Dieser Artikel wurde im Oktober 2020 veröffentlicht.
Außerdem beantwortet Mislintat die Frage, warum er sein Schicksal in gewisser Weise mit dem von Coach Pellegrino Matarazzo verknüpft hat.
Dazu verrät er die Geschichte hinter der Entdeckung von Wataru Endo.
Weitere Themen: Die Abwägung zwischen der Verpflichtung ausländischer Talente und der Förderung der eigenen Nachwuchsspieler, die Orientierung an den jungen Wilden und am magischen Dreieck und sein persönlicher Karriereplan.
Herr Mislintat, können Sie sich noch an Ihre erste Spielanalyse erinnern?
Sven Mislintat: Klar. Das war am ersten Spieltag der Saison 2000/2001. 20 Jahre ist das jetzt her, da war ich 27 Jahre alt. Werder Bremen schlug Energie Cottbus im Weserstadion 3:1. Paul Stalteri war in seinem ersten Profi-Einsatz einer des Besten auf dem Feld und erzielte ein Tor. Das war damals das erste Spiel, das ich selbst gefilmt und danach für Werder-Coach Thomas Schaaf die Analyse geschnitten habe.
Sie haben an der Uni Bochum Sportwissenschaften studiert. Wie sind Sie damals in das Thema Videoanalyse hineingerutscht?
Mislintat: Der inzwischen leider verstorbene Gustl Wilke, eine echte Handball-Ikone, war Dozent an der Uni. Er hat damals für die Dortmunder Handball-Damen die Gegner aus Osteuropa analysiert, noch schön alles auf Videokassetten. (lacht) Da Wilke mit Ottmar Hitzfelds langjährigem Co-Trainer Michael Henke studiert hatte und ihn kannte, kam der Kontakt zum Fußball zustande. Die entscheidende Idee war, das Spielfeld immer so abzubilden, dass man mit einem Weitwinkel Zehn gegen Zehn filmte, um alle taktischen Abläufe und Formationen erkennen zu können. Ein absolutes Novum zu der Zeit und nun als das sogenannte Scouting Feed bekannt, welches bis heute alle nutzen und das selbstverständlich geworden ist. Dadurch, dass wir damals eine Art Monopol auf eine solche Taktikkamera im Stadion hatten, war der Erfolg extrem. Es hat riesigen Spaß gemacht, in jungen Jahren da dabei sein zu dürfen - und mit so vielen der damals absoluten Toptrainer und Topmanager gearbeitet zu haben und wertvolle Einblicke und Erfahrungen sammeln zu können.
Zwölf Jahre später haben Sie das Start-up Matchmetrics mitgegründet und sich noch viel intensiver mit dem Thema Datenanalyse im Fußball befasst. Das Moneyball-Prinzip von Billy Beane wurde in gewisser Art und Weise aus dem Baseball in den Fußball gebracht. Was war der Gedanke dahinter?
Mislintat: Ich kannte natürlich Billy Beanes Geschichte, auch bereits vor dem Film. Auch ich war sehr früh der Überzeugung, dass Daten, hier im Fußball eine ganz wichtige zusätzliche Perspektive bieten könnten, um Spiele und Spieler zu bewerten, war aber nie wirklich zufrieden mit den Standardstatistiken. Sind Leistungen im Baseball aufgrund seiner Spiel- und Ablaufstruktur statistisch eindeutig zu kategorisieren und zu beschreiben, ist dies im Fußball mit seinen Freiheitsgraden und nahezu unendlichen Interaktionsmöglichkeiten der Spieler viel, viel schwieriger. Die Gründung bzw. zuerst der fast dreijährige Weg davor ist genau aus dieser alltäglichen Unzufriedenheit entstanden. Der Antrieb war und ist es bis heute, die hochwertigsten und aussagekräftigsten Daten für meine Arbeit zur Verfügung zu haben. Die initiale Absicht war es aber nicht, zu gründen, sondern mit und für den BVB zu entwickeln.
"Mir geht es in erster Linie um Waffen und Persönlichkeit"
Was woran scheiterte?
Mislintat: Es scheiterte kurz und knapp erläutert daran, dass unser Modell einen Spieler für die Topelf der Bundesliga ausgab, den Borussia Dortmund ausgeliehen hatte und dem man diese sehr hohe Qualität nicht zuschrieb. Statt das Modell und dieses Ergebnis besser verstehen zu können und es im Dialog und mit der Hilfe des BVBs weiter verbessern zu können, standen wir vor der Wahl, weiterzumachen oder aufzugeben. Ich entschied mich zuerst, meinem Partner Michael Markefka, der die ursprüngliche Idee für das Model und das Tool hatte, meine besten Kontakte aus dem Business an die Hand zu geben, damit er versuchen konnte, einen anderen Klub für sich und eine weitere Zusammenarbeit zu gewinnen. Als Michael nach mehreren Terminen völlig desillusioniert zurückkam, kam das erste Mal die Idee, es komplett selbst zu machen. So gründeten wir, investierten unser eigenes Geld und dann ging es los: klassisch in der Garage, wie man sich es bei einem Start-up so vorstellt. Aus heutiger Sicht war dieser Weg ein Glücksfall. Denn die Haupttools der Matchmetrics mit Matcheye zur passgenauen, individuellen Datenerhebung und dem Scoutpanel für die Spielerevaluierung neben meinen Jobs selbst mit entwickelt zu haben, beschreibt und macht einen Teil meiner heutigen Fähig- und Fertigkeiten aus. Und - nicht ganz unwichtig - deren Anwendung sind Teil meiner täglichen Arbeit und lieferten genau die fehlende objektive Perspektive, die ich zusätzlich suchte.
Was sind für Sie heute die wichtigsten Kriterien? Auf was schauen Sie bei jedem Transfer?
Mislintat: Mir geht es in erster Linie um zwei Aspekte: Waffen und Persönlichkeit.
Dann lassen Sie uns das doch mal auf die jüngsten VfB-Transfers übertragen. Momo Cisse und Naouirou Ahamada. Was macht diese Jungs besonders?
Mislintat: Bei Momo Cisse war es so, dass ich ihn zufällig das erste Mal live gesehen habe bei einem Spiel der U19 von Le Havre, welches ich am Tag vor einem Ligue-1-Spiel mitgenommen habe, weil es in den Kalender passte. Der Junge fiel sofort ins Auge, seine extreme Leichtigkeit in Eins-gegen-eins-Situationen, sein Mut, seine Persönlichkeit und sein Selbstbewusstsein, diese Situationen immer wieder zu suchen plus die Fähigkeit zu einer sehr guten Anschlussaktion. In der Folge versucht man dann, so viel wie möglich über einen Spieler herauszufinden und Material heranzuschaffen. Das ist bei einer U19 oder einer zweiten Mannschaft aus dem Ausland nicht immer einfach, aber am Ende findet man dennoch oft Wege, um an Videos zu kommen. Als es dann die Möglichkeit gab, Momo ablösefrei zu verpflichten, haben wir uns sofort um ihn bemüht und sind froh, dass er uns sein Vertrauen gab und wir den Wettbewerb um ihn gewonnen haben.
"Es wird keinen Quotennachwuchsspieler geben"
Und wie war es bei Ahamada?
Mislintat: Naouirou war Mitglied einer überragenden U17 der Franzosen, zu der unter anderem auch Tanguy Nianzou Kouassi gehörte, der gerade zum FC Bayern gewechselt ist. Ihn hatten natürlich nicht nur wir im Fokus, zumal er schon bei Juve war. Naouirou, Clinton Mola und Tanguy Coulibaly, die wir aus Chelsea und von PSG holten, sind gute Beispiele dafür, dass wir uns mit dem eingeschlagenen Weg auch schon in dieser Talentkategorie einen sehr guten Namen gemacht haben. Die Jungs wissen, dass sie beim VfB eine Plattform geboten und einen klaren Weg mit einem klaren Entwicklungsplan aufgezeigt bekommen. Nur so werden diese Transfers aus so renommierten Akademien zu uns möglich. Was Naouirou als Spielertypen angeht: Er ist ein Sechser/Achter, ein physisch starker Spieler mit sehr gutem Passspiel, den wir in dieser Form noch nicht im Kader hatten.
Jetzt könnte man sagen, dass der VfB aber doch einen Luca Mack im Kader hat, dem in gewisser Weise jetzt wieder Ahamada vor die Nase gesetzt wird. Haben Sie keine Sorge, falsche Signale an den eigenen Nachwuchs zu senden?
Mislintat: Nein, überhaupt nicht. Denn auch mit Luca und unseren anderen Nachwuchsspielern gibt es klar aufgezeigte Wege und die dazugehörigen Gespräche. Ob von außen dazu geholt, aus dem eigenen Nachwuchs, jung oder älter, im Profifußball gilt das Prinzip Leistung. Überdies glaube ich, dass dieser Diskussion ein Perspektivwechsel guttäte: Denn was ist für einen Spieler aus der eigenen Akademie besser? Sich gegen jemanden durchsetzen zu müssen, der ähnlich jung ist und eine ähnliche Reputation hat? Oder gegen einen erfahreneren Spieler, der Millionen gekostet hat? Wir haben es schon häufiger gesagt und wiederholen es gerne: Die Tür für unseren eigenen Nachwuchs steht sperrangelweit offen. Weiter kann eine Tür gar nicht aufstehen. Es wäre für die Identität des Klubs und aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten darüber hinaus auch völlig unverantwortlich, wenn es anders wäre.
Aber wird es wirklich genügend umgesetzt? Einige Talente sind vom VfB weggegangen.
Mislintat: Ja. Wir haben in den vergangenen eineinhalb Jahren insgesamt acht Nachwuchsspielern Wege für eine Zukunft beim VfB aufgezeigt. Li Egloff, Toni Aidonis und Luca Mack sind fester Bestandteil des Kaders, Florian Kleinhansl und Sebastian Hornung sind aktuell Teil in der zweiten Mannschaft, beide waren zuletzt leider verletzt. Drei Spieler, Leon Dajaku, Nick Bätzner und Per Lockl haben sich gegen den von uns aufgezeigten Weg entschieden. Momo Cisse, Naouirou Ahamada und Mo Sankoh haben wir erst danach verpflichtet, um das auch mal klar zu benennen. Perspektivisch sehen wir gute Chancen für weitere Spieler aus unserem NLZ, zur U21 oder direkt zu den Profis zu stoßen. Aber eins ist auch klar: Es wird keinen Quotennachwuchsspieler im Profikader geben. Die Leistung und die Einstellung, ihre Potenziale weiter zu entwickeln bei den Jungs zählt, um den Weg mit uns weitergehen zu können.