Bayerns NLZ-Chef Jochen Sauer im Interview: "Wir brauchen einen roten Faden"

Andreas Lehner
13. Dezember 201711:03
Der FC Bayern hat seinen Campus offiziell im August 2017 eröffnetgetty
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Der FC Bayern München hat für 70 Millionen Euro ein neues Nachwuchsleistungszentrum gebaut und Präsident Uli Hoeneß hat die Jugendarbeit zu einem zentralen Bestandteil der Zukunftsstrategie des Klubs ausgerufen. Chef des FC Bayern Campus ist Jochen Sauer. Der 45-Jährige spricht im Interview über den Ist-Zustand der Nachwuchsabteilung, das Fehlen seines Partners Hermann Gerland und die Zukunft der zweiten Mannschaft.

SPOX: Herr Sauer, Sie haben im Mai Ihren Dienst beim FC Bayern angetreten, im August wurde der Campus eröffnet. Wie fällt Ihr Zwischenfazit nach etwas mehr als einem halben Jahr Arbeit aus?

Jochen Sauer: Wir sind auf einem guten Weg, haben aber auch noch viel Arbeit vor uns. Der Umzug von der kleinen, kompakten Infrastruktur an der Säbener Straße auf dieses große Gelände am Campus hat sehr reibungslos funktioniert - es sind zumindest keine größeren Vorkommnisse passiert. (lacht) Bei solch einem Projekt ist klar, dass man sich zu Beginn mit vielen Kleinigkeiten beschäftigen muss, insofern war es gut, dass ich schon am 1. Mai angefangen habe und mit Wolfgang Dremmler die Übergabe sehr gut regeln konnte. Außerdem konnte ich die Abläufe, das Personal und die Mannschaften kennenlernen.

SPOX: Sie haben von Dremmler die Leitung des NLZ übernommen, in einer Doppelspitze mit Hermann Gerland. Wie ist Ihr Aufgabengebiet definiert?

Sauer: Die komplette Administration, Organisation und der Betrieb der ganzen Anlage liegen bei mir. Hermann Gerland ist für den sportlichen Bereich verantwortlich. Allerdings war von Anfang an geplant, dass ich Teile im sportadministrativen Bereich übernehme, weil Hermann in erster Linie Trainer ist und sich intensiv um die Themen auf dem Platz und rund um die Mannschaften und Trainerteams kümmern muss.

SPOX: Von der Doppelspitze sind im Moment nur noch Sie übrig, weil Gerland bei den Profis als Co-Trainer von Jupp Heynckes fungiert. Wie wird Gerlands Fehlen aufgefangen?

Sauer: Hermann ist in der Regel mindestens zwei halbe Tage die Woche am Campus. Immer wenn die Profis nicht trainieren, ist er für uns unterwegs. Entweder er ist am Campus oder er kümmert sich an der Säbener Straße um die U23. Sein Fehlen ist im Moment kein Problem, weil wir uns in den ersten Wochen und Monaten über viele Themen schon intensiv ausgetauscht haben und auf einer Linie sind. Telefon und Email gibt es ja auch, wir sind in ständigem Kontakt. Es läuft sehr gut.

Jochen Sauer (r.) leitet mit Hermann Gerland den FC Bayern Campusimago

SPOX: Sie haben zur Eröffnung des Campus' gesagt, es sei essenziell, dass der Sportliche Leiter Dinge auf dem Platz überprüft. Wer macht das jetzt, wenn Gerland nicht da ist?

Sauer: Die Aufgabe kann er noch wahrnehmen. Wichtig ist, dass Hermann nah an den Mannschaften dran ist und das ist er. Die U23 sieht er intensiv an der Säbener Straße, teilweise trainieren Spieler ja auch bei den Profis mit und er sieht am Campus ausreichend Trainingseinheiten und Spiele.

SPOX: Gerland ist ein Praktiker. Wer kümmert sich um den sportlich-theoretischen Überbau beim FC Bayern, also um Themen wie Konzept, Trainingspläne etc.?

Sauer: Wir brauchen keinen Theoretiker, wir brauchen praktische Ansätze. Hermann hat klare Vorstellungen, wie unser Scouting und Training ablaufen sollen. Die Erarbeitung der einzelnen Inhalte ist dann eine gemeinsame Aufgabe. Da ich für Organisation und Struktur zuständig bin, gebe ich und die mitarbeitenden Kollegen dem Ganzen dann den geeigneten Rahmen und bringe unsere Ideen zu Papier. Daran können sich unsere Trainer und Spieler dann auch zukünftig orientieren.

SPOX: Wie sieht der personelle Langzeitplan des FC Bayern im Nachwuchs aus? Hermann Gerland ist schon 63.

Sauer: Darüber haben wir nicht gesprochen. Ich gehe davon aus, dass wir Kontinuität schaffen , um Dinge auf den Weg zu bringen. Aber es wäre anmaßend und unseriös hier anzufangen, einen Fünfjahresplan zu präsentieren und zu sagen: ‚So hat's jetzt zu laufen.' Es ist ja nicht so, dass hier alles so schlecht war, wie es manchmal dargestellt wurde. Die U17 ist Deutscher Meister geworden, die U19 war im Finale.

SPOX: Die Durchlässigkeit zu den Profis ist immer das große Thema...

Sauer: So ist es. Wir wussten, dass wir nicht bei Null anfangen, sondern dass eine gute Basis vorhanden und auch die Qualität hoch ist. Aber jetzt versuchen wir, die paar Prozentpunkte mehr rauszuholen, um der Erwartungshaltung gerecht zu werden, dass vielleicht wieder der eine oder andere Spieler mehr oben ankommt.

SPOX: Sie haben zuvor als Geschäftsführer bei RB Salzburg gearbeitet. In der Red-Bull-Welt gibt es in der Nachwuchsarbeit einen relativ klaren übergreifenden Plan. Was nehmen Sie aus dieser Zeit mit?

Sauer: Inhaltlich kann ich relativ wenig mitnehmen, weil wir nichts kopieren wollen. Aber zwei Grundaspekte meiner Denkweise haben sich bei der Arbeit in Salzburg bestätigt. Erstens: Man braucht personell wie inhaltlich Kontinuität. Und zweitens braucht man eine klare Linie, die verfolgt wird und die wir nach einem halben Jahr auch nicht wieder infrage stellen sollten. Wir brauchen einen roten Faden für die Ausbildung, an dem sich alle orientieren und an dem entlang alle in eine Richtung arbeiten.

SPOX: Ist dieser rote Faden schon definiert?

Sauer: Wir sind im intensiven Brainstorming und im Austausch, um Leitplanken zu definieren, die uns näher an den Profibereich heran bringen. Die Fragestellung lautet: Was ist oben bei den Profis gefordert? Diese Verlinkung muss funktionieren.

SPOX: Ihr Vorgänger Dremmler war kein Freund des Wortes Ausbildung im Fußball. Er meinte im SPOX-Interview, man werde von Gott geküsst und dann sei man Fußballer. Wie stehen Sie dem Thema gegenüber?

Sauer: Das ist doch eine Frage der Begrifflichkeiten. Selbst wenn einer das natürliche Talent in die Wiege gelegt bekommen hat, kommen noch viele Aspekte dazu, um Profi zu werden. Hier meine ich gar nicht die Schule und die sonstige Persönlichkeitsentwicklung. Die athletische Komponente muss man entwickeln, man muss definieren, auf welcher Position ein Spieler seine Stärken ausspielen kann, dazu kommen Themen wie kognitive Fähigkeiten, Handlungsschnelligkeit, Reaktionsschnelligkeit, Beweglichkeit. Die Anforderungen erhöhen sich von Stufe zu Stufe, und der Verein muss darauf achten, dass sich der Spieler mitentwickelt auch wenn er ein Naturtalent ist.

SPOX: In welchen Bereichen sehen Sie das größte Potenzial im Nachwuchs des FC Bayern?

Sauer: Viele Dinge waren durch die Infrastruktur eingeschränkt, hier können wir jetzt schon deutlich besser arbeiten. Aber weder Hermann noch ich sind bisher lange genug dabei, um schon in jedem Detail sagen zu können, wo wir Potenzial für Verbesserungen sehen. Wir sind in der Analyse, beobachten die Abläufe in allen Bereichen wie Scouting, Athletiktraining oder Spielidee. Deshalb haben wir die Saison 2017/18 strukturell auch als Übergangssaison definiert, aber spätestens zur neuen Saison werden wir neue Impulse geben können. Da kommt dann auch wieder der rote Faden ins Spiel. Wie wollen wir Fußball spielen? Haben wir ausgewogene Kaderstrukturen? Können wir den Spielern die richtigen Entwicklungsschritte anbieten?

SPOX: Welche Rolle spielt in Ihrer Betrachtung das Thema Relative Age Effect, dem zufolge im Nachwuchsfußball innerhalb eines Jahrgangs frühgeborene Spieler systematisch bevorzugt werden? Auch beim FC Bayern spielen in den Teams im Leistungsbereich, also U19, U17 und U16, überwiegend Spieler, die im ersten Halbjahr ihres Jahrgangs geboren sind.

Sauer: Ich bin der Meinung, man sollte grundsätzlich nicht zu starr in Jahrgängen denken. Man muss sich alle paar Wochen und Monate die individuelle Entwicklung eines Spielers anschauen. Wenn einer das aktuelle Niveau völlig intus hat und vielleicht sogar unterfordert ist, muss man ihm schnellstmöglich die nächste Stufe zumuten, egal in welcher Mannschaft er in seinem Jahrgang eigentlich spielen müsste. Bei der U16 beispielsweise sehe ich das Problem nicht, weil wir im eigentlichen 2002er Jahrgang schon sieben 2003er haben.

SPOX: Das sind aber auch wieder Spieler, die früh in ihrem Jahrgang geboren wurden, das Problem bleibt also, oder?

Sauer: Man kann aber auch sagen, dass diese Spieler quasi "sehr spätgeborene" 2002er Spieler sind...! Bei der ganzen Diskussion um den Relative Age Effect bleibt das Wichtigste, ganz individuell auf die Spieler einzugehen. Das ist zwar viel mehr Arbeit, weil man nicht pro Jahrgang einfach so drüberfahren kann, aber ich kann den Relative Age Effect komplett an die Seite stellen, wenn ich sage, man muss dem Spieler so früh wie möglich die nächste Entwicklungsstufe "zumuten".

SPOX: Die übergreifende Fragestellung im Jugendbereich ist: Fördern wir die richtigen Talente und fördern wir sie richtig? Eine Studie besagt, dass weniger als ein Prozent der Spieler den Weg von der U9 bis zum Profi in einem Verein gehen. Heißt das nicht, dass man entweder etwas anders machen müsste oder den unteren Bereich sogar abschaffen könnte?

Sauer: Nein, das sehe ich nicht so. Wir reden nicht darüber, den unteren Bereich abzuschaffen. Aus meiner Sicht kommen sehr viele Spieler relativ weit nach oben bis zur U15 oder U16. Ich glaube, man muss die Spieler in München schon so früh wie möglich zum Verein holen, um größtmöglichen Einfluss auf die Ausbildung zu nehmen. Wenn du einen roten Faden hast, ist es doch ein Vorteil, die Spieler selbst auszubilden.

SPOX: Es gibt aber auch die Möglichkeit, mit Partnervereinen zusammenzuarbeiten und diese mit inhaltlichem und personellem Knowhow auszustatten. Das würde die Basis der Ausbildung verbreitern.

Sauer: Diese Möglichkeit ist sicherlich zu diskutieren und überlegenswert. Wir wollen natürlich die besten Talente Bayerns bei uns auf dem Campus versammeln, aber für viele Spieler, die nicht aus München kommen, ist das mit hohem Aufwand verbunden. Wir stellen zwar Fahrdienste, aber wir müssen auch immer beobachten, welche Auswirkung dieses ständige Auf-der-Straße-sein auf die schulische und sportliche Leistung hat. Ist das sinnvoll? Oder ist es sinnvoller in der Ausbildung vor Ort einzugreifen.

SPOX: Auch beim Thema zweite Mannschaften der Profiklubs gibt es unterschiedliche Ansätze. Der frühere Technische Direktor des FC Bayern, Michael Reschke, hält die zweite Mannschaft als Übergang zu den Profis für nicht mehr zeitgemäß. Wie denkt der FC Bayern?

Sauer: Wir schaffen die zweite Mannschaft sicher nicht ab. Damit die Verbindung zwischen Nachwuchs und Herrenbereich klappt, müsste man eine brutal gute Idee haben. Die U23 soll zukünftig wieder ein wichtiger Baustein werden, um Spieler nach oben zu bringen. Man muss aber darüber nachdenken: Wie strukturiere ich die U23? Welche Liga ist die richtige Spielklasse für die Entwicklung? Wie schaut die richtige Altersstruktur im Kader aus? Wen will ich fördern, wie will ich ihn fördern, auf welchem Niveau will ich ihn fördern?

SPOX: Gibt es hier schon konkrete Ansätze?

Sauer: Nehmen wir den Aspekt der Ligazugehörigkeit. Die 3. Liga ist super, aber um dort wettbewerbsfähig zu sein, muss die Kaderstruktur eine andere sein als in der Regionalliga. Ist es realistisch, mit einer kompletten U19 3. Liga zu spielen? Wenn das klappt, ist es super. Für eine ganz junge Mannschaft kann aber auch die Regionalliga zunächst ein guter Einstieg in den Herrenbereich sein. Wir müssen den Jungs die richtige Plattform bieten, mit der sie anfänglich immer leicht überfordert sind, um sich zu verbessern.

SPOX: Ihre klare Aufgabe ist es, mit dem Campus Spieler für die erste Mannschaft zu entwickeln. Wie lange haben Sie sich Zeit gegeben, bis der erste bei den Profis spielen sollte?

Sauer: Wir haben uns keinen Zeitrahmen gesetzt, weil das nicht planbar ist und auch von der Situation bei den Profis abhängt. Ist oben gerade ein Kaderplatz auf einer bestimmten Position frei? Hat sich ein Spieler verletzt und ein junger Spieler bekommt eine Chance? Wir haben bereits gute Jahrgänge hier und Jahrgänge, die wir noch verstärken werden. Unser Ehrgeiz ist es, dass wir in jedem Jahrgang mindestens einen Spieler haben, den wir mit gutem Gewissen zum frühestmöglichen Zeitpunkt oben anbieten können. Wenn wir das hinkriegen, haben wir sehr ordentliche Arbeit geleistet.