Was wohl alle Nicht-Fußball-Fans mit Köpenick verbinden, ist der gleichnamige Hauptmann. Der gab bekanntlich vor, etwas anderes zu sein, als er in Wirklichkeit war und kam damit lange durch. Auch beim aktuellen Aushängeschild des Berliner Stadtteils Köpenick, dem Bundesligisten Union Berlin, haben immer mehr Menschen den Eindruck eines Etikettenschwindels.
Bis zum Frühjahr galt der Traditionsverein als Kult-Klub, der gegen den Strom schwimmt, die Profi-Blase kritisch sieht und sich für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft einsetzt. "Abgrenzung gehört im Fußball dazu", erklärte Präsident Dirk Zingler diesen Kurs.
Schon in der DDR galt die Alte Försterei als Treffpunkt regimekritischer Fußball-Fans, darunter auch Punks und Skinheads. Identitätsstiftend war die klare Abgrenzung zu Rekordmeister und Stasi-Klub BFC Dynamo, ein bekannter Sprechchor damals lautete: "Lieber ein Verlierer sein als ein dummes Stasi-Schwein."
Union Berlin: Blutspenden, Stadionausbau, Weihnachtssingen
Nach der Wende stand Union mehrmals vor dem Konkurs, doch die treuen Anhänger retteten die Eisernen mit zahlreichen, teilweise spektakulären Aktionen. Beispielsweise "Fünf Mark für Union", "Blutspenden für Union" oder dem eigenhändigen Ausbau des Stadions 2009 durch rund 2000 ehrenamtliche Helfer. Legendär auch das traditionelle Weihnachtssingen von rund 30.000 Menschen in der Alten Försterei.
Politisch bezog der Verein ebenfalls regelmäßig klar Stellung, öffnete etwa in der Flüchtlingskrise sein Vereinsheim als Unterkunft. Und die Eisernen kämpften in ihrer Lieblingsrolle als Underdog immer wieder für mehr Gerechtigkeit durch Forderungen nach Gehaltsobergrenzen und gleichmäßige Verteilung der TV-Gelder. Wohl kaum jemand, der den Unionern den sensationellen Bundesliga-Aufstieg 2019 nicht gönnte. Doch dann kam Corona.
Seitdem irritieren die Union-Verantwortlichen den Rest der Liga und bringen die ohnehin große Zahl derer, die eine Sonderrolle des Fußballs in der Pandemie beklagen, noch weiter gegen sich auf. Angefangen mit dem beinahe starrsinnigen Versuch, das Heimspiel gegen den FC Bayern Mitte März trotz der rasant wachsenden Infektionszahlen unbedingt vor vollem Haus spielen zu wollen, während sich der Rest der Liga schon zähneknirschend auf Geisterspiele eingelassen hatte. Erst ein behördliches Verbot konnte dieses Hochrisikospiel verhindern, doch Klubboss Zingler blieb bei seiner Meinung. Das Spiel gegen den Rekordmeister wurde schließlich nach dem Ende der Corona-Unterbrechung als erstes Geisterspiel Unions ausgetragen.
Union Berlin: Komplette Zuschauer-Rückkehr trotz Corona geplant
Schon kurz nach dem seinerzeit höchst umstrittenen Bundesliga-Restart Mitte Mai sprach sich Zingler vehement und mehrfach für eine rasche Rückkehr der Zuschauer aus, allerdings nach Ansicht von Virologen mit unrealistischen Vorschlägen. So wollte Union sämtliche Abstandsregelungen außer Kraft setzen und schon zu Saisonbeginn alle 22.012 Plätze in der Alten Försterei ohne Masken und Abstandsregeln freigeben, was durch die Schnelltestung aller Fans ermöglicht werden sollte. Der (bewusste?) Gedankenfehler dabei war, dass ein einzelner Test bei einer Inkubationszeit von mehreren Tagen wertlos ist und Testkapazitäten in dieser Masse nicht zur Verfügung stehen, weil sie unter anderem in Altenheimen und Krankenhäusern wirklich benötigt werden.
Auffällig ist auch ein bislang recht sorgloser Umgang mit den Corona-Gefahren bei den Eisernen. Dass die nach wir vor in Berlin (und nur dort) gültige Obergrenze von 5000 Zuschauern bei Freiluftveranstaltungen für die eigenen Heimspiele bisher weitgehend komplett ausgereizt wurde, verwundert da kaum noch.
"Wir haben ja niemanden aufgefordert, zu singen"
Auch gegen das nach der Berliner Infektionsschutzverordnung seit Anfang Oktober geltende Verbot von Gesängen und Sprechchören wurde mindestens im Testspiel gegen Hannover wenige Tage später verstoßen, gleichwohl wies Union als Hausherr die Zuschauer mit fadenscheinigen Argumenten nicht darauf hin. "Wir haben ja niemanden aufgefordert, hier zu singen", erklärte Christian Arbeit, Geschäftsführer, Presse- und Stadionsprecher des Vereins, dem RBB. Eine Bestrafung blieb dennoch aus, vielmehr zeigte sich der beim Spiel anwesende Hygienereferent des Gesundheitsamtes "besonders beeindruckt" vom Verhalten der Fans.
So fühlt sich die Union-Führung offenbar bestätigt und sieht sich in einer Vorreiterrolle, wie Klubboss Zingler vor einigen Wochen meinte: "Unsere Stadt verliert ihr Gesicht und ihre Kraft, wenn nahezu der gesamte Veranstaltungsbetrieb dauerhaft brachliegt. Wir sind Teil dieser Branche und sehen uns in der Pflicht, aktiv und mit ganzer Kraft nach sicheren Wegen zur Rückkehr in einen wirtschaftlichen Betrieb zu suchen."
Union blendet mögliche Kollateralschäden aus
Da verwundert es nicht, dass die Köpenicker auch jetzt, wo sich Berlin zum Corona-Hotspot entwickelt hat, so lange wie möglich vor so vielen Fans wie möglich spielen wollen und dabei mögliche Kollateralschäden offensichtlich ausblenden. Der beinahe mantraartige Hinweis, dass bei Fußballspielen unter freiem Himmel noch keine massiven Infektionsausbrüche nachgewiesen wurden, ist auch nicht korrekt. Einerseits fehlen dazu bisher jegliche Untersuchungen, andererseits gelten mindestens die Champions-League-Partien im März zwischen Bergamo und Valencia sowie Liverpool und Atletico Madrid als Superspreader-Events mit gravierenden Folgen.
Dass ein solches Szenario trotz strenger Maskenpflicht nun auch bei der Partie am Samstag zwischen Union und dem SC Freiburg drohen könnte, liegt aber keineswegs nur an der Sturheit von Union Berlin. Verantwortlich sind auch das Land Berlin, die Deutsche Fußball-Liga und schließlich der Bezirk Treptow-Köpenick. So hätte die Landespolitik angesichts einer 7-Tage-Inzidenz von 114,8 am Freitag mit rasch steigender Tendenz schon längst die Erlaubnis für Freiluftveranstaltungen mit bis zu 5000 Menschen zurückziehen, reduzieren oder klarer regeln müssen. Stattdessen spricht die Senatsverwaltung für Inneres und Sport lediglich von einem "falschen Signal" und erklärte der dpa: "Von der Innen- und Sportverwaltungsseite haben wir da keine Handhabe."
Union ignoriert bei Zuschauern den Leitfaden der DFL
Die DFL wiederum hat sich seit Saisonbeginn ebenfalls aus der Verantwortung gestohlen, denn der Dachverband besitzt natürlich die Oberhoheit über Spielabsetzungen. Zudem ignoriert Union den von allen 36 Klubs verabschiedeten Hygiene-Leitfaden. Demnach wären bei einer Inzidenz bis 35 maximal 4100 Besucher in der Alten Försterei erlaubt (und nicht 5000) und bei einer 7-Tage-Inzidenz über 35 gar keine Zuschauer mehr zulässig - selbst im nicht ganz so stark betroffenen Köpenick lag der Wert am Freitag bei 56,3. In den meisten anderen Bundesliga-Standorten sind die Zahlen niedriger als in der Hauptstadt, dennoch wird dort höchstens vor Mini-Kulissen gespielt.
In Treptow-Köpenick hingegen hat die lokale Behörde das überarbeitete Hygienekonzept der Eisernen genehmigt. Das zuständige Amt für Gesundheit und Umwelt wird von einem Stadtrat der AfD geleitet. Das ist die Partei, die die Schutzmaßnahmen für maßlos übertrieben hält, deren führende Vertreter Demonstrationen gegen die Coronapolitik unterstützen und die in zahlreichen Parlamenten absichtlich Vorsichtsmaßnahmen ignoriert.
Das Wegducken der übergeordneten Ebenen ändert aber nichts daran, dass Union in der Pandemie ein ganz schlechtes Bild abgibt. Denn nicht alles, was erlaubt ist, ist auch richtig. Und hier geht es nicht um Dinge wie legale Steuertricks, sondern wirklich um Leben oder Tod. Angesichts der dramatisch steigenden Infektionszahlen werden die Appelle von Politikern und Medizinern immer lauter, die Zahl der Kontakte maximal zu reduzieren. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) gab zuletzt zu, dass Berlin ein neuer Lockdown drohen könnte. Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalacyi (SPD) rief auch konkret Fußballfans auf, möglichst auf einen Besuch im Stadion zu verzichten.
Union aber schweigt zur Frage der moralischen Verantwortung. Und betreibt stattdessen ein Spiel mit dem Feuer. Am Samstag wird schließlich nicht nur die Gesundheit der Berliner gefährdet, sondern auch die Zukunft des Profifußballs. Denn eine vermutlich längere Unterbrechung des Spielbetriebs, die ein potenzieller Superspreader-Event in der Alten Försterei beschleunigen könnte, würden die meisten Vereine wirtschaftlich nicht überleben.