Früher fuhr Steffen Tepel (36) als Nordischer Kombinierer beim Weltcup mit, heute arbeitet er als Neuroathletiktrainer und hilft den Fußballstars von morgen mit gezielten Übungen für Gehirn und Augen dabei, auf dem Rasen noch agiler und (gedanken)-schneller zu werden. Darunter: Jamal Musiala (18) vom FC Bayern München.
Im Interview mit SPOX und Goal verrät Tepel, woran er im Detail mit dem Jung-Nationalspieler arbeitet, was Neuroathletik ausmacht und warum ihn der DFB überrascht. Außerdem hat der Coach eine plausible Erklärung dafür, weshalb sich Leroy Sane (25) auf der linken Außenbahn wohler fühlt als auf der rechten.
Herr Tepel, Neuroathletiktraining wird unter Profisportlern immer populärer. Was versteht man darunter?
Steffen Tepel: Grundsätzlich geht es beim Neuroathletiktraining um eine Verbesserung der Bewegungsansteuerung über das Gehirn. Man fokussiert sich nicht spezifisch auf das Training einzelner Muskeln, sondern nutzt die Sinnessysteme, um das Gehirn zu aktivieren - beispielsweise die Augen oder das Gleichgewichtssystem. Mit Neuroathletiktraining schafft man die Basis für qualitativ hochwertige Bewegungen, wie etwa Koordinations- oder Stabilisationsbewegungen. Wenn diese Bewegungen passen, profitiert man deutlich mehr von dem normalen Training im Alltag. Ziel ist es, dem Körper weiteres Potenzial zu entlocken und dadaurch wacher, schneller und agiler zu sein. Das hilft beim Fußball, aber auch bei allen anderen Sportarten, in denen schnelle und effiziente Bewegungen den Unterschied ausmachen.
Was ist eine typische Neuroathletik-Übung für Fußballer?
Tepel: Man dribbelt, ohne den Ball anzusehen und fixiert stattdessen einen Punkt in der Ferne mit den Augen. Damit verbessert man sein peripheres Sehen sowie das, was wir Fußintelligenz nennen. Ein Dribbling ist nichts anderes als eine komplexe Bewegungsleistung, die aus dem neuronalen Input von verschiedenen Sinnen entspringt. Ich muss hierbei den Ball steuern, bestenfalls in Höchstgeschwindigkeit, muss aber gleichzeitig auch schauen, wo sich Mit- und Gegenspieler befinden. Dann brauche ich noch mein Gleichgewichtssystem, um bei seitlichen Bewegungen nicht umzufallen, sondern schnellstmöglich wieder in die Balance zu finden. Deshalb ist es wichtig, dass meine Füße spüren, wo der Ball ist. Das heißt natürlich nicht, dass ich im Spiel gar nicht mehr auf den Ball schauen werde. Aber wer es beherrscht, den Ball zu führen, ohne ihn ständig anzusehen, hat automatisch eine höhere Ballkontrolle. Man nimmt dadurch nicht nur den Ball, sondern auch das Drumherum besser wahr.
Klingt wie ein sinnvolles Zusatztraining.
Tepel: Genau. Technik- und Konditionstraining ist für jeden Fußballer unabdingbar, das wird aber zur Genüge innerhalb der Vereine umgesetzt. Deshalb bietet sich Neuroathletiktraining als Add-on an - allerdings so, dass auch eine gewisse Regelmäßigkeit da ist.
Steffen TepelBayern-Juwel Musiala? "Eine hervorragende Arbeitsmoral"
Sie kommen selbst aus dem Leistungssport, waren bis 2011 Nordischer Kombinierer und fuhren beim Weltcup mit, ehe Sie nach Ihrer aktiven Laufbahn im Trainerteam der Schweizer Nationalmannschaft Nordische Kombination arbeiteten. Wann und wie wurden Sie auf das Thema Neuroathletik aufmerksam?
Tepel: Das war 2013 während der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele mit dem Schweizer Team. Ich habe damals als junger Trainer eben so trainieren lassen, wie ich es selber gewohnt war, ich habe im Grunde mein gesamtes Sportstudium-Repertoire abgespult. Am Rande habe ich dann das Thema Neuroathletik aufgeschnappt und schnell gemerkt: Da steckt eine ganz andere Tiefe drin, da kann man in kurzer Zeit so viel mehr Erfolg erzielen als mit handelsüblichem Training im Kraftraum. Deshalb habe ich Lars Lienhard gebucht, der damals als erster diesen Ansatz umgesetzt hat. Er hat uns die Neuroathletik Schritt für Schritt näher gebracht hat.
Lienhard gilt als Wegbereiter für Neuroathletiktraining in Deutschland.
Tepel: Der Trend kommt ursprünglich aus den USA, speziell Dr. Eric Cobb hat einen großen Anteil daran und hat wie viele Trainer hierzulande auch mich ausgebildet. Auch Prof. Dr. Frederick Robert Carrick hat viel Basisarbeit geleistet. Aber ja: Lars hat Neuroathletik nach Deutschland gebracht und eine gewisse Glaubwürdigkeit für das Thema geschaffen. Er hat Bücher geschrieben und war 2014 als Neuroathletikexperte Teil des DFB-Betreuerstabs bei der WM in Brasilien, später hat er auch mit Serge Gnabry trainiert. Generell muss man sagen: In anderen europäischen Ländern wird noch nicht in dem Maße auf Neuroathletiktraining gesetzt wie in Deutschland, aber auch dort steigt das Interesse und die Auseinandersetzung mit dem Thema.
Was mittlerweile auch an Ihnen liegt. Nach den Olympischen Spielen 2014 haben Sie sich intensiv mit Neuroathletik befasst und 2020 zusammen mit zwei weiteren Trainern das Unternehmen "INPUT1st" ins Leben gerufen, das sich ausschließlich auf Neuroathletiktraining fokussiert.
Tepel: Wir haben erst nur nebenbei mit Wintersportlern und Nachwuchsfußballern zusammengearbeitet und bei Fortbildungen mitgewirkt. Die Erfolge und das Feedback waren dann irgendwann so gut, dass wir gesagt haben: Es macht Sinn, ein eigenes Unternehmen zu gründen.
Sie spezialisieren sich hauptsächlich auf Fußball.
Tepel: Wir haben zwei Trainingslehrpläne entwickelt: Einen allgemeinen für alle Sportarten und einen speziell auf Fußball ausgerichteten - weil Fußball, wie alle Ballsportarten, eine andere Komplexitität hat und wir eben mit mehr Fußballern zusammenarbeiten und diesbezüglich speziell mit Nachwuchsfußballern, die sich auf dem Weg in den Profibereich befinden oder dort bereits angekommen sind.
Darunter Jamal Musiala - das Talent in Deutschland, über das derzeit alle sprechen. Er trainiert seit seinem Wechsel vom FC Chelsea zum FC Bayern im Sommer 2019 regelmäßig unter Ihrer Regie. Wie groß ist Ihr Anteil an seiner Entwicklung?
Tepel: Jamals Erfolg beruht in erster Linie auf seiner außergewöhnlichen Arbeitsmoral. Dadurch hat er sich Dinge angeeignet, wie Julian Nagelsmann neulich gesagt hat: Er spielt, als hätte er einen Magneten am Fuß. In Sachen Dribbling kann man ihm auch mit 18 gar nicht mehr so viel beibringen, seine Fantasie im Eins-gegen-Eins ist einfach eine besondere Gabe. Er hat ein unglaublich gutes Gefühl dafür, wo der Ball um ihn herum ist und was in der Zone, in der er sich aufhält, geschieht. Seine Koordination, gepaart mit seinen technischen Fähigkeiten und seinen typischen, blitzschnellen Seitbewegungen, machen es ihm möglich, sich durch die gegnerischen Linien zu schlängeln. Das sind hohe neuronale Anforderungen, die Jamal super beherrscht. Er ist aber auch ein sehr ehrgeiziger Junge, der wie besessen an sich arbeitet und zusätzlich zu seinem Training beim FC Bayern ständig Dinge verbessern will. Und hier kommen wir ins Spiel.
Erzählen Sie.
Tepel: Wir machen uns zu Beginn immer ein Bild von den Spielern, mit denen wir arbeiten. Die Fragen, die wir uns primär stellen: Was ist aus Bewegungssteuerungssicht die Schwachstelle des Spielers und wie können wir auf seiner Position das Bestmögliche für ihn herausholen? Mit Jamal haben wir anfangs in erster Linie an seiner reflexiven Stabilität gearbeitet. Bedeutet: Wie stark kann er im Zweikampf gegenhalten, um seine Ballkontrolle auch unter starkem Gegnerdruck noch weiter zu verbessern? Das lässt sich unter anderem durch Training des Gleichgewichtsorgans und der Augenmotorik verbessern. Beide Systeme stehen in direkter neuronaler Kommunikation mit der Wirbelsäulen- und Rumpfmuskulatur. Es heißt oft, man müsse viel Körpermasse oder Muskulatur mitbringen, um in Zweikämpfen stabil zu bleiben. Entscheidend für die Stabilität im Zweikampf ist aber die Mitte des Körpers. Ist diese stabil, kann mich niemand so schnell wegschieben. Deshalb war Bauch- und Rückenmuskeltraining für Fußballer schon immer ein wichtiger Bestandteil. Und bei Jamal sieht man, dass er mit Checks und Tacklings sehr gut zurechtkommt, obwohl er auf den ersten Blick eher etwas schmächtig wirkt.
Woran arbeiten Sie mit ihm noch?
Tepel: An seiner Ballan- und -mitnahme. Sein erster Kontakt ist zwar schon sehr gut, aber immer noch ausbaufähig. Mittlerweile weiß man: Wenn Jamal den Ball einmal unter Kontrolle hat, geht's ab. Das Ziel ist, den Ball aber noch schneller und effizienter an- und mitzunehmen als bisher, gerade bei härter gespielten Pässen oder bei Aufdrehbewegungen in Richtung des gegnerischen Tores. Es geht darum, immer einen halben Schritt voraus zu sein, nach Ballannahme direkt die Anschlussaktion folgen lassen zu können. Außerdem legen wir im Training großen Wert auf die gesamte Gelenkskontrolle. Jamal soll der Chef über seinen Körper werden.
Tepel: Darum könnte Leroy Sane links stärker als rechts sein
Auf welcher Position sehen Sie Musiala am besten aufgehoben?
Tepel: Er ist offensiv so vielseitig, er kommt überall klar. Jede Position hat natürlich ein anderes Anforderungsprofil. Im Zentrum braucht man zum Beispiel unglaublich viele Kopfdrehungen, um sich bestmöglich in jedem Moment orientieren zu können. Die Trainer fordern gerne "Vororientierung", das muss man aber erstmal hinkriegen. Dafür braucht man als Basis vor allem eine gut koordinierte Nackenmuskulatur, die wiederum eng mit den Augen verschaltet ist, um alles, was auf dem Feld um einen herum passiert, wahrzunehmen. Das Spiel auf den Außenbahnen ist natürlich noch einmal etwas anderes. Jamal kann dort aber auch spielen, weil er eben für diese schnellen Seitbewegungen steht. Sein Vorteil: Er ist nicht rechts- oder linkslastig, sondern sehr ausbalanciert.
Musialas Mannschaftskollege Leroy Sane kann seine Stärken auf dem linken Flügel besser zur Geltung bringen als auf der rechten Seite. Haben Sie aus neuroathletischer Sicht hierfür eine Erklärung?
Tepel: Ich kann keine Aussagen über einzelne Spieler treffen, aber einen Erklärungsansatz gibt es aus meiner Sicht schon. Das Bild vom rechten Sehfeld geht nämlich in die linke Gehirnhälfte und das Bild vom linken Sehfeld geht in die rechte Gehirnhälfte. Das heißt: Hatte man auf der einen Seite in seinem Leben mehr Training und dadurch eine höhere Aktivität vorzuweisen, dann kann es schon sein, dass das Gehirn diese Seite viel besser kartieren kann als die weniger gewohnte und belastete Seite. Manchmal fällt es einem Spieler dann schwer, den Flügel zu wechseln. Solchen Spielern bieten wir auch Unterstützung an, wenn ein Trainer sie nicht auf ihrer bevorzugten Seite einsetzen kann. Mit Neuroathletiktraining lassen sich solche Defizite mit der Zeit auf jeden Fall beheben.
Musiala lebt in München, Sie im Sauerland. Wie oft trainieren Sie mit ihm?
Tepel: Er trainiert in seiner Freizeit sehr viel allein, wir treffen uns in der Regel aber im Zwei-Wochen-Rhythmus. Wir telefonieren auch oft, wenn er ein Übungsupdate braucht. Kurz vor der Saisonvorbereitung war ich auch mal vier Tage bei ihm zu Hause in München, da haben wir ganz niedrigschwellig und konzentriert mal wieder über einen längeren Zeitraum trainieren können, sodass er beim FC Bayern möglichst gut einsteigen kann. Generell ist es natürlich wichtig, unsere Trainingsinhalte in den Rahmen der Belastungssteuerung des Vereins zu integrieren.
gettyTepels Zusammenarbeit mit Bayern, BVB und Co.: "Braucht Aufklärungsarbeit"
Neben Musiala haben Sie auch noch Torben Rhein aus der zweiten Mannschaft des FC Bayern, Lasse Günther vom FC Augsburg sowie Nnamdi Collins und Bradley Fink von Borussia Dortmund unter Ihren Fittichen. Wie kommt Ihre Arbeit bei den Vereinen an?
Tepel: Es braucht ein bisschen Aufklärungsarbeit, aber das ist völlig nachvollziehbar, weil im ersten Moment viele denken: Oh, da ist ein externer Trainer, wieso belastet der unsere Spieler zusätzlich? Bei mir würden da auch die Alarmglocken angehen. Insgesamt wird das Thema Neuroathletik aber inzwischen sehr gut angenommen, weil sich zunehmend mehr Athletiktrainer mit den Inhalten auskennen und wissen, dass die körperliche Belastung entsprechend niedrigschwellig ist. Früher gab's sicherlich ein paar Leute, die uns gesagt haben: "Was ein Quatsch!" Aber diese Zeiten sind vorbei. Es findet im Spitzenfußball eine immer größere Akzeptanz statt, unter anderem auch in der Premier League. Auch in der Schweiz und hier vor allem in der Torhüterausbildung wird sehr innovativ an diesen Themen gearbeitet und geforscht.
Hatten Sie schon Kontakt zu Klubs aus der Premier League?
Tepel: 2019 haben wir den Championship-Klub Wigan Athletic bei einigen komplizierten Reha Cases beraten und dort eine kleine "Inhouse Education" für das Athletik- und Reha-Team gegeben. Die Inititative ging damals von Wigan-CEO Darren Royle aus. Einen weiteren Test Case haben wir mit der City Football Group gemacht. Wir haben einen Test Case mit einem Leihspieler in Belgien gestartet, der dann leider durch die Corona-Pandemie abgebrochen werden musste. Soweit mir bekannt ist, holt sich die Arsenal-Academy über Per Mertesacker auch immer wieder Input aus dem neuroathletischen Bereich. Es tut sich wirklich viel auf diesem Gebiet.
Steffen TepelWie steht der DFB zum Thema Neuroathletik?
Tepel: Sehr positiv. Der DFB beschäftigt mit Jan-Ingwer Callsen-Bracker mittlerweile sogar einen Vollzeit-Neuroathletiktrainer in seiner Akademie, der das Thema immer mehr anschiebt. Es laufen erste Studien mit der Uni Paderborn und der Uni des Saarlands unter Leitung von Prof Dr. Dr. Claus Reinsberger in enger Absprache mit Prof. Dr. Tim Meyer, dem DFB-Mannschaftsarzt. Mit dem Doktoranden dieser Studien sind wir mit "INPUT1st" regelmäßig unterstützend und beratend im Austausch. Ich muss sagen, ich bin positiv überrascht vom DFB. Da wurde in der Vergangenheit ja viel von außen geschimpft, aber was die in der Akademie dort machen, hat Hand und Fuß. Da kann niemand hingehen und sagen: "Wir machen mal ein bisschen Augentraining." Die Inhalte müssen schon spezifisch auf die Bedürfnisse der Fussballausbildung zugeschnitten sein. Und das begrüßen wir, weil es die Gesamttrainingsqualität verbessert.
Kann man Neuroathletik studieren?
Tepel: Der Beruf ist leider nicht geschützt, es gibt aber spezifische Ausbildungen, die wir unterstützen. Wir wollen Neuroathletik weiter voranbringen. Dabei geht es sowohl um Wissensvermittlung, aber auch um wissenschaftliche Evidenz, um die Wirkungsweisen und Effekte des Trainings nachvollziehen zu können.