Es gibt stets einen schwer zu definierenden Zeitpunkt im Laufe der Sommer-Vorbereitung, an dem vermehrt über die Perspektiven der 18 Bundesligisten für die anstehende Saison diskutiert wird. Natürlich wird nicht jeder Klub gleichermaßen besprochen und eigentlich gehört auch Bayer Leverkusen zu den Vereinen, die deutschlandweit nicht unbedingt die breite Masse vom Hocker reißen.
Das geschah auch in den vergangenen Wochen nicht. Dennoch war die Werkself immer mehr in aller Munde bei denjenigen, die einen Ausblick auf die am vergangenen Freitag begonnene Spielzeit wagten. Und da hieß es oft und teils gar laut: Bayer Leverkusen hat das Zeug, um im Kampf um den Meistertitel ein Wörtchen mitzureden.
Der überzeugende 3:2-Auftaktsieg gegen RB Leipzig - auch ein Team, das man schon vor dem Supercup-Erfolg gegen den FC Bayern zum Kreis der Meister-Kandidaten zählte - untermauerte jedenfalls: Leverkusen ist tatsächlich richtig stark, der Fußball der Truppe von Trainer Xabi Alonso sieht zu diesem frühen Zeitpunkt bereits sehr abgestimmt und ausbalanciert aus.
Das ist irgendwie ziemlich erstaunlich, irgendwie aber auch nicht. Erstaunlich deshalb, weil sich Leverkusen mitten in einem in der eigenen Historie beinahe beispiellosen Umbruch befindet. Das ist auch das Signalwort, das eigentlich dagegen spricht, dass sich Bayer stabil durch die Saison spielt.
Bayer Leverkusen: Xabi Alonso einer der mächtigsten Trainer
Geschäftsführer Simon Rolfes kündigte im vergangenen Februar einen größeren Umbau des Kaders an, der in den Monaten zuvor extrem enttäuscht hatte. Bayer kratzte unter Coach Gerardo Seoane aus den ersten acht Spielen lediglich acht mickrige Punkte zusammen. Das reichte für Platz 17 und führte zur Anstellung von Alonso. Der Spanier fuhr anschließend in 26 Partien 45 Zähler ein, nur siebenmal wurde noch verloren. Dazu erreichte man das Halbfinale der Europa League.
Das wiederum reichte dafür, dass Alonso zu einem der mächtigsten Trainer aufstieg, der je in Leverkusen arbeitete. Bei Transfers darf der Spanier mehr mitreden als seine Vorgänger, sodass sich bereits zahlreiche seiner Wünsche realisierten.
57,5 Millionen Euro steckte Leverkusen bislang in die Neuzugänge Granit Xhaka, Alejandro Grimaldo, Jonas Hofmann, Victor Boniface, Arthur, Matej Kovar und Josip Stanisic. 68,7 Millionen kamen durch Verkäufe wieder hinein, allen voran jenen von Topscorer Moussa Diaby nach England.
Bayer Leverkusen und der Wandel in der Spielanlage
Dieses Transfergebaren zeigt auch, wie Bayer unter Alonso nun die Strategie modifiziert hat: Xhaka, Grimaldo und Hofmann bringen Erfahrung und Führungsstärke mit - und weniger Geschwindigkeit als die Vielzahl jüngerer Spieler, die man in den Vorjahren regelmäßig verpflichtete. Das passt zum Wandel in der Spielanlage: mehr Ballbesitz und Variabilität, geringerer Fokus auf reines Konterspiel.
Abgeschlossen sind die Umbaumaßnahmen noch nicht, auch wenn das Transferfenster kurz vor der Schließung steht. "Ich glaube, dass wir dieses Jahr durch viel Flexibilität gewisse Sachen abfangen können. Wir sind im Kader schon so variabel, jeden zu ersetzen. Trotzdem wollen wir noch etwas machen", sagte Rolfes.
Im Offensivbereich ist die Kaderbreite und auch das vorhandene Tempo noch nicht optimal. Die Chancen stehen gut, dass man dies mit dem Transfer von Southamptons Nathan Tella behebt, der Bayer offenbar eine Zusage gegeben hat. In der Defensive wich Jonathan Tah zuletzt den Fragen nach seiner Zukunft aus. Der Innenverteidiger liebäugelt weiterhin mit einem Wechsel nach England. Von dort könnte zudem noch Hilfe kommen: Der 19-jährige Luke Chambers vom FC Liverpool wäre in der Lage, sowohl als Linksverteidiger als auch innen zu agieren.
Bayer Leverkusen: Personalie Xabi Alonso könnte hitzig werden
Es war daher bemerkenswert, dass es Bayer gelang, mitten in die vielschichtige Personalakquise hinein den Vertrag mit Alonso bis 2026 zu verlängern. "Ich bin glücklich hier und am richtigen Ort. Gerade will ich hier sein", sagte der Spanier. Ob das auch noch in drei Jahren der Fall sein wird? Alonso: "Ich denke nie zu weit."
Die Gefahr besteht durchaus, dass der Coach bereits in Bälde geht. Sein Herzensklub Real Madrid könnte nach der Saison Carlo Ancelotti an die Nationalmannschaft Brasiliens zu verlieren. Und nicht nur dort wird Alonso mit seinen Erfolgen, der Art seines Fußballs und gerade auch der Aura, die ihn als Persönlichkeit und gleichermaßen Autorität umgibt, Begehrlichkeiten wecken. Seine Personalie könnte im Saisonverlauf noch Gegenstand hitziger Diskussionen werden.
Nämlich erst recht dann, wenn die Zusammenarbeit zwischen Alonso und Leverkusen in diesem Saisonverlauf auch weiterhin so gut fruchtet wie bislang. Die Hauptaufgabe des 41-Jährigen wird die eines jeden Trainers sein und an der gerade schon viele seiner Vorgänger bei Bayer scheiterten: Eine gesamte Spielzeit hinweg konstante Leistungen abzurufen.
Bayer Leverkusen: "Im August sind wir alle Meister"
Genau dies klappte in Leverkusen in vielen der vergangenen Jahre nur höchst selten. Nicht umsonst ließ sich die Bayer AG bereits 2010 den Begriff "Vizekusen" beim Deutschen Patent- und Markenamt schützen - für ganz oben und einen Titelgewinn reichte es seit dem Pokalsieg 1993 nicht mehr.
Um dies zu ändern, muss es Alonso gelingen, den spannenden und hochtalentierten Kader-Mix aus Youngstern und Erfahrenen in ein funktionierendes und konzentriert zu Werke gehendes Gerüst zu bekommen und die Mannschaft zugleich erneut fußballerisch weiterzuentwickeln. "In der Sommerpause wird viel geredet und geschrieben, aber auf dem Platz liegt die Wahrheit", reagierte Rolfes auf den immer stärker aufkommenden Meister-Tipp Leverkusen.
Auch Alonso beschwichtigte bereits: "Im August sind wir alle Meister. Aber im August bekommt niemand Medaillen." Dennoch unterstrich er: "Wir haben Ambitionen, aber wir dürfen nicht dumm sein und müssen jedes Spiel respektieren. Wenn wir die Saison gut anfangen, haben wir am Ende vielleicht eine gute Chance."
Bayer Leverkusen aktuell auf einem sehr guten Weg
Fest steht: Bayer ist auf einem sehr guten Weg. In der Vorbereitung studierte der Trainer mit einem 4-2-3-1 zudem ein neues System ein, gegen Leipzig waren Pressing und Positionsspiel hervorragend. Die gesamte Mannschaft brachte am 1. Spieltag viel Wucht und Überzeugung aufs Feld, sodass man selbst bei den Sachsen beeindruckt war.
"Leverkusen war richtig gut. Wie die uns gepresst und gestresst haben, wie griffig die waren im Gegenpressing. Wir sind kaum hinten rausgekommen", sagte Leipzigs Yussuf Poulsen. Doch kann Bayer wirklich ernsthaft Meister werden? "Wenn die so die ganze Zeit spielen können, dann ja."
Bayer Leverkusen: Die Pflichtspiel-Bilanz unter Trainer Xabi Alonso
Wettbewerb | Spiele | Siege | Unentschieden | Niederlagen | Torverhältnis |
Bundesliga | 27 | 14 | 6 | 7 | 51:35 |
DFB-Pokal | 1 | 1 | 0 | 0 | 8:0 |
Champions League | 3 | 0 | 2 | 1 | 2:5 |
Europa League | 8 | 4 | 2 | 2 | 19:11 |