Im Interview mit Goal und SPOX spricht der 51-Jährige über unglückliche Marketingmaßnahmen, die Herausforderungen der Corona-Krise, die Umverteilungsdebatte und seine Zukunft.
Außerdem: Warum der BVB nicht mit Nike, adidas oder Audi zusammenarbeitet, wie das Ticketing der Zukunft ablaufen wird und warum die BVB-Trikots aussehen, wie sie aussehen.
Herr Cramer, gab es in Ihrer Jugend einen Moment, in dem Sie für sich beschlossen haben, beruflich etwas im fußballerischen Bereich machen zu wollen?
Carsten Cramer: Man muss das eher im Ausschlussverfahren betrachten. Ich habe irgendwann gemerkt, dass es für den Leistungs- und Spitzensport nicht reichen wird. Gleichzeitig habe ich immer das Interesse verspürt, im sportlichen Umfeld etwas zu organisieren. Ich habe während meines Zivildienstes in einem sozialen Brennpunkt in Münster einen Fußballverein gegründet, weil ich gemerkt habe, dass man über den Fußball in der Lage ist, integrativ zu wirken. Insofern habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass es zwar auf dem grünen Rasen keinen Platz für mich gibt, sehr wohl aber im Umfeld. Das war der Antrieb, in diesem Bereich sesshaft zu werden.
An welche Marketingaktion rund um den Fußball denken Sie, wenn Sie in Ihre Kindheit und Jugend zurückblicken?
Cramer: Als ich noch Münsteraner war, habe ich mal festgestellt, dass ich relativ wenig mit Arminia Bielefeld anfangen konnte. Noch weniger konnte ich mit Arminia Bielefeld anfangen, als ein damaliger Manager auf die Idee kam, aus der Alm die Milka-Alm zu machen und überlegte, die Alm lila einzufärben. Da habe gedacht: Clever und kreativ ist das eine, die Grenzen zu beachten und nicht zu überschreiten das andere. Das war eine Idee, die mir als negatives und abschreckendes Beispiel immer in Erinnerung bleiben wird.
Cramer: "Ich habe mich gefreut und war zugleich erschrocken"
Sie waren von 2002 bis 2007 beim Sportrechtevermarkter Ufa (später SPORTFIVE) als Teamleiter für die Vermarktung des BVB zuständig, ehe Sie im Oktober 2010 als Direktor für den Vertriebs- und Marketingbereich zu Borussia Dortmund wechselten. Es folgte in der Ära Jürgen Klopps eine der erfolgreichsten Zeiten der Vereinsgeschichte. Fernab der Titelgewinne: An welche Situation denken Sie besonders gerne zurück, wenn Sie an diese Zeit denken?
Cramer: Als wir 2012 nach dem Doublesieg mit unserem Truck durch Dortmund gefahren sind, durfte ich oben auf dem Bus dabei sein. In die Augen der Menschen zu blicken und zu sehen, was der Klub und die Spieler den Fans bedeuten, war für mich ein emotionales Highlight, das mir einerseits die Dimension von Borussia Dortmund vor Augen geführt und andererseits als warnendes Signal gedient hat, mit diesem Gut der emotionalen Bindung verantwortungsvoll umzugehen. Ich habe mich tierisch gefreut und war zugleich erschrocken, welche Verpflichtung und Verantwortung das mit sich bringt. Ich will nicht überdrehen, aber ich bilde mir ein, die Menschen, die ich damals gesehen und noch immer vor meinem geistigen Auge habe, noch heute identifizieren zu können.
Seit März 2018 stehen Sie beim BVB als Geschäftsführer noch mehr in der Gesamtverantwortung. Aktuell müssen Sie den Klub durch die wohl größte Wirtschaftskrise seit 1930 manövrieren. Wie erinnern Sie sich an den Ausbruch der Corona-Pandemie?
Cramer: Wir leben im Fußball zugegebenermaßen in vielerlei Hinsicht in einer Art Traumwelt, die dann jedoch ganz schnell zu einer Alptraumwelt wurde. Innerhalb von sieben Tagen hat uns die Pandemie über die Spiele in Gladbach und Paris sowie mit dem ausgefallenen Derby mit einer unvorstellbaren Wucht ereilt. Im Vorfeld des Gladbach-Spiels hat man vielleicht geahnt, dass es mühsam werden könnte. Ich weiß noch, dass wir beim Abflug nach Paris am darauffolgenden Montag noch nicht die hundertprozentige Erkenntnis hatten, dass ohne Zuschauer gespielt wird. Am Freitagmorgen wurde dann das Derby ohne Zuschauer angekündigt, ehe der Spieltag am Freitagnachmittag um 16 Uhr komplett abgesagt wurde. Und auf einmal hat man das Gefühl, seine berufliche Tätigkeit sei komplett hinfällig.
Dabei wurde es in den darauffolgenden Wochen und Monaten insbesondere für Sie umso intensiver. Wie sind Sie in den ersten Tagen mit der Situation umgegangen?
Cramer: Viele unserer handelnden Personen haben in ihren aktuellen oder anderen Rollen die Beinahe-Insolvenz in der Saison 2004/05 sowie den Bombenanschlag im April 2017 miterlebt. Speziell nach dem Anschlag rund um das Champions-League-Spiel gegen Monaco standen wir innerhalb kürzester Zeit in einer unfassbaren Drucksituation. Dementsprechend waren wir in der Lage, sehr schnell auf Krisenmodus umzuschalten. Und trotzdem hat uns die Corona-Pandemie enorm getroffen. Problematisch war anfangs insbesondere, dass kaum jemand das Ausmaß der Pandemie richtig einschätzen konnte.
Wie hat sich das beim BVB bemerkbar gemacht?
Cramer: Glücklicherweise hatten und haben wir den Vorteil, dass wir mit der Welt, in der das Ganze entstanden ist, sehr eng verbunden sind. Wir standen vom ersten Tag an mit unseren Büros in Shanghai und Singapur in engem Kontakt. Dementsprechend haben wir von den Erkenntnissen aus Asien profitiert und wussten beispielsweise sehr früh und genau, mit welchen Restriktionen die Politik dort glaubt, dem Problem Herr zu werden. Dass es auf den Sport aber so massiven Einfluss hat, dass auf einmal Spiele nicht stattfinden und Wettbewerbe abgebrochen wurden wie in der französischen Ligue 1, das hätte ich nicht für möglich gehalten.
Wie greifbar war die Situation für Sie persönlich?
Cramer: Ich hatte erfreulicherweise nur einen Fall im privaten Umfeld, der jedoch sehr ernst war. Ein sehr guter Freund lag sechs Wochen auf der Intensivstation, ehe er mit ganz viel Mühe und Not aus dem künstlichen Koma zurückgeholt worden ist. Das war im April und hat mich schon nachdenklich gemacht. Es ist nach wie vor jeden Tag ein neuer Kampf - für jeden Einzelnen und uns alle gleichermaßen. Mit den Geisterspielen und dem DFL-Konzept, das wir in der Sommerpause erarbeitet haben, hatten wir einen großen Schritt gemacht. Und dennoch kommt einem die ganze Situation immer noch surreal vor - wie ein schlechter Traum, der nur leider nicht enden will.
Cramer: Corona? "Wir haben auf die Kostenbremse getreten"
Wie in jedem Unternehmen mussten auch beim BVB insbesondere in der Anfangszeit schwierige Entscheidungen getroffen werden. Welche war die schwierigste?
Cramer: Ganz wichtig war zunächst das Bewusstsein, wohin die Probleme führen können. Man arbeitet im Management immer in Worst, Medium und Best Cases. Wir haben uns sehr schnell mit dem Worst Case auseinandergesetzt, und ich hatte dabei das Gefühl, dass alle Mitarbeiter vom Spieler bis zur Aushilfskraft gemerkt haben, was diese Situation bedeutet. Die Spieler haben verzichtet, die Mitarbeiter haben sich eingeschränkt. Wir haben - das war ganz wichtig - keine Kurzarbeit eingeführt und an gewissen Stellen fast antizyklisch gehandelt. Wir haben uns beispielsweise auch nicht von Spielern getrennt oder Personal freigestellt.
Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen?
Cramer: Wir haben auf die Kostenbremse getreten, Neueinstellungen gestoppt und die Mannschaft sehr schnell zu Zugeständnissen und Einschränkungen bewegen können.
Was heißt es konkret, auf die Kostenbremse zu treten?
Cramer: Ich will nicht behaupten, dass wir auf einmal keine Cola mehr ausgeschenkt haben. Man kann aber sagen, dass wir alle Ausgaben auf den Prüfstand gestellt und beispielsweise mit Partnern gesprochen und bestimmte Agenturen nicht mehr beauftragt haben. Ein Beispiel: Wir haben unsere Vermieter gefragt, ob wir nicht 20 Prozent Mietnachlass bekommen könnten, da wir unsere Geschäfte nicht öffnen konnten. Solche Maßnahmen haben wir flächendeckend in allen Bereichen umgesetzt, und das hat funktioniert.
Ist es denn tatsächlich möglich, dabei für beide Seiten faire Lösungen zu finden?
Cramer: Mir hat Puma-Geschäftsführer Matthias Bäumer mal gesagt, dass es wichtig sei, dass wir unsere Probleme nicht ausschließlich auf Kosten anderer lösen dürfen. Es muss also immer ausbalanciert sein - und das haben wir gut hinbekommen. Wir haben ganz viele Gespräche geführt und fast keine Entscheidung getroffen, ohne zuvor mit den davon betroffenen Gruppen in Dialog zu treten. Es wäre unsozial gewesen, plötzlich gewisse Verträge anzufechten. Wir arbeiten beispielsweise mit einer kleinen Eventagentur zusammen, die ganz viele Dinge für uns organisiert. Wenn wir dort von heute auf morgen keinerlei Aufträge mehr hinterlegt hätten, wäre die Agentur ganz schnell pleitegegangen - und damit wäre uns auch nicht geholfen gewesen.