Es ist erst ein paar Monate her, da sorgte Jerome Boateng regelmäßig für Nebengeräusche beim FC Bayern. Erst richtete er eine opulente Party aus, deren Terminierung (im Anschluss an das Spitzenspiel gegen Borussia Dortmund) bei einigen Verantwortlichen auf wenig Gegenliebe stieß.
Kurz darauf, während seine Mannschaftskollegen sich gegenseitig mit Bier übergossen und mit der Meisterschale triumphierend über den Rasen marschierten, feierte der Innenverteidiger mit seinen beiden Töchtern, ehe er gedankenverloren auf dem Siegerpodest Platz nahm. Die anschließende Feier am Nockherberg ließ er aus.
Alles deutete auf einen Abschied hin, spätestens, als der damalige Präsident Uli Hoeneß seinem langjährigen Mitarbeiter unverblümt nahelegte, den Klub zu verlassen, schien das viel zitierte Tischtuch gänzlich zerschnitten. Überraschenderweise blieb Boateng doch. Auch, weil ein Wechsel zu Juventus Turin scheiterte.
Kurz nach Saisonstart zeigte er sich ob seines Verhaltens reumütig: "Das war nicht in Ordnung, aber ich wollte wirklich niemanden beleidigen oder verärgern." Er habe lediglich aus "tiefer Enttäuschung" gehandelt und nicht anders gekonnt, sagte er der Bild am Sonntag.
Jerome Boateng: Gute Laune an der Stamford Bridge
Ehrliche, versöhnliche Aussagen, die jedoch nichts daran änderten, dass dem Weltmeister von 2014 kaum Chancen auf Spielzeit eingeräumt wurden. Lucas Hernandez, der für 80 Millionen Euro von Atletico Madrid nach München gewechselt war, Benjamin Pavard, immerhin 35 Millionen Euro schwer und Abwehrchef Niklas Süle, wahrscheinlich sogar Javi Martinez, eigentlich gelernter Mittelfeldspieler, sie alle hatten die Nase im Rennen um die beiden vakanten Plätze vermeintlich vorne. Vermeintlich.
London, 25. Februar 2020, 22:18 Ortszeit: Nach dem 3:0-Erfolg über den FC Chelsea laufen die Bayern-Stars gemütlich aus, drei Spieler haben die Gruppe verlassen, drehen die Runden mit bedächtigerem Tempo als die Kollegen. Sie flachsen und lachen, haben offensichtlich großen Spaß. Serge Gnabry, David Alaba und eben Boateng, der in der jüngeren Vergangenheit - zumindest in der Öffentlichkeit - stets einen bärbeißigen Eindruck vermittelt hatte.
Hansi Flicks Vertrauensbeweis für Jerome Boateng
Dass der 31-Jährige derart gelöst auftritt, dürfte eng mit seiner aktuellen Situation beim FCB korrelieren. Er, der einst Abgeschriebene, hat sich nämlich wieder zu einem "wichtigen Bestandteil", wie Kapitän Manuel Neuer nach der Partie gegen Chelsea zu Protokoll gab, gemausert. Das konnte man allein daran festmachen, dass Hernandez, der am vergangenen Freitag gegen Paderborn den Vertreter für den gelbgesperrten Boateng gab, wieder auf der Bank Platz nehmen musste. Ein nonverbaler Vertrauensbeweis von Trainer Hansi Flick, den Boateng während der 90 Minuten zu nutzen wusste.
67 Prozent seiner Zweikämpfe, die er zumeist mit dem großen, kräftigen Olivier Giroud austrug, entschied Boateng für sich, generell agierte er sowohl auf dem Boden als auch in der Luft enorm abgeklärt und unaufgeregt, war präsent, wenn es von Nöten war. Kurz gesagt: Er machte so weiter, wie er zuletzt, vor seiner Zwangspause, die Flick dazu zwang, gegen Paderborn auf eine Dreierkette zu setzen, aufgehört hatte.
Ganz zur Freude von Neuer, der sich jüngst immer wieder dafür ausgesprochen hatte, die Viererreihe nicht mit drei Linksfüßern (Alphonso Davies, David Alaba und Hernandez) zu besetzen. "Uns war natürlich das heute lieber", sagte der Keeper mit Blick auf die Systemumstellung. Die Dreierkette sei ein Modell gewesen, "dass wir notgedrungen ausprobieren mussten".
Manuel Neuer: Boateng und Alaba? "Das war heute Weltklasse"
Seinen beiden Vorderleuten im Zentrum, Alaba und Boateng, attestierte Neuer: "Das war heute Weltklasse." Das schillernde W-Wort, mit dem der gebürtige Berliner schon lange nicht mehr bedacht wurde. Tatsächlich scheint der beeindruckende Wandel Boatengs auch ein Stück weit mit Alabas vormals behelfsmäßiger, mittlerweile aber nachweislich richtiger Berufung in die Innenverteidigung zusammenzuhängen.
"Ich denke schon, dass das gut funktioniert", sagte der Österreicher in der Mixed-Zone, als er auf die Konstellation mit Boateng angesprochen wurde. Er führte aus: "Wir haben heute wieder gezeigt, dass wir sehr stabil stehen und einen guten Spielaufbau betreiben." Aspekte, die Flick derzeit eher Rechtsfuß Boateng zutraut als Linksfuß Hernandez, der zugegebenermaßen verletzungsbedingt lange passen musste und gerade daran arbeitet, zurück in die Spur zu finden.
In die Spur hat Boateng, den man bei den Bayern nicht nur wegen der Hernandez-Verletzung, sondern auch aufgrund des langfristigen Ausfalls von Niklas Süle aus heiterem Himmel mehr denn je brauchte, definitiv zurückgefunden. "Von uns Spielern war er nie abgeschrieben", stellte Neuer zu später Stunde noch klar. "Wir wissen alle, dass er ein wichtiger Spieler für uns ist. Ich glaube, dass er sich richtig entschieden hat, wenn man seine Leistungen in den letzten Wochen sieht. Er hat das Vertrauen des Trainers."
Jerome Boateng: Die Nebengeräusche sind verstummt
Kein unwesentlicher Faktor. Vor allem, wenn man sich daran erinnert, wie Boateng bisweilen durch die Katakomben der Allianz Arena schlich, die anwesenden Reporter keines Blickes würdigte, nachdem er von Coach Niko Kovac in der vergangenen und zu Beginn der laufenden Saison wieder einmal nicht berücksichtigt wurde.
London, 25. Februar 2020, 23:40 Ortszeit: Während Alaba darüber spricht, wie gut er mit Boateng harmoniert, stielt sich dieser im Rücken davon, macht sich über den Rasen der Stamford Bridge auf in Richtung Mannschaftsbus. Wortlos wie immer, mit riesigen Kopfhörern.
Plötzlich und zur Verwunderung sämtlicher deutschen Pressevertreter, nimmt er die Muscheln ab und antwortet auf die Fragen eines englischen Kollegen, der etwas abseits gewartet hatte. Die negativen Nebengeräusche sind verstummt, Jerome Boateng schreibt endlich wieder erfreuliche Schlagzeilen.