Der FC Bayern hat erstmals seit 20 Pflichtspielen wieder verloren - und das trotz einer 2:0-Führung gegen Angstgegner Borussia Mönchengladbach. Deren Trainer Marco Rose hielt trotz eines verpatzten Starts an seinem Konzept fest und lockte die Münchner in die Falle. Sein Gegenüber Hansi Flick kam hingegen bei mehr als einer Frage in Erklärungsnot. Sein Vertrauen in den Kader schwindet offenbar. Die Erkenntnisse zum Spiel.
Eigentlich konnte das ja gar nicht gut gehen. So wie der FC Bayern noch in der Vorsaison durch die Liga schwebte, glänzte und am Fließband traf, so quietschte und knarzte er sich zuletzt von Spiel zu Spiel. Achtmal in Folge lief der Rekordmeister einem Rückstand hinterher und sprang dem sprichwörtlichen Tod doch immer wieder wie gegen Mainz in der Vorwoche von der Schippe.
Doch am Freitagabend in Gladbach reichten selbst die aus Leon Goretzkas Sicht anfänglich "besten 30, 35 Minuten seit langem" nicht mehr. In denen war der Rekordmeister ausnahmsweise mal in Führung gegangen - und das sogar mit zwei Toren. Doch das langte nicht.
Und das konnte es auch gar nicht. Denn Gladbach ist sowas wie das Bundesliga-Kryptonit für sogar gut aufgelegte Bayern. Das 2:3 nach 2:0-Führung war am Ende so etwas wie ein Kollaps mit Ansage und die 22. Auswärtsniederlage beim Angstgegner vom Niederrhein. Bei keinem anderen Bundesligisten verloren die Bayern so oft und gegen keinen anderen Ligakonkurrenten kassierten sie dabei so viele Gegentore (87).
Doch das Toreschießen gegen den übermächtigen Branchenprimus aus dem Süden ist in dieser Saison so leicht wie seit 30 Jahren nicht mehr. Damals, in der Saison 1980/81, war es noch ein bisschen leichter. Da kassierten die Bayern 25 Gegentore zum gleichen Zeitpunkt, aktuell sind es 24. "Wenn man unser Spiel sieht, ist es schon auffällig, wo wir Probleme haben", sagte ein angefressener Trainer Hansi Flick nach dem Spiel - und damit hatte er Recht.
1. Das Bayern-Kaderproblem ist größer als bislang angenommen
Eines jener auffälligen Probleme der Bayern anno 2021 äußerte sich in der 87. Minute und war nicht unbedingt für jeden Zuschauer am TV-Bildschirm ersichtlich. Die Bayern drückten zu diesem Zeitpunkt auf den Ausgleich, hatten circa 20 Minuten zuvor damit angefangen, die defensiv konzentriert agierenden Gladbacher im eigenen letzten Drittel einzuschnüren.
"Crunchtime", wie man im Basketball sagt - oder im Bundesligafußballjargon: Zeit für die "Last-Minute-Bayern". Die Bayern, die gerne mal Spiele in letzter Sekunde zu ihren Gunsten drehen. In Leverkusen kurz vor Weihnachten wurde ihre Existenz einmal mehr bewiesen. Da wechselte Flick in der 68. Minute Comebacker Joshua Kimmich ein, der in der Nachspielzeit den Ball eroberte und für Lewandowski zum 2:1-Siegtreffer auflegte.
Doch gegen Gladbach kam es anders. Da wechselte Flick nur einmal, brachte Kingsley Coman für den abermals schwachen Douglas Costa nach einer knappen Stunde. Die Minuten verstrichen und in der 87. Minute, als er noch einmal die Brechstange hätte herausholen können, wenn nicht gar müssen, signalisierte er Jamal Musiala, Eric Maxim Choupo-Moting, Corentin Tolisso, Marc Roca, Jerome Boateng und Lucas Hernandez, dass sie sich wieder auf die Tribüne setzen sollen.
Ein einziger Wechsel während einer kraftraubenden Partie in der womöglich physisch herausforderndsten Saison der Bundesligageschichte? Das leuchtet weder auf den ersten, noch auf den zweiten Blick ein. Schon gar nicht, wenn man sich an Interviews von Bayern-Spielern aus der jüngeren Vergangenheit erinnert, die wie Leon Goretzka offen zugaben, "definitiv sehr müde" zu sein.
FC Bayern: Flicks Vertrauen in Ersatzspieler offenbar kaum vorhanden
"Es war einfach dem Spiel geschuldet", erklärte Flick auf der Pressekonferenz: "Alle, die auf dem Platz waren, haben - so habe ich den Eindruck gehabt - ihr Bestes versucht, um das Ergebnis zu wenden. Es hat mit dem Spielverlauf zu tun." Dabei betonte er explizit auf Nachfrage, dass diese Entscheidung "nichts mit der Qualität, die auf der Bank ist" zu tun gehabt habe: "Nein, nein, das ist überhaupt nicht der Fall."
Es fällt jedoch schwer, dem 55-Jährigen das angesichts der Personalentscheidungen, die er zuletzt getroffen hat, abzukaufen. Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass er gegen Leverkusen weder auf den einsatzbereiten Benjamin Pavard noch auf den im Herbst verpflichteten Bouna Sarr setzte, sondern Niklas Süle als Rechtsverteidiger aufbot. Sarr stand trotz bester Gesundheit nicht einmal im Kader.
Flicks Vertrauen in seine Ergänzungsspieler, die vergangene Saison noch Ivan Perisic oder Philippe Coutinho hießen, scheint kaum vorhanden zu sein. Und das wäre angesichts der dürftigen Darbietungen von Douglas Costa, Sarr oder Roca nicht einmal unberechtigt. Während gerade Perisic vergangene Saison noch ein X-Faktor der Bayern-Bank war und auch Coutinho noch einmal einen Qualitätsschub bringen konnte, enttäuschen gerade die drei genannten Neuen bis dato. Der Eindruck, die Bayern-Bank habe im Transfersommer (und -herbst) an Klasse verloren und nur an Masse gewonnen, verfestigt sich immer mehr.
Mit Musiala, der in der aktuellen Spielzeit schon mehr als einmal überzeugte, und auch mit Choupo-Moting, der bei PSG noch in der vergangenen Saison ein unglaublich wichtiges Tor in der Nachspielzeit im Champions-League-Viertelfinale gegen Bergamo erzielte, hatte Flick jedoch durchaus sinnvolle Optionen in der Hinterhand. Aber er zog sie nicht.
getty2. Flick-Zeugnis für Costa: Bayern-Trainer wirkt angekratzt
Hansi Flick wirkt dieser Tage angekratzt. Schon vor der Pleite in Gladbach war ihm das anzumerken. So sah er sich beispielsweise am Donnerstag dazu genötigt, eine klare Ansage in puncto Transfers zu machen. "Ich bin überhaupt keiner, der sagt, ich möchte neue Spieler haben", erklärte er auf die Frage, ob noch mit Neuzugängen im Winter bei den Bayern zu rechnen sei.
"Ich weiß um die Situation des FC Bayern und dass die Situation sehr schwierig ist und schon im Sommer schwierig war", fügte er an. Für ihn sei das auch kein großes Problem, denn: "Ich sehe nicht groß, dass unsere Ziele gefährdet wären."
Zwei Tage später verlor er sein viertes von mittlerweile 60 Spielen mit den Bayern und wurde nicht etwa auf mögliche noch kommende Transfers angesprochen, sondern auf jene, die im Herbst getätigt wurden und diesbezüglich explizit auf einen: den von Douglas Costa.
Der Brasilianer wurde als vierte Option für die Flügel zurückgeholt - auf Leihbasis ohne Kaufoption von Juventus Turin. Als er 2015 erstmals für die Bayern spielte, sorgte er noch zu Beginn mit seinen Tempodribblings für Furore und bereitete in seinen ersten sieben Spielen zehn Tore vor. Davon ist aktuell nicht mehr viel übrig.
gettyFlick blafft Reporterin an: "Verstehe die Frage nicht"
Costa, mittlerweile 30 Jahre alt, wirkt nicht mehr so explosiv wie früher, seine Dribblings verpuffen oftmals. So auch in Mönchengladbach, wo er für den verletzten Serge Gnabry und den angeschlagenen Kingsley Coman zum dritten Mal in der Bundesliga von Beginn an ran durfte. Sein erschreckender Arbeitsnachweis: 28 Ballkontakte, kein Torschuss, keine Torschussvorlage, elf Ballverluste, nur ein gewonner Zweikampf.
Coman, der ihn ab der 68. Minute ersetzte, sammelte in nur 26 Minuten gar einen Ballkontakt mehr. Und doch zog sich eine Reporterin Flicks Argwohn auf sich, als sie fragte, warum Costa "immer noch nicht so richtig in Fahrt" komme. "Douglas", so betonte Flick, "hat seine Sache so weit gut gemacht".
Er habe defensiv mitgearbeitet "und in der Offensive auch das eine oder andere versucht". Zwar müsse er nach wie vor an der Fitness arbeiten, aber er sei "auf einem guten Weg. Deswegen verstehe ich die Frage jetzt nicht", sagte der Bayern-Trainer, dem man anmerkte, dass er trotz des ab und an aufkommenden gequälten Lächelns zu später Stunde genervt war. Auch an Flick geht die hohe Belastung der Saison offenbar nicht spurlos vorbei.
3. Marco Roses Matchplan legt neue Bayern-Schwächen offen
Es war ein gewagtes Spiel, das Gladbach-Trainer Marco Rose spielte - oder vielmehr spielen ließ. Die Voraussetzungen gerade in der Offensive waren nach den Ausfällen der Topscorer Alassane Plea (muskuläre Probleme) und Marcus Thuram (Sperre) eher suboptimal, doch Rose trotzte dem Fehlen der zwei Gladbacher Offensiv-Stars mit einem Matchplan, der nicht die altbekannten Schwächen der Bayern, sondern gänzlich neue aufdeckte. So befand es zumindest Thomas Müller.
"Heute haben wir nicht viele tiefe Duelle verloren", sagte er bei DAZN nach dem Spiel. Mit den tiefen Duellen meinte Müller beispielsweise die Entstehung des 0:1 in der Vorwoche gegen Mainz 05, als ein langer Ball aus der Defensive Jonathan Burkardt auf die Reise schickte. Gegen die Fohlen-Elf habe man aber "andere Sachen" zugelassen.
Das Problem gegen Gladbach seien die Ballverluste in der Vorwärtsbewegung gewesen, wie Müller erklärte und womit er den Nagel auf den Kopf traf. Dreimal verlor der Rekordmeister den Ball im Aufbauspiel am eigenen Sechzehner oder auf Höhe der Mittellinie und wurde dafür bitter bestraft.
"Wir haben den Gegner heute dreimal eingeladen", konstatierte Goretzka und suchte die Fehler bei der eigenen Mannschaft. Dass Rose wiederum seine Borussia aufgrund der hohen Verteidigung der Bayern und der zuletzt veranschaulichten Fehleranfälligkeit aber genau darauf ausgerichtet hatte, wurde größtenteils von Münchner Seite verschwiegen.
Roses Matchplan: Pressingfallen und "Hoffi" tief schicken
Trotz des gewohnt hohen Pressings des Rekordmeisters eröffnete Gladbach mit einem kompakten Mittelfeldzentrum um Dennis Zakaria, Florian Neuhaus und Christoph Kramer das Spiel fast am eigenen Sechzehner, versuchte im Flachpassspiel Lösungen zu finden, um das Pressing ins Leere laufen zu lassen und dann Chipbälle über die erste Pressinglinie der Bayern zu spielen. Diese Pressingfallen gingen zweimal brachial schief und führten zum frühen 0:2-Rückstand der Gladbacher.
Doch Rose blieb seinem Konzept treu und das trug Früchte, weil Gladbach nach dem 0:2 "mutiger" wurde, wie Rose es formulierte. Das äußerte sich dadurch, dass Gladbach seinerseits gerade auf den Außen höher presste, ein gutes Anlaufverhalten an den Tag legte und sowohl beim 1:2 (schlampiger Ball von Pavard auf Sane) als auch beim 2:2 (riskanter Ball von Davies auf Kimmich) den Fehler der Bayern erzwang.
Zweimal eroberte die Borussia so den Ball und zweimal ging es blitzschnell und vertikal per Traumpass in die Tiefe. Dort sollte Jonas Hofmann stets lauern. Das verriet Rose nach dem Spiel bei DAZN. "Mit seinen beiden Toren ist viel davon aufgegangen, was wir uns vorgenommen haben. Wir wollten Hoffi mit Ball in die letzte Linie bringen und Lars Stindl mehr in den Zwischenräumen spielen lassen, weil das seine Stärke ist", erklärte der 44-Jährige.
Bei den beiden Toren von Hofmann vor der Pause zum 2:2 ging dieser Plan glänzend auf. Hofmann startete tief, Stindl assistierte mit chirurgischer Präzision. "Ich weiß nicht, ob die Bayern anfällig sind, sagte Rose über seinen Matchplan: "Man weiß, dass sie sehr hoch verteidigen und das versucht man zu nutzen. Aber die Pässe und Laufwege müssen perfekt sein, wir haben das sehr, sehr gut gemacht."
getty4. Stindl bewirbt sich für Comeback in der Nationalmannschaft
Geht es um Rückkehrer in die deutsche Nationalmannschaft, fielen in den vergangenen Wochen nach dem so verheerenden Jahresabschluss des DFB-Teams in Spanien mit der 0:6-Blamage immer wieder die Namen Mats Hummels, Jerome Boateng und Thomas Müller - und das nicht zu Unrecht. Schließlich haben alle drei, die 2019 von Bundestrainer Joachim Löw im Zuge seines Umbruchs ausgebootet wurden, nachhaltig mit konstant guten Leistungen für sich geworben.
Der Tonus: Die besten Spieler des Landes sollen auch die Nationalmannschaft vertreten. Und weil diese drei tatsächlich wohl noch dazuzählen, klang der Aufschrei, der durch so manche Redaktionsräume nach dem Spanien-Desaster hallte, auch durchaus logisch.
Der Name Lars Stindl fiel da seltener, wenn überhaupt. Dabei spielte der Kapitän der Borussia gerade erst das beste Jahr seiner Karriere. 19 Tore und sieben Vorlagen in 37 Pflichtspielen 2020 verzeichnete er, den in den vergangenen zwei Jahren auf so dramatische Art und Weise das Verletzungspech heimsuchte. Syndesmosebandriss 2018 als er sich gerade in der Nationalmannschaft etabliert hatte, WM-Aus. Schienbeinbruch 2019, halbes Jahr Pause.
Der 32-Järhige kämpfte sich immer wieder zurück und ist die Konstante in einer noch recht inkonstanten Gladbacher Mannschaft, die an guten Tagen Bayern schlägt und Real Madrid an den Rand einer Pleite bringt, an schlechten Tagen gegen Hoffenheim, Freiburg oder Augsburg patzt. Stindl ist torgefährlich, laufstark (11,5 Kilometer gegen die Bayern) und mit dem Auge für die ganz feinen Pässe ausgestattet, wie seine zwei Torvorlagen auf Hofmann gegen den FCB zeigten.
Seine Leistung gegen die Bayern war einmal mehr ein Bewerbungsschreiben an den Bundestrainer - der großen Konkurrenz in der DFB-Offensive um Kai Havertz und Co. und seinem Alter zum Trotz.
"Das entscheide ich nicht", sagte Stindls Trainer Rose nach dessen Glanzleistung gegen den Rekordmeister: "Wenn ich könnte, würde ich jeden meiner Spieler in die Nationalmannschaft singen. Aber das müssen sie mit Leistung machen und das müssen dann andere entscheiden."