Bodo Schmidt im Interview über die BVB-Meisterschaft 1995: "Es war der größte Rausch meiner Dortmunder Zeit"

Jochen Tittmar
17. Juni 202013:53
Bodo Schmidt spielte von 1991 bis 1996 für den BVB und gewann mit Dortmund 1995 und 1996 die Deutsche Meisterschaft.imago images
Werbung

Am heutigen 17. Juni jährt sich die BVB-Meisterschaft von 1995 zum 25. Mal. Ganze 32 Jahre musste Borussia Dortmund auf die vierte Deutsche Meisterschaft warten. Der Kampf um die Schale entschied sich damals nach einem dramatischen Saisonendspurt am letzten Spieltag. Dortmunds Innenverteidiger Bodo Schmidt erinnert sich.

Im Interview mit SPOX und Goal spricht der heute 52-Jährige über ein Weißbier für Klaus Augenthaler, seine ungewöhnliche Absage an Uli Hoeneß und das zunächst ergebnislose Probetraining beim BVB.

Schmidt blickt zudem auf den größten Rausch seiner Dortmunder Zeit, Julio Cesars Tränen und seine Verärgerung über den Transfer von Jürgen Kohler zurück.

Herr Schmidt, vor dem Blick in die Vergangenheit zunächst einer in die Gegenwart. Stimmt es, dass Sie seit kurzem nicht mehr Trainer Ihres Heimatvereins TSV Rot-Weiß Niebüll sind, bei dem Sie seit 2015 an der Seitenlinie standen?

Bodo Schmidt: Ja. Nach dem Saisonabbruch habe ich Ende Mai mein letztes Training geleitet und mit genügend Abstand unter freiem Himmel einen kleinen Abschied gefeiert.

Warum?

Bodo Schmidt: Der Fußball bestimmt mein Leben, seitdem ich klein bin. Direkt nach meinem Karriereende wurde ich zunächst Spielertrainer bei Flensburg 08 und war anschließend acht Jahre Coach des SV Frisia 03 Risum-Lindholm. Ich habe jetzt Verschleißerscheinungen erkannt und erhoffe mir, am Wochenende meine Zeit frei gestalten zu können. Ich sage niemals nie, aber erst einmal ist das mein Karriereende als Trainer.

Hauptberuflich arbeiten Sie seit 13 Jahren als Physiotherapeut und seit der Trennung von Ihrer Frau, die diesen Beruf auch ausübt, in einer eigenen Praxis in Niebüll. Wie sieht dort Ihr Alltag aus?

Bodo Schmidt: Ich arbeitete zuvor in der Praxis meiner Frau und bin nun seit Januar als gleichberechtigter Teilhaber bei einer selbständigen Kollegin eingestiegen. Es läuft gut, wir haben viel zu tun. Ich bin viele Stunden in der Praxis und behandele dort klassisch die Patienten. Das macht mir sehr viel Spaß.

Bodo Schmidt in seiner Zeit als Spieler der SpVgg Unterhaching.imago images

Wieso überhaupt Physiotherapeut?

Bodo Schmidt: Da ich nach meinem Abitur direkt zum FC Bayern gewechselt bin, habe ich nie eine herkömmliche Berufsausbildung absolviert. Nach dem Karriereende, ich hatte zwischenzeitlich zwei Kinder, wollte ich sesshaft werden und daher nicht im bezahlten Fußball bleiben. Meine Frau hatte sich als Physiotherapeutin selbständig gemacht und da mich die Ausbildung ohnehin sehr interessierte, habe ich das drei Jahre lang durchgezogen. So konnten wir anschließend auch gemeinsam arbeiten.

Dass Sie vor über 30 Jahren den Sprung in den Profifußball geschafft haben, verdanken sie einer heutzutage undenkbaren Geschichte: Aus Niebüll im hohen Norden Deutschlands verschlug es Sie 1987 zu den Amateuren des FC Bayern, da dort Fritz Bischoff Trainer wurde, unter dem Sie zuvor in der Landesauswahl von Schleswig-Holstein spielten. Wie groß war der Kulturschock in München?

Bodo Schmidt: Es war ein Unterschied wie Tag und Nacht. Ich habe in meinem Heimatort mit 10.000 Einwohnern in normalen Jugendmannschaften gespielt. Schleswig-Holstein ist eigentlich totales Brachland im Fußball, da kommt kaum einer heraus. Es war wie ein verrückter Traum, als ich damals zwei Sporttaschen in meine alte Karre gepackt habe und nach München gedüst bin. Ich war 19 und hatte mit dem Abitur in der Tasche rein gar nichts zu verlieren. Ich musste dort einfach nur gut kicken. Daher war mein Motto: Einfach mal drauf los und Gas geben.

Wie erging es Ihnen privat im neuen Umfeld?

Bodo Schmidt: Ich wohnte zunächst an der Säbener Straße und fand eine skurrile Mischung aus Leuten in meinem Alter vor, die aus den unterschiedlichsten Regionen Deutschlands kamen. Thomas Kastenmaier, der später viele Jahre in Gladbach spielte, war zum Beispiel mit dabei. Wir haben München unsicher gemacht, das kann man schon so sagen. Wir waren ja auch unbekannt und konnten die Vorzüge der Stadt genießen, vor allem die Biergartenmentalität. (lacht) Es war eine lustige Zeit, die nicht ausschließlich vom Fußball geprägt war. Vor allem war sie nicht so zielgerichtet. Ich hatte damals nicht fest im Kopf, dass ich jetzt unbedingt Fußballprofi werden müsste.

Sie liefen in der Bayernliga auf, die heute der 3. Liga entsprechen würde, wurden schnell Leistungsträger und durften bereits ein Jahr später bei den Profis unter Jupp Heynckes zusammen mit Spielern wie Lothar Matthäus trainieren. Mussten Sie sich da nicht häufiger kneifen, nachdem Sie zuvor lediglich in den Untiefen des Amateurfußballs unterwegs waren?

Bodo Schmidt: Einerseits schon, weil es eben sehr unwirklich war. Andererseits ist man schnell in den ganzen Abläufen drin, wenn man dort mittut.

Wie lief es damals bei den Profis ab?

Bodo Schmidt: Man wurde als Amateurspieler schnell auf den Fußboden zurückgeholt und in der Hierarchie klein gehalten. Oliver Gensch war ein leichtfüßiger Stürmer und hat dem Matthäus einmal einen Beinschuss verpasst. Danach lächelte er wohl etwas zu viel und wurde dann richtig vom Platz getreten, doch das wurde so akzeptiert. Es galt eben, sich zu beweisen und durchzusetzen. Das habe ich schnell kapiert und mich entsprechend gewehrt, was dann auch anerkannt wurde. Ich weiß auch noch, wie wir zu einem Freundschaftsspiel gefahren sind. Wir saßen mit dem Kopf nach unten in der letzten Reihe und wollten bloß nicht auffallen. Vorne hockte Klaus Augenthaler am Tisch der Kartenspieler und winkte irgendwie zu uns, bis ich merkte, dass er mich meinte. Ich ging hin und er sagte nur: 'Schenk' mir hinten in der Küche mal ein Weißbier ein.' Das habe ich dann gemacht und es ihm gebracht.

Ab wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie gute Chancen haben, Ihr Geld als Fußballprofi zu verdienen?

Bodo Schmidt: Im zweiten Bayern-Jahr. Die Nähe zu den Profis wurde größer und auch andere Vereine wurden auf mich aufmerksam. Alles ist für mich noch einmal viel präsenter geworden, so dass ich dachte, es wäre ja eigentlich schon ganz cool. Die SpVgg Unterhaching hat mich dann sehr intensiv bearbeitet und mir einen Profivertrag vorgelegt. Das war natürlich etwas sehr Besonderes. Auch Uli Hoeneß bot mir einen Profivertrag an, doch ich bin lieber zu Haching gegangen, weil ich Woche für Woche spielen wollte. Daraufhin meinte er: 'Das haben sich noch nicht so viele getraut.' (lacht)

Der Unterhaching-Wechsel geschah zur Saison 1989/90. Sie gaben beim damaligen Zweitligaaufsteiger Ihr Profidebüt, stiegen als Tabellenletzter allerdings direkt wieder ab und kickten dann noch eine Saison dort. Wie überrascht waren Sie, dass Ihnen anschließend der BVB ein Probetraining anbot?

Bodo Schmidt: Ich hatte trotz des Abstiegs eine ordentliche erste Saison gespielt und wurde bei den einschlägigen Rankings zu den Top-Verteidigern der Liga gewählt. Mein Mitspieler Edmund Stöhr, der lange Zeit für Hertha BSC spielte, machte dann gerade seinen Fußballlehrer - zusammen mit Edwin Boekamp und Michael Skibbe vom BVB. Den beiden hat er mich empfohlen und die dachten sich, dann gucken wir uns den doch mal an.

Sie kamen 1991 zum selben Zeitpunkt wie Ottmar Hitzfeld nach Dortmund. Das Vorspielen fand aber unter seinem Vorgänger Horst Köppel statt. Wie lief das ab?

Bodo Schmidt: Köppel war zwar noch Trainer, aber es war klar, dass er den Verein verlassen wird. Von Hitzfeld war aber noch keine Rede. Ich habe ein paar Tage mittrainiert und Köppel meinte, ich mache einen guten Eindruck, er könne aber keine Entscheidung mehr treffen. Als mich Co-Trainer Michael Henke nach einem Training zu meinem Hotel fuhr, sagte er lapidar: 'Eigentlich brauchen wir gar keinen Verteidiger.' Da dachte ich mir: Was mache ich hier eigentlich?

Die BVB-Neuzugänge zur Saison 1991/1992: Stephane Chapuisat, Wolfgang Homberg, Bodo Schmidt, Andreas Tewes und Trainer Ottmar Hitzfeld (von links).imago images

Und wie hat's dann doch noch geklappt?

Bodo Schmidt: Ich muss sagen, dass ich vor dem Training in Dortmund einen unterschriftsreifen Vertrag von Fortuna Köln vorliegen hatte. Ich sagte zum langjährigen Präsidenten Jean Löring allerdings, dass ich erst noch beim BVB mittrainieren möchte. Er gab mir eine Frist, bis wann ich mich zu entscheiden hatte. Letztlich trainierte ich in Dortmund einen Tag länger mit als geplant und nachdem die dort keine Entscheidung treffen konnten, rief ich Löring an und sagte zu.

Zu spät?

Bodo Schmidt: Er entgegnete trocken: 'Deine Frist ist gestern Abend um Mitternacht abgelaufen - jetzt haben wir acht Uhr morgens. Mit solchen Leuten arbeite ich nicht, hier kriegst du keinen Vertrag.' Zwar wollte mich Haching unbedingt behalten, aber plötzlich hatte ich eigentlich gar nichts. Als Hitzfeld schließlich BVB-Trainer wurde, war Stephane Chapuisat sein absoluter Wunschspieler. Und dann griff sozusagen die damalige Ausländerregel. Der BVB hatte in Flemming Povlsen und Sergej Gorlukowitsch bereits zwei im Kader und mehr durften nicht in der Startelf stehen. Da Gorlukowitsch Verteidiger war, hieß es eben: Da war doch noch der Typ aus Unterhaching. (lacht)

Bodo Schmidt: Seine Karriere als Profi im Überblick

VereinZeitraum
TSV Rot-Weiß Niebüllbis 1985
TSB Flensburg1985-1986
TSV Rot-Weiß Niebüll1986-1987
FC Bayern München Amateure1987-1989
SpVgg Unterhaching1989-1991
Borussia Dortmund1991-1996
1. FC Köln1996-1998
SCB Preußen Köln1998
1. FC Magdeburg1998-2002
Flensburg 082002-2005

Auf einmal waren Sie Profi in der Bundesliga. Fühlte sich das trotz der Vorerfahrungen noch unwirklich an?

Bodo Schmidt: Es ging echt rasend schnell für mich. Natürlich dachte ich häufig, wie das alles nur passieren konnte. Wenn man auf dieser Ebene aber Bestandteil ist, wird einem schnell beigebracht: Wer nicht alles gibt, fliegt raus. Ich war total motiviert, auch weil der BVB rein stimmungstechnisch eine ganz andere Nummer als der FC Bayern war. Dort herrschte Leidenschaft über alle Maßen. Der damalige Manager Michael Meier sagte zu mir vorab: 'Wer hier einen Vertrag unterschreibt, der muss sich darüber im Klaren sein, dass er immer Borusse bleibt, sobald er einmal Borusse geworden ist. Das ist hier eine Religion.' Und das stimmte.

Ihre Zeit bei der Borussia ging direkt gut los: Am ersten Bundesligaspieltag 1991/92 standen Sie gegen Karlsruhe bereits in der Startelf.

Bodo Schmidt: Vor dem Spiel ging ich abends zu Masseur Hannes Weinheimer und fragte, ob er mich noch einmal durchkneten kann. Der war ganz entrüstet und sagte: 'Hömma zu, mein Junge, erstmal muss man hier mitspielen, dann kann man auch durchgeknetet werden.' Ich ging dann wieder auf mein Zimmer zurück. Nächsten Tag beim Frühstück erklärte mir Hitzfeld, dass ich von Anfang an spiele. Am Mittag kam dann der Masseur zu mir gerannt und entschuldigte sich, auch wenn weder er noch ich am Vorabend wussten, was Sache ist.

Anschließend schafften Sie es viermal nicht in den Kader, ehe am 6. Spieltag gegen Dresden Ihr zweites Spiel und prompt das erste Tor als Profi folgte - und das als Einwechselspieler in nur 13 Minuten Spielzeit. Wie erinnern Sie sich an diesen Treffer zum 4:0-Endstand?

Bodo Schmidt: Das war natürlich ein Highlight. Ein paar Tage vorher war ich stolz wie Oskar, ein Bundesligaspiel gemacht zu haben und auf einmal war ich sogar noch Torschütze. Ich habe den Ball unfassbar gut getroffen, er ging genau in den Winkel.

Im September 1992 debütierten Sie zudem auf internationalem Parkett beim Auswärtsspiel gegen den FC Floriana auf Malta - ein weiterer Meilenstein Ihrer Karriere?

Bodo Schmidt: Genau, es war mein erstes Spiel im Ausland. Die Bedingungen waren absolut katastrophal, wir mussten auf einer ausgetrockneten Wiese kicken. Was ich vor allem aber damit verbinde: Dort wurde der Bodo-Schmidt-Fanklub gegründet! Ein paar mitgereiste Fans hatten mich vor dem Mannschaftshotel abgefangen, sich vorgestellt und mir erklärt, dass sie mich ganz gut finden. Den Fanklub gab es jahrelang. Wir haben das auch gepflegt und ich habe sie zum Beispiel auf Weihnachtsfeiern besucht.

Nach 14 Pflichtspielen in der ersten Saison steigerten Sie sich im nächsten Jahr deutlich und kamen auf 43 Partien - inklusive des nach Hin- und Rückspiel verlorenen UEFA-Cup-Finals gegen Juventus Turin 1993. Wie kam es, dass Hitzfeld so verstärkt auf Sie setzte?

Bodo Schmidt: Er hat immer Wert auf eine gesunde Mischung verschiedener Spielertypen in seinen Kadern gelegt. Wir haben auch risikoreich nach vorne gespielt. Später dann mit Matthias Sammer, der überall auf dem Feld war, aber nie dort, wo er eingeteilt wurde. Hitzfeld schätzte an mir, dass ich den Künstlern den Rücken frei gehalten habe. Ich war wenig verletzt und habe mich in alle Zweikämpfe geworfen. Diese konstante Widerstands- und Durchsetzungsfähigkeit war sicherlich meine größte Stärke.

In der darauffolgenden Saison erlebten Sie schließlich Ihr persönlich erfolgreichstes Jahr, an dessen dramatischem Ende nach 32 Jahren Pause die vierte Deutsche Meisterschaft für den BVB stand. Sie kamen auf die drittmeisten Einsätze im Kader, machten alle Ihre 30 Partien von Beginn an und standen davon 28 Mal über die vollen 90 Minuten auf dem Platz.

Bodo Schmidt: Das war wirklich eine traumhafte Saison von uns und von mir. Ich war topfit, hatte mir meinen Platz erarbeitet und konnte mich auch meiner Konkurrenten erwehren. Uns kam dazu zugute, dass wir meist mit derselben eingespielten Mannschaft auflaufen konnten.

Als Innenverteidiger traten Sie offensiv weniger in Erscheinung. Allerdings konnte sich Ihre einzige Torbeteiligung in dieser Saison sehen lassen: Es war die Vorlage zum 3:2-Siegtreffer von Andreas Möller im Derby gegen Schalke - mit einem starken Pass in die Gasse. Werner Hansch kommentierte damals: "Bodo Schmidt - was macht der denn da vorne?"

Bodo Schmidt: Das hatte ich später auch mitbekommen. Hansch war bei uns nicht der Beliebteste, denn er war immer so ein verkappter Schalke-Fan. Ich habe in diesem Derby eigentlich gar kein gutes Spiel gemacht und auch ein Gegentor mitverschuldet. So läuft es im Fußball aber: Mal gelingt dir etwas Gutes, mal bist du der Mops. Manchmal selbst innerhalb eines Spiels.

Apropos Möller: Dessen sogenannte "Schutz-Schwalbe" im Spiel gegen den KSC am 26. Spieltag war nicht nur der Grund, weshalb der BVB diese Partie noch in einen Sieg drehen konnte, sondern löste auch eine große Kontroverse aus. Sie standen damals nicht im Kader. Wie haben Sie das Spiel verfolgt?

Bodo Schmidt: Wie mir gerade auffällt, weiß ich dazu leider viel zu wenig. Das tut mir leid. Ich war auf jeden Fall im Stadion und sah die Szene irgendwo unten im Innenraum, vermutlich in der Nähe der Bank. Das fällt mir jetzt noch dazu ein. Und natürlich, dass anschließend ein großer und tagelanger Aufruhr in der Presse herrschte. Möller hatte in Spielerkreisen ohnehin den Ruf, schnell zu fallen und wehleidig zu sein. Für uns war er ein ausgezeichneter Spieler - und bis heute ja auch der einzige, der wegen einer Schwalbe gesperrt wurde.

Dortmund sicherte sich in dieser Saison souverän die Herbstmeisterschaft vor Konkurrent Werder Bremen. Doch in der Rückrunde kamen zwischen dem 20. und 29. Spieltag nur noch drei Siege zustande, so dass es noch einmal unglaublich spannend wurde. Zu allem Überfluss riss sich Top-Torjäger Chapuisat vor dem 22. Spieltag nach einem Trainingsfoul von Co-Trainer Henke das Kreuzband. Was war da geschehen?

Bodo Schmidt: Echt? Das ist ja krass. Auch das habe ich beim besten Willen nicht mehr im Kopf. Ich weiß nur noch, dass Henke im Training immer wieder mitmachte und ich ihm einmal einen Bänderriss bescherte habe. Chappis Saisonaus war ein schwerer Schlag für uns alle. Er war ein unglaubliches Schlitzohr vor dem Tor und einfach ein Typ, den jeder mochte.

Sie haben sich mit ihm in Ihrer gesamten fünfjährigen BVB-Zeit ein Zimmer geteilt. Er galt als sehr schüchterner und zurückhaltender Zeitgenosse. Wie haben Sie ihn quasi in den eigenen vier Wänden erlebt?

Bodo Schmidt: Wir landeten per Zufall auf demselben Zimmer, weil wir zeitgleich zum Verein kamen. Im Hotel haben wir zwei häufig mit Povlsen und Stefan Reuter Karten gespielt. Chappi war wirklich sehr ruhig und höflich. Es war aber ein riesiger Unterschied, wenn er auf dem Platz stand. Dort war er richtig unangenehm, hat sich immer gewehrt und mit allen Tricks gearbeitet. Ein ziemlich ekliger Stürmer für die Gegenspieler.

Nachdem der BVB das als meisterschaftsentscheidend deklarierte Auswärtsspiel am 29. Spieltag in Bremen 1:3 verlor und von nun an nur noch Zweiter war, ging vor dem 31. Spieltag auch bei Chapuisats Stürmerkollegen Karl-Heinz Riedle das Kreuzband kaputt. Der Babysturm um Lars Ricken und Ibrahim Tanko war geboren. Das Dortmunder Umfeld hatte daraufhin fast alle Hoffnungen begraben. Glaubten Sie noch an den Titel?

Bodo Schmidt: Klar. Das waren eindeutig Rückschläge, aber wir waren ja so nahe dran und blieben alle sehr auf das Ziel fokussiert. Dazu waren Ricken und Tanko hoch gehandelte und begabte Spieler. Wir waren psychisch stabil, hatten zuvor schon eine starke Mentalität bewiesen und den Siegeswillen in uns. Auch nach Rückständen sind wir einige Male zurückgekommen. Ich glaube, dass uns diese beiden Negativerlebnisse vielleicht sogar noch einen Tick stärker gemacht haben.

Bodo Schmidt: Seine Karriere als Trainer im Überblick

VereinZeitraum
Flensburg 082005-2007
SV Frisia 03 Risum-Lindholm2007-2015
TSV Rot-Weiß Niebüll2015-2020

Der BVB kam am 31. und 32. Spieltag jeweils nur zu einem Unentschieden und lag am 33. Spieltag beim späteren Absteiger Duisburg bereits 0:2 zurück, ehe man die Partie noch drehte und 3:2 gewann. Waren Sie nach dem 2:0 des MSV in der 51. Minute auch noch psychisch stabil?

Bodo Schmidt: Das war definitiv ein Schockmoment. Ich habe im Laufe meiner Karriere gemerkt, dass dies genau der Unterschied ist: Wenn du unten drin stehst und 0:2 zurückliegst, dann bekommst du das kaum noch gedreht. Stehst du oben, glaubst du noch dran - und so war es bei uns. Das war für mich noch eher das Meisterstück als das letzte Spiel gegen Hamburg.

In dieses ging man mit einem Punkt Rückstand auf Werder. Bremen spielte in München, wo SVW-Trainer Otto Rehhagel in der darauffolgenden Spielzeit anheuerte. Werder verlor 1:3, Dortmund schlug den HSV mit 2:0 - und war tatsächlich Meister. Wie war's?

Bodo Schmidt: Es herrschte vor dem Anstoß eine riesige Anspannung und Erwartung. Unsere frühen Tore kamen daher einer Erlösung gleich. Wir wurden nicht explizit informiert, da die Stimmung aber immer großartiger und ausgelassener wurde, wussten wir, dass es in München wie gewünscht läuft. Nach dem Schlusspfiff brachen dann im Wortsinne alle Dämme. Das war einer der unvergessenen Momente meines Lebens.

Bei der Übergabe der Meisterschale war der Rasen des Westfalenstadions voller Menschen. Wie lange hat es gedauert, bis Sie in der Kabine waren?

Bodo Schmidt: Ich glaube, wir waren vor der Ehrung einmal kurz in der Umkleide, um uns vor den Massen zu retten. Ich erinnere mich, dass Julio Cesar im Kabinentrakt saß und Tränen des Glücks weinte. Kurz darauf wurden dann Freiräume im Stadion geschaffen und wir sind wieder herausgekommen. Als schließlich die Schale in die Höhe gereckt wurde, war die Ordnung wieder dahin und es ging drunter und drüber. Daher waren wir auch relativ schnell wieder in der Kabine.

Am nächsten Tag fuhr die Mannschaft mit einem Truck durch die Stadt und wurde von 500.000 glückseligen Fans bejubelt. Wie sah denn das Programm nach Schlusspfiff genau aus?

Bodo Schmidt: Wir haben erst sehr lange in einem Dortmunder Hotel gefeiert und sind danach noch durch die Stadt gezogen. Die Nacht war sehr kurz, denn wir mussten am Sonntag ziemlich früh wieder am Treffpunkt sein. Es hat dann etwas gedauert, bis man wieder frisch war. Doch die Begeisterung, die in allen Poren der Stadt zu spüren war, hat einen wach gehalten. Wir haben insgesamt zwei, drei Tage nur gefeiert, am Ende ist man komplett kaputt ausgespuckt worden. Es war der größte Rausch meiner Dortmunder Zeit. (lacht)

Sie waren in dieser Saison im Dezember 1994 auch Teil eines weiteren legendären Westfalenstadion-Moments. Im Achtelfinal-Rückspiel des UEFA-Pokals gegen Deportivo La Coruna bereiteten Sie in der 119. Minute das entscheidende 3:1 vor, das seitdem ausschließlich mit Torschütze Lars Ricken verbunden wird. Wie denken Sie daran zurück?

Bodo Schmidt: Nach dem Spiel herrschten unglaubliche Emotionen. Da bekomme ich jetzt noch eine Gänsehaut. Wir hatten ja noch in der Verlängerung den Ausgleich bekommen und erst in der 116. Minute das 2:1 erzielt. Ich weiß noch, wie Sammer anschließend vor Freude wie ein Wildgewordener über den Platz rannte. Mir ist später noch voller Euphorie ein Malheur passiert. Als ich in der Nacht nach Hause fahren wollte, bin ich unserem Vereinsarzt am Stadionparkplatz ins Auto gefahren. 'Scheißegal, das klären wir die Tage mal', sagte der nur. (lacht)

Sie sind kurz vor dem entscheidenden Treffer noch mit einem Gegenspieler aneinandergeraten, weil dieser bei einem Freistoß von Sammer keinen Abstand hielt. Sekunden später luchsten Sie genau diesem Gegenspieler den Ball ab, wurschtelten sich an vier, fünf Leuten vorbei und jubelten bereits, noch bevor Ricken Ihre Vorlage im Tor untergebracht hatte. Haben Sie die Szene noch im Kopf?

Bodo Schmidt: Natürlich. Mein Pass auf Lars war auch gewollt - sogar sehr gewollt! Selbst wenn mir das nur wenige aus der Mannschaft abgenommen haben. Dass ich schon gejubelt habe, lag wohl einfach daran, dass Lars eben immer so kaltschnäuzig im Abschluss war.

Eine Spielzeit nach der Meisterschaft kamen Sie dann zwar zu Ihrem Debüt in der Champions League und dem nächsten Gewinn der Schale, aber nur noch auf 23 Pflichtspiele. Neuzugang Jürgen Kohler übernahm Ihren Platz. Dabei wurde Ihnen offenbar versprochen, dass er gar nicht nach Dortmund wechseln würde. Was war da los?

Bodo Schmidt: Ich hatte Manager Meier gefragt, was an den Gerüchten dran sei. Er meinte, es gäbe zwar den Gedanken, aber das sei jetzt eigentlich alles vom Tisch und würde nicht passieren. Darauf habe ich mich verlassen, bin in den Urlaub gefahren und habe dort von diesem Transfer erfahren. Ich war natürlich enttäuscht und verärgert, was ich auch kundgetan habe. Meier hat sich dafür auch entschuldigt und gesagt, er habe das nicht kommen sehen. Das habe ich ihm abgenommen, weil er ein sehr ehrlicher Mensch ist. Präsident Gerd Niebaum war wohl sehr engagiert, was diesen Wechsel betraf. Meier gab mir dann sein Wort, dass ich die Freigabe bekomme, wenn ich wechseln möchte. Kohler war ein super Typ und Nationalspieler. Deshalb war klar, dass er spielen muss und wird. Es war schwer für mich, gegen ihn anzukommen. Und da sich das so entwickelte, war ich eine Saison später durchaus wechselwillig.

1996 gingen Sie schließlich für zwei Jahre zum 1. FC Köln. Nach einem Intermezzo beim nordrheinischen Oberligisten SCB Preußen Köln unterschrieben Sie Ende 1998 für vier Jahre beim Regionalligisten 1. FC Magdeburg und nach dem Zwangsabstieg des FCM ließen Sie ab 2002 Ihre Karriere in der Heimat bei Flensburg 08 ausklingen. Wie sieht heute Ihr Kontakt zum BVB aus?

Bodo Schmidt: Zu ehemaligen Mitspielern besteht so gut wie kein Kontakt mehr, ich bin ja hunderte Kilometer entfernt. Deshalb war ich auch eine ganze Zeit schon nicht mehr im Stadion. Das werde ich in der kommenden Saison aber mal sein, weil ich es einem Bekannten versprochen habe. Dortmund ist ein Teil meiner Vergangenheit, der schon sehr lange zurückliegt und das ist für mich okay so. Ich bin aber sehr an den Spielen des BVB interessiert.

Über zwei Besonderheiten müssen wir noch sprechen: In Dortmund wird man Ihren Namen nicht nur aufgrund der damaligen Erfolge nicht so schnell vergessen, sondern auch wegen einem in Anführung legendären Foul an Leverkusens Stürmer Ulf Kirsten im Februar 1994. Sie traten ihn in Höhe der Mittellinie geradezu in den Spielertunnel, wo er über einen Gullydeckel rutschte, sich das Bein aufriss und schwer verletzte.

Bodo Schmidt: Auf diese Szene bin ich sehr lange angesprochen worden. Das Tragische an diesem Zweikampf an der Außenlinie war, dass der Ball zuvor bereits knapp im Seitenaus war. Das habe ich aber nicht gesehen und das Tackling daher durchgezogen. Kirsten hatte schon abgeschaltet und nicht mehr damit gerechnet, dass ich ihn gleich seitlich ummähe. Er musste anschließend ins Krankenhaus, das tat mir unheimlich leid. Wir haben am nächsten Tag miteinander telefoniert und er hat meine Entschuldigung angenommen. Er war ein Spieler, der selbst auch unheimlich viel ausgeteilt hat, daher konnte man da gut mit ihm reden.

Und: Sie haben einmal verraten, dass Sie auf Mannschaftsfotos immer ganz rechts in der oberen Reihe standen, damit Sie schneller mit dem Autogramme schreiben fertig waren. Wie kamen Sie darauf?

Bodo Schmidt: Durch Thomas Helmer. Er hatte mir gezeigt, wie viel Zeit er damit sparte. Er musste die Plakate immer nur oben rechts am Knick packen und dann wegnehmen und unterschreiben, wegnehmen und unterschreiben. Als er den Verein nach meiner ersten Saison verließ, habe eben ich mich dort oben hingestellt. (lacht)