"Spiel den Ball direkt", hallte es durchs leere Dortmunder Rund, als Benjamin Pavard zunächst mit einem Passversuch hängenblieb und daraufhin einen Freistoß in der Hälfte des BVB provozierte. Adressat Pavard blickte auf und erkannte sofort, dass Joshua Kimmich, gemeinhin als Lautsprecher bekannt, den von der Bundesliga bis zur Kreisliga allgemeingültigen Ratschlag aus voller Kehle kommuniziert hatte. Ein kurzes, entschuldigendes Nicken seitens des Franzosen folgte, ehe sich die beiden rasch wieder in den bayrischen Defensivverbund eingliederten.
Eigentlich keine sonderlich bahnbrechende Szene, da derlei Appelle an Mitspieler sowohl im Training als auch im Spiel tagtäglich vorkommen - dennoch wohnte der kurzen Sequenz ein gewisser Symbolcharakter inne: Sie stand sinnbildlich für das Selbstbewusstsein eines verhältnismäßig jungen Mannes, der an sich selbst die höchsten fußballerischen Ansprüche stellt, von seinen Kollegen beim FC Bayern selbiges erwartet und trotz seiner mitunter nassforschen Attitüde große Akzeptanz erntet.
Kurz gesagt: Kimmich, der seit Jahren meinungsstark auftritt, in der Mixed-Zone traditionell um kein Statement verlegen ist, den Finger auch in schlechten Zeiten in die metaphorische Wunde legt, ist zu ebenjenem Führungsspieler avanciert, den er verkörpern möchte. Das zeigte der 25-Jährige im richtungsweisenden Duell mit dem Dauerrivalen aus dem Ruhrgebiet eindrucksvoll. Nicht bloß, indem er seine Teamkollegen - wie in Pavards Fall - aufforderte, schnörkellos, einfach zu spielen - auch, weil er selbst mit bestem Beispiel voranging, obwohl er zu Beginn der Partie noch mit einigen Ungenauigkeiten zu kämpfen hatte.
13,73 Kilometer! Joshua Kimmich stellt Bayern-Rekord auf
Einerseits glänzte Kimmich als Dauerläufer, spulte er doch satte 13,73 Kilometer ab und stellte damit einen neuen klubinternen Bundesliga-Rekord auf. Noch nie lief ein FCB-Akteur seit Beginn der detaillierten Erfassung von Tracking-Daten (2013/14) so viel in einer Begegnung im deutschen Oberhaus. "Motivieren muss einen niemand vor solch einem Spiel", sagte Kimmich im Anschluss bei Sky mit Blick auf seine Laufleistung und schob nach: "Da rennt man von alleine."
Anderseits verbuchte der Strippenzieher 104 und damit die meisten Ballaktionen aller Münchner sowie den Höchstwert in puncto Balleroberungen (acht). Den Hauptgrund, warum sich im Nachgang alles um ihn drehte, lieferte Kimmich allerdings mit seinem technisch hochwertigen, gewinnbringenden Tor in der 43. Spielminute, als er Dortmunds Schlussmann Roman Bürki per Lupfer vernaschte. "Es war schon relativ spontan. Ich habe es nicht unbedingt gesehen, aber wir wurden im Vorfeld darauf hingewiesen, dass Bürki immer relativ hoch steht", verriet Kimmich bezüglich seines Geniestreichs.
Sein Trainer zeigte sich entsprechend entzückt, dass der Hinweis auf die Bürki'sche Marotte offenbar von Kimmich zur Kenntnis genommen wurde. "Ich freue mich, dass er gut zugehört hat", sagte Hansi Flick auf der Pressekonferenz mit einem Augenzwinkern und sparte auch ansonsten nicht mit Lob für seinen Schützling, der sich - auch dank Flick - längst im defensiven Mittelfeld etabliert hat. "Wir haben uns dazu entschieden, ihn auf die Sechs zu stellen, weil ich der Meinung bin, dass er auf dieser Position seine Qualitäten noch besser einsetzen kann. Die Art und Weise, wie er das ausfüllt, die Akzente, die er nach vorne setzt - das ist schon klasse."
Flick: Kimmich? "Ein Spieler, mit dem man als Trainer immer zufrieden ist"
Auch in der Defensive sei Kimmich "wichtig und eine gute Stütze". Auf die Frage, ob er Kimmich eines Tages sogar das Amt das Kapitäns zutraue, erklärte der 55-Jährige: "Was die Zukunft bringt, wird man sehen. Er ist ein Spieler, mit dem man als Trainer immer zufrieden ist, weil er immer hundert Prozent gibt."
Hundert Prozent gab Kimmich auch nach Abpfiff noch, indem er seine Siegesfreude emotionsgeladen herausbrüllte und sich wunderte, dass der Großteil seiner Mitstreiter es etwas gemäßigter angehen ließ. "Ich persönlich habe mich schon sehr gefreut. Als ich mich umgeguckt habe, war mir aber nicht sofort klar, ob jeder wusste, wie wichtig die drei Punkte waren", sagte der Mann des Spiels.
Joshua Kimmich hat "die Gewinnermentalität"
Der Triumph beim ärgsten Verfolger darf tatsächlich als kleine Vorentscheidung auf dem Weg zum achten Meistertitel in Serie bewertet werden. "Jetzt haben wir ein gutes Polster auf Dortmund. Das war brutal wichtig, für Dortmund wird es mental ganz schwer, dranzubleiben."
Ob sich Kimmich überhaupt als Experte im Bereich von potenziellen Mentalitätsproblemen gerieren darf, bleibt dabei jedoch fraglich. Glaubt man seinem Coach, dann liegen dem gebürtigen Rottweiler solche Schwächen nämlich fern: "Joshua hat die Gewinnermentalität." Eine Qualität eben, die für einen Führungsspieler obligatorisch ist.