
SC Paderborn 07 | Borussia Dortmund | 30.5.2020 |
Borussia Dortmund | Hertha BSC | 6.6.2020 |