Waldemar Anton im Interview: "Wir sind der VfB Stuttgart und ziehen unser Ding durch"

Florian Regelmann
03. Februar 202111:59
Der Coach und sein Abwehrchef: Waldemar Anton mit Pellegrino Matarazzo.getty
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Waldemar Anton gehört aktuell zu den am meisten unterschätzten Spielern der Bundesliga. Der Abwehrchef des VfB zeigt in seiner ersten Saison in Stuttgart hervorragende Leistungen. Im Interview mit SPOX und Goal spricht der 24-Jährige über einen möglichen Anruf von Bundestrainer Joachim Löw, schwärmt von Coach Pellegrino Matarazzo und erklärt, was den VfB-Fußball ausmacht.

Außerdem spricht Anton über seine ganz persönlichen Lehren aus der Corona-Pandemie, den für ihn besten Verteidiger der Welt und wieso ihn Neid und Missgunst eher anspornen.

Herr Anton, wenn man auf Ihre Instagram-Seite schaut, fällt folgender Spruch in der Bio auf: "Mitleid bekommst du geschenkt, Neid musst du dir erkämpfen!" Welche Bedeutung hat der Spruch für Sie?

Waldemar Anton: Ich habe diesen Spruch schon ganz früh in meinem Leben einmal gehört und er ist mir bis heute fest verankert im Kopf geblieben. Ich finde, da steckt sehr viel Wahrheit drin. Wenn es einem nicht so gutgeht, haben viele Mitleid mit dir, dafür musst du nichts tun. Aber Neid musst du dir erarbeiten, indem du etwas erreichst. Wissen Sie, dass ich erst vor ein paar Tagen intensiv darüber nachgedacht habe?

Erzählen Sie.

Anton: Ich weiß gar nicht, wie es genau dazu kam. Ich hatte eine ruhige Minute für mich und da ist mir dieses Thema irgendwie durch den Kopf geschossen. Natürlich ist auch für mich die Familie extrem wichtig. Die Familie steht immer hinter einem. Sie gibt einem Halt und Kraft - und sie spornt einen an. Dann habe ich auch eine sehr hohe Eigenmotivation, ohne die geht es nicht. Aber ich muss sagen, dass mich auch Missgunst ein klein wenig anspornt. Ich kann mich daran hochziehen und pushen. Das ist mir wieder klar geworden, als ich so darüber nachgedacht habe.

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Wir leben ja aktuell auch wegen Corona in einer Zeit, in der viele Menschen besonders viel nachdenken. Viele Menschen haben aktuell große Sorgen und Probleme. Wie sind Sie bis jetzt mit der Corona-Situation klargekommen?

Anton: Es ist wirklich eine sehr herausfordernde Zeit. Zum Glück sind in meiner Familie bislang alle gesund geblieben. Man macht sich schon Sorgen. Angst ist ein schlechter Ratgeber, aber der Respekt vor Corona ist bei mir sehr groß. Wir haben in der Familie von Anfang an sehr gut auf uns aufgepasst und Kontakte so gut es geht vermieden. Ich habe in meinem Umfeld auch Freunde und Familie, die als Selbstständige oder Unternehmer zum Beispiel sehr hart von Corona betroffen sind. Die ihren Job nicht mehr ausüben können. Das macht mich sehr traurig. Bei uns im Fußball ist es ja fast ganz normal weitergelaufen, wir sollten das nie vergessen und als Privileg betrachten, dass wir auch aktuell weiterspielen können. Den Fußball hat es von allen am wenigsten erwischt. Vielen geht es nicht so gut. Ich bin sehr dankbar, dass meine liebsten Menschen alle gesund sind. Mir hat auch mein Glaube geholfen, ganz gut durch diese Zeit zu kommen.

Was haben Sie in dieser Zeit über sich selbst gelernt?

Anton: Das ist eine gute Frage. Mir ist vor allem klargeworden, dass wir nichts als selbstverständlich erachten sollten. Dass wir generell als Gesellschaft aufeinander aufpassen müssen. Ich weiß jetzt noch viel mehr zu schätzen, dass ich wirklich ein tolles Leben führen darf. Ich habe eine Leidenschaft, die mir großen Spaß macht. Den Fußball. Und privat ist auch alles in Ordnung. Was will ich mehr? Es sind ganz viele kleine Dinge, die hoffentlich ganz viele Menschen in dieser Zeit verstanden haben. Einmal mehr bei der Familie anzurufen, solche Dinge. Wenn vielen Menschen klargeworden ist, worauf es wirklich ankommt im Leben und sie achtsamer geworden sind, hätte die Pandemie wenigstens eine positive Seite.

Anton: "Russland bedeutet für mich ein Stück Heimat"

Und auf den Fußball bezogen?

Anton: Da kann ich nur an die fehlenden Fans denken. Ich bin seit dieser Saison in Stuttgart und habe noch kein Heimspiel mit einer vollen Fankurve erlebt, das tut weh. Das Schlimme ist, dass man sich auf komische Art und Weise mit der Zeit daran gewöhnt, in ein leeres Stadion einzulaufen, aber niemand will sich daran gewöhnen. Die Fans machen den Fußball zu dem, was er ist. Sie machen ihn erst besonders mit ihren Emotionen. Wir müssen noch abwarten und uns gedulden, aber eines Tages werden die Stadien wieder voll sein. Das wird für uns alle einer der schönsten Tage der Karriere.

Sie sind in Usbekistan geboren und mit zwei Jahren mit Ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Sie sprechen auch Russisch. Was bedeutet Russland für Sie?

Anton: Russland bedeutet für mich ein Stück Heimat. Ein Großteil meiner Familie lebt dort. Leider ich konnte jetzt schon länger nicht mehr in Russland zu Besuch sein, ich hoffe sehr, dass sich das sobald wie möglich wieder ändert. Die Geschichte meiner Eltern hat mich sehr geprägt.

Inwiefern?

Anton: Was man wissen muss: Meine Eltern sind mit nichts nach Deutschland gekommen. Mit gar nichts. Sie mussten sich alles neu aufbauen und erarbeiten. Wie sie das gemacht haben, davor habe ich den höchsten Respekt. Deshalb war es für mich auch immer ein großer Antrieb, ihnen eines Tages etwas zurückgeben zu können. Sie haben sich immer ein eigenes Haus gewünscht, das war ihr Traum. Als ich helfen konnte, ihnen diesen zu erfüllen, hat mich das sehr glücklich gemacht. Diesen Tag werde ich nie vergessen.

Anton: "Wir sind der VfB und ziehen unser Ding durch"

Sie sind mit Deutschland U21-Europameister geworden und spielen in dieser Saison so stark, dass VfB-Sportdirektor Sven Mislintat Sie bei Joachim Löw für die Nationalmannschaft ins Gespräch gebracht hat. Sie könnten aber auch für Russland spielen. Haben Sie schon eine Entscheidung getroffen, für welches Land Sie gerne auflaufen würden?

Anton: Mich freut es natürlich, wenn unser Sportdirektor positiv über mich spricht, aber ich muss zugeben: Ich habe mir diese Frage noch gar nicht gestellt. Ich hatte einmal ein Gespräch mit dem russischen Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow, aber da ging es nur darum, dass er sich erkundigt hat, wie es mir geht, weil ich zu der Zeit verletzt war. Grundsätzlich fühle ich mich in Deutschland und Russland gleichermaßen wohl und zuhause. Aber das Thema ist aktuell so weit weg, dass ich wirklich ganz ruhig und geduldig bin. Ich versuche, beim VfB gute Leistungen zu bringen und dann schauen wir, was irgendwann vielleicht kommt. Wenn ich einen Anruf von einer unterdrückten Nummer bekomme, gehe ich in der Regel schon hin. Das wäre nicht das Problem. (lacht)

Sie sind erst 24 Jahre alt, haben aber schon extrem viel erlebt für Ihre noch junge Karriere. In Hannover gab es Höhen, aber auch einige Tiefen. Was war die härteste Zeit?

Anton: Die ganze Hannover-Zeit hat mich sehr geprägt und zu dem Spieler und Menschen gemacht, der ich heute bin. Beide Abstiege waren brutal. Du kannst dir den Druck im Abstiegskampf erst vorstellen, wenn du ihn selbst erlebt hast. Das war schon heftig. Interessanterweise war aber auch der Druck in der Aufstiegssaison heftig, nur völlig umgekehrt. Da war es dann plötzlich so, dass wir jedes Spiel gewinnen mussten am Ende, um den Aufstieg zu schaffen. Das war auch eine krasse Erfahrung. Auch aus der Zeit als Kapitän habe ich viel gelernt. Wenn ich die ganze Zeit auf einen Punkt herunterbrechen müsste, würde ich sagen, dass ich extrem gelernt habe, nicht zu weit nach vorne zu schauen und von Tag zu Tag zu denken. Von Spiel zu Spiel. Von Training zu Training. Du musst jedem Training die gleiche Wichtigkeit geben. Das klingt jetzt langweilig, aber ich habe diese Denkweise extrem verinnerlicht. Ich habe Phasen erlebt, als wir schlecht dastanden, aber es hieß: Es sind ja noch 20 Spiele, es sind noch so viele Punkte zu holen. So eine Denkweise ist tödlich. Deshalb lege ich meinen Fokus jetzt total darauf, jedes Spiel für sich anzunehmen und gewinnen zu wollen.

Waldemar Anton gehört zu den absoluten Leistungsträgern beim VfB Stuttgart.getty

In Stuttgart arbeiten Sie jetzt mit Pellegrino Matarazzo als Coach zusammen. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Anton: Er ist ein super Typ. Vor allem ein super ehrlicher Typ, der dir in allen Situationen sagt, was Sache ist. Das finde ich top. Dazu kommt sein immenser Fußballsachverstand. Was mir besonders gefällt: Er sagt uns nicht, dass wir gegen diesen Gegner so spielen, gegen den nächsten anders und wieder gegen den nächsten stellen wir wieder alles um. Er verfolgt einen ganz klaren Plan. Wir sind der VfB Stuttgart und ziehen unser Ding durch. Wir spielen einen bestimmten Fußball - völlig egal, gegen wen. Das hat auch zur Folge, dass er im Training sehr darauf achtet, dass jeder Ablauf, den wir einstudieren, mit 100 Prozent gemacht wird. Nicht mit 90 Prozent und schon gar nicht mit 80 - er verlangt immer 100 Prozent. Das gilt auch für Details. Wenn wir einen Angriff starten und den Pass in den Rücken oder auf den falschen Fuß spielen, dann geht das nicht, weil uns das im Spiel wichtige Zeit kostet. Darauf legt er großen Wert.

Sie sagen, der VfB will einen bestimmten Fußball durchziehen. Wie würden Sie diesen Fußball charakterisieren?

Anton: Wenn ich unsere Spielidee mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich sagen: unberechenbar. Wir haben eine Grundidee, aber innerhalb dieser wollen wir viele Variationen drin haben, um den Gegner permanent vor neue Aufgaben zu stellen, die er idealerweise dann nicht lösen kann, weil er uns nicht zu packen kriegt. Wir spielen nicht nur kurz, wir schlagen den Ball auch mal lang, wir haben lange Ballbesitzphasen, können aber auch Umschaltfußball praktizieren, vieles ist variabel. Die Unberechenbarkeit zeichnet uns aus.

Wie sehen Sie Ihre Rolle als Abwehrchef in diesem Konstrukt? Matarazzo hat Sie als Coach auf dem Platz gelobt, der seine Mitspieler mit seiner Leidenschaft ansteckt.

Anton: In meiner Rolle kommt es sicher sehr darauf an, dass ich auf dem Platz viel sprechen und organisieren muss. Das ist elementarer Bestandteil der Position als zentraler Innenverteidiger. Und natürlich versuche ich auch, Emotionen reinzubringen. Das ist meine Art und gerade in der Zeit ohne Fans, in der man noch mehr hört auf dem Platz, ist es besonders wichtig, Feuer reinzubringen. Wenn du einen Sprint über 70 Meter hinlegst und noch den Ball klärst, muss das jeder hören. Das betrifft aber nicht nur mich, da gehören alle dazu.

Und spielerisch?

Anton: Spielerisch ist der wichtigste Aspekt für mich, dass ich eine hohe Passgenauigkeit an den Tag lege und unser Spiel von hinten heraus sauber aufbaue. Der Trainer erwartet von mir, dass ich da auch offensiv denke, aber das muss er mir gar nicht extra sagen. So ticke ich eh und das würde er auch nicht aus mir herauskriegen. (lacht)

Anton: "Für mich ist Ramos der Beste der Welt"

Heutzutage ist das auch fester Bestandteil für einen Top-Verteidiger. Gibt es auf Ihrer Position Spieler, die Sie inspiriert haben?

Anton: Da muss ich auf jeden Fall Gerard Pique nennen. Er hat mir mit seiner Spielweise immer sehr imponiert. Seine Ruhe und seine Geduld am Ball sind beeindruckend. Bei ihm habe ich immer das Gefühl, dass auch drei Spieler auf ihn zustürmen könnten, es würde ihn nicht aus der Ruhe bringen. Er würde trotzdem ganz locker den Pass spielen. Aber Barca finde ich eh beeindruckend. Einmal wegen der Spielidee und dann auch wegen Messi. Als ich aufgewachsen bin, musste man sich zwischen Messi und Ronaldo entscheiden. Ich bin Team Messi. (lacht)

Wer ist denn für Sie aktuell der beste Innenverteidiger der Welt?

Anton: Für mich ist Sergio Ramos der Beste. Immer noch. Ich weiß nicht, wie viele Spiele er schon in letzter Minute mit einem Tor entschieden hat. Virgil van Dijk ist ja momentan leider verletzt, er ist sicher auch überragend, aber meine Nummer 1 ist Ramos. Er ist so ein extremer Gewinner-Typ, für mich ein absolutes Vorbild in der Hinsicht.

Die junge VfB-Truppe zeichnet Ramos-mäßig zumindest auch aus, dass Sie in der Saison mehrfach bewiesen hat, nie aufzugeben und in Spielen zurückzukommen.

Anton: Das stimmt. Wir sind eine Mannschaft, die wirklich einen ganz faszinierenden Mix aus unterschiedlichen Charakteren hat, aber bei aller Unterschiedlichkeit eint uns eine Sache: Wir gehen mit der festen Überzeugung in jedes Spiel, das auch gewinnen zu wollen. Und dafür investiert jeder alles und stellt seine persönlichen Befindlichkeiten im Zweifel auch hinten an. Wenn sie mich fragen, was passieren muss, damit ich am Ende der Saison wirklich zu 100 Prozent zufrieden bin, würde ich sagen: Dafür müssten wir jedes einzelne Spiel gewinnen bis zum Saisonende. Sonst reicht mir das nicht. Was ich damit sagen will: Wir haben eine gierige und ehrgeizige Mannschaft, das sieht man denke ich auch. Wir müssten nur ab und zu etwas ruhiger sein.

Anton: "Darüber habe ich nicht einziges Wort gelesen"

Was meinen Sie damit?

Anton: Ich ärgere mich immer noch über einige Spiele, die wir unnötigerweise hergeschenkt haben. Ich denke spontan an das Frankfurt-Spiel, als wir super gespielt und 2:0 geführt haben, dann aber insgesamt zu hektisch geworden sind. Auf der anderen Seite ist das aber auch ein völlig normaler Teil unseres Entwicklungsprozesses, den wir durchlaufen. Wir haben noch ein bisschen viele Aufs und Abs, aber das gehört dazu. Wir sprechen die Fehler klar an und arbeiten hart daran, es immer besser zu machen. Das merkt man in jedem Training.

Gegen Mainz stand jetzt endlich mal wieder die Null.

Anton: Ja, das hat wirklich gutgetan. Wir haben in dieser Saison schon so viele Tore bekommen, bei denen du nur den Kopf schütteln konntest. Da waren einige Ping-Pong-Tore dabei, die schwer zu erklären sind. Aber insgesamt waren es zu viele Gegentore, sodass wir uns alle auch gegenseitig gepusht haben, noch mal zehn Prozent mehr draufzulegen, um die Aktionen zu klären. Das haben wir gegen Mainz jetzt endlich mal geschafft.

Letzte Frage: Im Gegensatz zum Sportlichen läuft es vereinspolitisch momentan desaströs. Und das ist noch nett ausgedrückt. Hand aufs Herz: Bekommen Sie davon überhaupt irgendwas mit?

Anton: Ganz ehrlich: kaum etwas. Ich lese generell wenig, was in der Zeitung steht. Und darüber habe ich nicht ein einziges Wort gelesen. Der Trainer hat das Thema einmal vor der Mannschaft angesprochen. Aber damit hat sich das für uns auch erledigt. Ich verstehe natürlich, dass es viele Fans sehr bewegt, aber wir können das sehr gut trennen und konzentrieren uns auf unseren Bereich.