Man kann zwei Zitate von Sportdirektor Roland Virkus heranziehen, um zu verdeutlichen, in welcher Lage sich Borussia Mönchengladbach derzeit befindet. Das erste ist ein gutes halbes Jahr alt und lautet: "Die Pandemie hat den Verein ein wenig von seinem Weg abgebracht. Meine und unsere Aufgabe wird es sein, wieder den Borussia-Weg zu gehen."
Das zweite ist brandaktuell: "Ich habe Verständnis dafür, dass sich manche Fans derzeit Sorgen machen. Aber wir haben gerade erst angefangen, den Kader umzubauen. Die Transferperiode kann man erst dann bewerten, wenn sie zu Ende ist", sagte Virkus vergangene Woche der Sport Bild.
Da hatte Virkus tatsächlich einen Punkt, denn zum Zeitpunkt seiner Aussage war noch nicht offiziell, was die Borussia zuletzt verkündete: Mit Franck Honorat holte man den Nachfolger von Jonas Hofmann, zudem ließ man sich Tomas Cvancara 10,5 Millionen Euro kosten, um Stürmer Marcus Thuram zu ersetzen.
Die Sorgen der Anhänger wird man mit diesen beiden Neuzugängen womöglich ein wenig geschmälert haben. Von Aufbruchstimmung oder gar Euphorie ist das Umfeld der Fohlen aber ähnlich weit entfernt wie die Mannschaft zuletzt von den Europapokalplätzen.
Gladbach muss auf 39 von 52 Saisontoren verzichten
Dass das so ist, liegt vor allem an den vergangenen zweieinhalb Spielzeiten. In dieser Zeit spielten die Gladbacher weit unter ihren Ansprüchen und verschlissen mit Adi Hütter sowie Daniel Farke zwei Trainer. Nun startet also der nächste Neuanfang, den auf der Trainerbank diesmal Gerardo Seoane verantwortet.
Der Schweizer muss dabei auf 39 der 52 Saisontore verzichten, die die Borussia in der vergangenen Saison erzielte. Dass man neben dem Verlust von Hofmann mit Thuram (Inter Mailand), Lars Stindl (Karlsruhe) und Ramy Bensebaini (Dortmund) absolute Leistungsträger ziehen lassen musste, ohne auch nur einen Cent Ablösesumme zu sehen, sorgte bei den Anhängern für viel Frust.
"Wir werden die Stammspieler, die uns verlassen haben, nicht eins zu eins ersetzen können. Es geht wieder mehr darum, dass wir uns um Talente kümmern und diese fördern. Wir haben hier vor einigen Jahren noch Europapokal-Zeiten erlebt und Verträge danach ausgerichtet, das ist derzeit kein Thema. Wir können nur das ausgeben, was wir einnehmen", stellte Virkus zuletzt noch einmal unmissverständlich klar.
Gladbach befindet sich auch in einer Identitätskrise
Der Gladbacher Neustart hat also auch viel mit Rückbesinnung zu tun. Die fetten Jahre, mit den Partien im Achtelfinale der Champions League gegen Manchester City als Höhepunkt, sind vorbei. Es fehlt an Geld und Konstanz, beinahe folgerichtig standen zuletzt nur Platzierungen im Tabellenmittelfeld der Bundesliga zu Buche. Dieser Status quo muss rund um Gladbach in die Köpfe rein.
Darin befinden sich aktuell vor allem die vielen desillusionierenden Erlebnisse der jüngeren Vergangenheit. In der Vorsaison stagnierte die Mannschaft unter Farke, eine Weiterentwicklung einzelner Spieler oder gar des Kaders gab es nicht. Stattdessen brach das Team gerade in der abgelaufenen Spielzeit viel zu oft bei Rückschlägen und Widerständen zusammen. Man bekam nur selten das Gefühl, dass sich die äußerst wankelmütige Elf noch einmal aufraffen und etwas entgegensetzen konnte. Am Ende stand der schlechteste Punkteschnitt seit 2011 (1,26 pro Spiel).
Dieser bedenkliche Zustand begleitete das gesamte letzte Jahr, sorgte für Unmut bei den Fans und eine angeknackste Beziehung zwischen Anhängern und Verein. Gladbach befindet sich somit auch in einer Identitätskrise. Auch wenn es plump klingen mag: Es gilt im kommenden Jahr, alle wieder gemeinsam in ein Boot zu holen und den neuen Weg gemeinsam bedingungslos zu gehen.
Gladbach und seine Fans: Macht nicht den VfB-Fehler!
Den Gladbacher Fans ist dabei zuzurufen: Macht nicht den VfB-Fehler! Ob in den vergangenen Jahren in Stuttgart, beim Hamburger SV oder Schalke 04, oftmals klebte man an Standorten echter Traditionsvereine zu lange an unrealistischen Erwartungshaltungen fest und labte sich am Ruhm vergangener Zeiten.
Die Ansprüche der Borussia haben sich allerdings schlicht stark verändert. Die Konkurrenz heißt nicht mehr Leverkusen und Wolfsburg, sondern Mainz und Hoffenheim. Gelingt es, diese Realitäten anzuerkennen, besitzen die Fohlen und ihre Fans zweifellos das große Potenzial, ihre Wucht positiv zu kanalisieren und eine energiegeladene Aufbruchstimmung zu erzeugen.
Dazu müssen Virkus und Seoane aber weiter liefern. Der ehemalige Leverkusener Coach könnte zum richtigen Zeitpunkt gekommen sein - Stichwort Borussia-Weg. "Ich habe acht Jahre im Nachwuchs gearbeitet. Da ging es ausschließlich darum, Spieler in die erste Mannschaft zu bringen und ihnen Werte zu vermitteln", sagte der 44-Jährige bei seiner Vorstellung über seine Zeit in der Jugendabteilung des FC Luzern. Zudem holte der Coach mit Guido Streichsbier einen langjährigen DFB-Nachwuchstrainer zur Borussia, der künftig die Bereiche Individualisierung und Talententwicklung verantwortet.
Gladbach: Gerardo Seoanes Arbeit muss schnell fruchten
Mit den Eigengewächsen Simon Walde (18) und Ibrahim Digberekou (18) wurden bereits zwei Spieler mit Profi-Verträgen ausgestattet. Das sind jedoch nur kleine Puzzlestücke, die weitere Kaderplanung bleibt eine Art Mammutaufgabe. Ein weiterer Mittelstürmer, ein zentral-offensiver Mittelfeldspieler und Verstärkung für die Innenverteidigung stünden der Borussia noch gut zu Gesicht. Doch in weniger als vier Wochen beginnt bereits die Pflichtspielsaison.
Seoane muss zusehen, dass er schnell eine Einheit und vor allem ein stabiles Gerüst bildet, um die Zeit der schlechten sportlichen Nachrichten nicht noch weiter zu verlängern. Zumal es nicht unwahrscheinlich ist, dass Mittelfeldmotor Manu Koné noch abwandert, um eine hohe Ablöse für den klammen Klub zu generieren.
Das Ganze ähnelt ein wenig einer Operation am offenen Herzen. Am wichtigsten wird sein, dass die Elf vom Niederrhein unter Seoane ein anderes Gesicht zeigt, das von Leidenschaft und Resilienz geprägt ist. Ob dies gelingt, wird freilich erst die Zeit zeigen - es hängt aber neben der reinen Trainerarbeit auch von Virkus' Transfers sowie der Hingabe der Fans ab.
Borussia Mönchengladbach: Alle Abgänge der Fohlen
Name (Alter) | Position | Neuer Verein | Ablöse |
Jordan Beyer (23) | Innenverteidiger | FC Burnley | 15 Millionen |
Jonas Hofmann (30) | Rechtsaußen | Bayer Leverkusen | 10 Millionen |
Marcus Thuram (25) | Mittelstürmer | Inter Mailand | ablösefrei |
Ramy Bensebaini (28) | Linksverteidiger | Borussia Dortmund | ablösefrei |
Lars Stindl (34) | Offensives Mittelfeld | Karlsruher SC | ablösefrei |
Conor Noß (22) | Offensives Mittelfeld | Blau-Weiß Linz | unbekannt |
Jonas Kersken (22) | Torwart | Arminia Bielefeld | Leihe |