Morgens halb zehn in München. Thiago Alcantara erscheint als erster Profi auf dem Trainingsgelände des FC Bayern. Die Vorbereitung auf das Halbfinale im DFB-Pokal gegen Werder Bremen (heute ab 20.45 Uhr im LIVETICKER) findet zwar erst in eineinhalb Stunden ihre Fortsetzung, der spanische Mittelfeldstratege trifft sich zuvor aber noch mit SPOX und DAZN zum Interview. Das komplette Interview im Video seht ihr bei DAZN.
Mit einer Tasse Tee in der Hand und einem entspannten Lächeln nimmt Thiago im Mediencenter an der Säbener Straße Platz. Schließlich läuft es aktuell ja "ganz gut", wie er sagt. Nach einer Hinrunde voller Sorgen steuern der 28-Jährige und seine Kollegen auf das nächste nationale Double zu. Für ihn wären es die Titel 13 und 14 in seinem fünften Jahr an der Isar. "Das ist das Ziel", meint er selbstbewusst. Vollends zufrieden wirkt Thiago allerdings nicht, während er redet.
Das frühzeitige Aus in der Champions League gegen den FC Liverpool vor einem Monat nagt noch sehr an ihm. Ein Gespräch über Selbstzweifel, fußballarmen Fußball, seinen Lehrmeister Pep Guardiola und einen Freund aus Dortmund.
Thiago, nach dem 1:0-Sieg in der Bundesliga treten Sie nun im Pokal-Halbfinale gegen Werder Bremen an. Wie schätzen Sie die Bremer in dieser Saison ein?
Thiago: Bremen hat sich sehr positiv entwickelt. Sie haben sich in dieser Saison von Monat zu Monat verbessert. Ihre Stärken liegen in der Offensive, sie sind sehr gefährlich vor dem Tor. Vor allem Max Kruse ist in blendender Form.
Bremen spielt zu Hause sehr stark, hat in dieser Saison im Weserstadion erst drei Niederlagen kassiert. Wie groß ist der Nachteil, auswärts zu spielen?
Thiago: Es ist immer ein Nachteil, auswärts zu spielen - gerade gegen so einen guten Gegner. Wir sind aber der FC Bayern und brauchen uns vor niemandem zu verstecken.
Welcher Spieler außer Kruse imponiert Ihnen bei Werder am meisten?
Thiago: Sie haben viele gute Spieler. Maximilian Eggestein zum Beispiel, der kürzlich für die deutsche Nationalmannschaft nominiert wurde. Besonders gerne mag ich aber Claudio Pizarro. Die Jahre vergehen und er macht trotzdem unermüdlich mit dem Toreschießen weiter. Vor allem erzielt er noch immer wichtige Tore wie im Pokal-Achtelfinale gegen Borussia Dortmund. Er ist ein wichtiger Faktor - nicht nur auf, sondern auch neben dem Platz.
SPOX/DAZNThiago genießt sein Leben in Deutschland: "Man reift enorm"
Ein besseres Vorbild als Pizarro gibt es für die meisten ausländischen Spieler in der Bundesliga wohl kaum.
Thiago: Er ist ein Vorbild, weil er als junger Spieler hierherkam und sich sehr gut an das Leben in Deutschland angepasst hat. Bis vor kurzem war er der Ausländer mit den meisten Toren in der Bundesliga. Jeder junge Kerl, nicht nur aus Südamerika, kann ihn sich zum Vorbild nehmen.
Sie leben seit fünf Jahren mit Ihrer Frau in München, haben seit 2017 einen gemeinsamen Sohn. Wie finden Sie sich in Deutschland zurecht?
Thiago: Meiner Familie und mir geht es in Deutschland sehr gut. Was mir besonders gefällt: Hier lebt, atmet und schläft man für den Fußball. Man kann sich in Ruhe auf den Sport konzentrieren und entspannt leben. Zudem ist gerade München eine sehr gute Stadt, um ein Kind aufzuziehen und ein schönes Familienleben zu führen.
Worin liegen die Unterschiede zwischen dem Leben in Deutschland und dem Leben in Spanien?
Thiago: Ich sehe immer nur die positiven Seiten. Natürlich werden meine Familie und ich unsere Heimat Spanien immer besonders lieben, aber Deutschland gibt uns eine besondere Ruhe. Durch die andere Lebensweise und die andere Kultur reift man enorm als Mensch. Das ist für mich das Wichtigste.
Thiago: Wechsel zum FC Bayern eine "sehr gute Entscheidung"
Können Sie nach fünf Jahren sagen, dass sie mit Ihrem Wechsel von Barcelona nach München die richtige Entscheidung getroffen haben?
Thiago: Das konnte ich schon nach kurzer Zeit in Deutschland sagen. Es war eine sehr gute Entscheidung von mir, zu einem so großen Verein wie dem FC Bayern zu wechseln und zu sehen, wie sich dieser Verein weiterentwickelt und wächst.
Sie sind kürzlich 28 Jahre alt geworden. Wie haben Sie sich während Ihrer Zeit beim FC Bayern als Mensch verändert?
Thiago: Ich bin reifer geworden. In meinem Fall liegt das an den schönen privaten Erfahrungen, die ich hier gemacht habe, wie zum Beispiel der Geburt meines Sohnes. Man hört einfach auf, an irgendwelche Dummheiten oder Nebensächlichkeiten zu denken. Man konzentriert sich auf die wichtigen Dinge im Leben. In meinem Fall: auf die Familie und den Fußball.
Sie kamen 2013 auf Geheiß von Pep Guardiola nach München, der sie schon beim FC Barcelona gefördert hatte. Wie wichtig war er für Ihre Karriere?
Thiago: Sehr wichtig. Pep hat mir damals den Schritt von der Jugend zu den Profis ermöglicht und mir viel beigebracht. Wer als junger Spieler zu den Profis kommt, muss täglich lernen. Mit ihm als Trainer lernt man viel schneller und ausführlicher. Er war von Anfang an eine große Hilfe für mich, auch hier beim FC Bayern. Er ist einer der besten Trainer der Welt, wenn nicht sogar der beste. Und ich bin mir sicher, dass er dem Fußball in den nächsten Jahren noch sehr viel geben wird.
Vermissen Sie Guardiola in München?
Thiago: Er hat große Fußstapfen hinterlassen, weil er und seine Ideen uns als Mannschaft enorm geprägt haben. Das spürt man auf dem Rasen. Wir setzen in manchen Spielsituationen immer noch Dinge um, die er uns mit auf den Weg gegeben hat. Ich denke aber, dass es uns gut gelungen ist, das Positive von jedem unserer bisherigen Trainer mitzunehmen und zu vereinen.
Thiago: Tiki-Taka? "Entscheidend ist die Kontrolle"
Der Spielstil des FC Bayern hat sich seit Guardiolas Abschied vor zweieinhalb Jahren verändert. Die Mannschaft spielt weniger Tiki-Taka. Was halten Sie davon?
Thiago: Ob man das jetzt Tiki-Taka, Taka-Taka oder sonst wie nennt: Entscheidend ist für mich, in jedem Moment die Kontrolle über das Spiel zu haben. Das heißt: Wenn wir in Ballbesitz sind, muss uns klar sein, dass wir trotzdem gut verteidigen müssen. Und wenn der Gegner den Ball hat, müssen wir bereit sein, ihn zu Fehlern zu zwingen und diese Fehler auszunutzen. Diese Überlegenheit - ob mit oder ohne Ball - ist das Allerwichtigste für mich. Haben wir diese Überlegenheit, haben wir Erfolg. Unabhängig von dem Spielstil mit viel oder etwas weniger Ballbesitz.
Auch Ihre Rolle hat sich verändert. Unter Niko Kovac spielen Sie defensiver als zum Beispiel noch unter Jupp Heynckes oder Carlo Ancelotti, als Sie hin und wieder als Zehner agiert haben. Auf welcher Position fühlen Sie sich am wohlsten?
Thiago: Im zentralen Mittelfeld. Ob das auf der Sechs, auf der Acht oder auf der Zehn ist, ist egal. Mir gefällt es, anzugreifen, ich verteidige aber auch gerne. Auf der Sechs muss ich mehr verteidigen, kann mir aber den Ball früher abholen und mich mehr am Spielaufbau beteiligen. Dafür kann ich weniger Tore schießen und vorbereiten als auf der Acht oder auf der Zehn, weil ich nicht so oft in Strafraumnähe komme.
Würden Sie gerne häufiger Tore schießen und vorbereiten?
Thiago: Wer nicht? Jeder würde das gerne.
Thiago: "Wir haben das Vertrauen in uns selbst verloren"
Stört es Sie, dass die meisten Menschen eher über die Torschützen sprechen als über die Arbeiter im Hintergrund?
Thiago: Damit muss man sich abfinden. Wer einmal im Fußballgeschäft tätig war, weiß, dass der wichtigste Spieler für die Öffentlichkeit immer derjenige ist, der die Tore schießt und nicht der, der sie vorbereitet oder verhindert.
Das mit dem Toreschießen klappt aktuell sehr gut. Der FC Bayern steht an der Spitze der Bundesliga, nachdem zwischenzeitlich sogar die Champions-League-Qualifikation auf der Kippe stand. Was waren die Gründe dafür?
Thiago: Die ersten ein, zwei Monate der Saison liefen eigentlich gut. Obwohl wir den Trainer erst einmal kennen lernen mussten, haben wir gute Ergebnisse eingefahren. Dann sind wir durch nicht so gute Ergebnisse in eine Phase gekommen, in der wir unser Vertrauen in unser Spiel und in uns selbst verloren haben. Wir Spieler hatten nicht die beste Einstellung. Vor allem zwischen September und November, als wir viele Punkte unnötig abgegeben haben. Aber danach haben wir sehr hart gearbeitet und sind in der Tabelle Schritt für Schritt zurück nach oben geklettert.
Was haben Sie und Ihre Kollegen konkret geändert, um den verloren gegangenen Spielrhythmus wiederzufinden?
Thiago: Die Winterpause hat uns sehr gut getan. Wir konnten im Kreise unserer Familien über Weihnachten und Silvester abschalten und vor allem aus mentaler Sicht Kraft schöpfen. Zu Beginn der Rückrundenvorbereitung in Katar haben wir uns gesagt, dass wir uns nicht in der idealsten Ausgangssituation befinden und daran gemeinsam unbedingt etwas ändern müssen. Das haben wir.
Thiago über Niko Kovac: "Ein unglaublich positiver Typ"
Wie hat sich Kovac, der weder die Erfahrung noch den Lebenslauf eines Jupp Heynckes, Carlo Ancelotti oder Pep Guardiola mitbringt, Respekt verschafft?
Thiago: Es ist sicherlich für jeden Trainer schwierig, zu einem so großen Verein wie dem FC Bayern zu kommen. Die Ziele sind hoch, die Erwartungen ebenso. Das ist normal und daran muss man sich gewöhnen. Wir Spieler haben uns Schritt für Schritt an den Trainer gewöhnt und er sich an uns. So etwas braucht einfach Zeit.
Wie tickt Kovac als Mensch?
Thiago: Niko ist ein unglaublich positiver Typ, sehr gebildet und sehr kommunikativ. Er legt großen Wert auf einen partnerschaftlichen Umgang untereinander und geht immer gut mit uns Spielern um.
Stichwort Freundschaft: Sie und Robert Lewandowski haben kürzlich Mario Götze in München getroffen. Wie eng sind Sie bei aller Rivalität zwischen dem FC Bayern und Borussia Dortmund noch mit Götze befreundet?
Thiago: Für mich bleibt die Rivalität immer auf dem Rasen. Wir Spieler sind auch nur Menschen, die ihr Leben leben und Freundschaften pflegen. Mario ist auf und neben dem Platz ein großartiger Kerl, den ich immer gerne wieder sehe.
Fehlt er Ihnen in München?
Thiago: Als Freund auf jeden Fall. Und natürlich ist er auch ein sehr guter Fußballer.
Der Titelkampf mit Dortmund wird immer spannender. Wer hat für Sie die Nase vorne?
Thiago: Aktuell wir, weil wir auf Platz eins stehen. Es liegt an uns selbst, ob wir Meister werden - nicht an Dortmund. Deshalb sind wir der Favorit auf die Meisterschaft.
FCB statt BVB Meister? Thiago ist optimistisch
Ihr Restprogramm hat es aber in sich. Sie müssen unter anderem noch zum Tabellendritten nach Leipzig und empfangen den Tabellenvierten aus Frankfurt.
Thiago: Vor ein paar Wochen standen wir noch acht Punkte hinter Dortmund, jetzt einen Punkt vor ihnen. Ich bin optimistisch, dass wir wieder Meister werden, weil wir in den vergangenen sechs Jahren Meister geworden sind und uns gerade in einer guten Form befinden.
Wäre es ein großes Versagen, würde der Titel am Ende doch noch nach Dortmund gehen?
Thiago: Wenn man beim größten Verein in Deutschland spielt, möchte man immer so viele Titel wie möglich gewinnen. Das ist der Anspruch des Vereins, aber auch der Anspruch von uns Spielern. Wir sind sehr hungrige Spieler, die viele Titel gewinnen möchten, egal wie viele wir bereits gewonnen haben. Deshalb spielen wir hier.
Auf einen Titel warten Sie in München weiterhin vergeblich: die Champions League.
Thiago: Wir haben es seit meinem Wechsel hierher in jedem Jahr versucht und fast immer das Halbfinale erreicht. In diesem Jahr sind wir leider schon im Achtelfinale gegen Liverpool ausgeschieden. Im nächsten Jahr bietet sich uns eine weitere Chance - bis dahin müssen wir das Geschehene aufarbeiten und wissen, was uns genau gefehlt hat, um es besser zu machen.
Was hat im Achtelfinale gegen den FC Liverpool denn gefehlt?
Thiago: Vieles. Herz, Biss, Fußball. Wenn man sich gegen einen solchen Gegner durchsetzen will, muss man sich einfach besser fokussieren und 100 Prozent geben.
CL-Aus nagt an Thiago: "Wir sind verdient ausgeschieden"
Aber mit dem 0:0 im Hinspiel haben Sie sich doch eigentlich eine ordentliche Ausgangslage verschafft.
Thiago: Ich fand unsere Leistung im Hinspiel schon nicht gut. Es ist sehr schwierig, an der Anfield Road zu spielen, aber wir haben für meine Begriffe eine zu defensive Spielweise an den Tag gelegt. Klar: Du holst ein 0:0 heraus, verteidigst gut. Aber: Nach vorne geht nichts. Wir sind am Ende verdient ausgeschieden, weil wir insgesamt kein gutes Achtelfinale gespielt haben.
Sehen das alle im Verein so?
Thiago: Das weiß ich nicht. Ich gebe nur meine Meinung kund. Und was wir in der Kabine besprechen, bleibt in der Kabine.
Neben dem FC Bayern sind auch Borussia Dortmund und Schalke 04 gegen englische Vertreter ausgeschieden. Bei all dem Geld, das in der Premier League gezahlt wird, bekommt man das Gefühl, dass die Bundesliga im Europapokal allmählich den Anschluss verliert. Wie sehen Sie die Zukunft des deutschen Fußballs?
Thiago: Die Bundesliga-Klubs haben bislang nie die ganz großen Transfers getätigt, die es in der Premier League gibt. Sie hat sich immer als andere Liga definiert. Wir wollen aber nächstes Jahr besser abschneiden.
Wen sehen Sie als Favoriten auf den Gewinn der Champions League?
Thiago: Nachdem Manchester City ausgeschieden ist, sind Barca und Liverpool für mich die klaren Favoriten. Ajax gefällt mir persönlich sehr. Sie spielen einen beeindruckenden Offensivfußball.
Thiago schwärmt von Lucas Hernandez und Javi Martinez
Für den Traum vom Champions-League-Titel legt der FC Bayern reichlich Geld auf den Tisch. Mit Benjamin Pavard und Lucas Hernandez kommen zwei Spieler für die Defensive. Was denken Sie über den Umbruch?
Thiago: Als Spieler will man immer helfen und dafür sorgen, mit dem bestehenden Kader so gut wie möglich abzuschneiden. Wenn neue Spieler verpflichtet werden, die uns helfen können, heißen wir sie herzlich willkommen.
So mancher Bundesliga-Fan kann die Spiele, die er von Lucas Hernandez gesehen hat, nur an einer Hand abzählen. Sie verfolgen die spanische Liga hingegen genau. Auf welchen Fußballer darf sich der FC Bayern freuen?
Thiago: Er ist ein sehr mutiger, motivierter und zuverlässiger Spieler, der in der 90. Minute genauso engagiert zu Werke geht wie in der 1. Minute. Er ist wegen seiner Vielseitigkeit und Aggressivität sehr wichtig für Atletico und wird deshalb auch sehr wichtig für uns werden. Mit seiner Spielweise wird er einigen Spielern von uns einen Motivationsschub geben.
Klingt nach einem zweiten Javi Martinez. Wie wichtig ist Martinez in dieser Saison für den FC Bayern?
Thiago: Javi war immer wichtig. Für mich war er der beste Spieler in der Triple-Saison 2013. In den vergangenen Jahren hat er sich stetig weiterentwickelt und bewiesen, wozu er fähig ist. Ich bin mir sicher, dass ihm noch viele Jahre auf dem höchsten Niveau bleiben.
Das Restprogramm des FC Bayern in der Bundesliga
Datum | Anstoß | Heim | Gast |
28.04.19 | 18.00 Uhr | 1. FC Nürnberg | FC Bayern München |
04.05.19 | 15.30 Uhr | FC Bayern München | Hannover 96 |
11.05.19 | 15.30 Uhr | RB Leipzig | FC Bayern München |
18.05.19 | 15.30 Uhr | FC Bayern München | Eintracht Frankfurt |