Leon Goretzka beim FC Bayern München: Höchste Zeit für eine Würdigung

Nino Duit
11. Mai 202015:59
Leon Goretzka beim Training des FC Bayern München während der Coronapause.imago images
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Gemeinsam mit seinem Kollegen Joshua Kimmich gründete Leon Goretzka zu Beginn der Coronakrise die Spendenaktion #WeKickCorona, für die das Duo mittlerweile sogar ausgezeichnet wurde. Vor allem bei Goretzka überraschte dieses Engagement nicht: Der 25-Jährige ist einer der wenigen Fußballprofis, die für gesellschaftliche Belange sensibilisieren. Ehe die Bundesliga fortgesetzt wird, ist es höchste Zeit für eine Würdigung.

Es war Mitte Februar, als SPOX und DAZN für ein Interview mit Leon Goretzka am Trainingsgelände des FC Bayern München an der Säbener Straße zu Besuch waren. Kurz davor hatte sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 75. Mal gejährt und Goretzka zu diesem Anlass bei Twitter dazu aufgerufen, dem offiziellen Account der Gedenkstätte zu folgen.

Goretzka ist ein Fußballer, mit dem man am liebsten nicht über Fußball sprechen will. Sondern über Größeres, über Wichtigeres. Nicht, weil er nichts zum Fußball zu sagen hat. Nein. Sondern, weil er eben einer der wenigen Fußballer ist, die auch etwas zu Themen außerhalb des Fußballs zu sagen haben. Einer, der zwar in der Blase Profifußball lebt, aber auch die für viele seiner Kollegen offenbar unbekannten Gässchen zum Ausgang dieser Blase kennt. Zum Ausgang in die normale Welt.

Goretzkas zwei Besuche im Konzentrationslager Dachau

Zurück. Mit der Befreiung von Auschwitz wurde diese Welt vor 75 Jahren ein Stück weit normaler. Konzentrationslagers sind heute keine Orte des Schreckens mehr, sie sind Orte der Erinnerung. Und diese Erinnerung muss gepflegt werden. "Mit zwölf oder 13 Jahren war ich mit meinem Vater und der Familie eines Freundes im Konzentrationslager Dachau", erzählte Goretzka damals im Interview. "Auf einmal war alles real. Ich habe Bilder an den Wänden gesehen und bin dann in den Hof gelaufen, wo ich gewisse Orte von den Bildern wiedererkannt habe. In dem Moment habe ich angefangen zu weinen, weil mich alles überkommen hat. Der Besuch eines Konzentrationslagers sollte für jeden eine Pflichtveranstaltung sein."

Die Erinnerungen an diesen Moment der Erinnerung schienen bei Goretzka etwas ausgelöst zu haben. Er sah es offenbar an der Zeit, die Pflichtveranstaltung zu wiederholen. Am Tag nach dem Interview, das erst eine Woche später erscheinen sollte, postete er bei Twitter Fotos von ihm im Konzentrationslager Dachau. Der zweite Besuch.

Die Spendenaktion #WeKickCorona

Ziemlich genau einen Monat später überrollte die Coronakrise die ganze Welt, brachte auf einen Schlag Millionen Menschen in Lebensgefahr oder existenzielle Nöte. Und Goretzka war einer der ersten, der reagierte. Gemeinsam mit seinem Klub- und Nationalmannschaftskollegen Joshua Kimmich gründete er mit einer Eigenbeteiligung von einer Million Euro die Spendenaktion #WeKickCorona.

"Wir sind nicht nur Profi-Fußballer, sondern auch Teil unserer Gesellschaft, die mehr denn je aufgefordert ist, zusammenzuhalten und Verantwortung zu übernehmen", schrieben Goretzka und Kimmich damals. "Deshalb wollen wir denen helfen, die unsere Hilfe in diesen Wochen noch dringender benötigen als sonst." Die Spenden kommen karitativen, sozialen oder medizinischen Einrichtungen zu Gute. Über vier Millionen Euro sammelten Goretzka und Kimmich bereits, über 3600 Privat- und 60 Großspender aus den Bereichen Sport und Kultur beteiligten sich. Neulich wurden die beiden für ihr Engagement mit dem diesjährigen Ehrenpreis des Deutsche Fußball Botschafter e.V. ausgezeichnet.

Normalerweise dienen Profifußballer zur Unterhaltung der Gesellschaft. Sie werden bejubelt, sie werden idolisiert. Vor allem in Krisenzeiten wie den aktuellen zeigt sich, welches bejubelte Idol dieser Gesellschaft aber auch etwas zurückgeben will, wer Teile seines Reichtums und seiner Reichweite zur Verfügung stellt, wer ein Macher ist, wer Verantwortung übernimmt. Dass Goretzka anders als Kollegen, die entweder tatenlos zuschauten oder sich gar gegen Gehaltskürzungen sträubten, zu dieser Kategorie gehört, überraschte nicht.

Stefan Böger lobt seinen ehemaliger Spieler Goretzka

Geboren in Bochum wechselte Goretzka einst mit sechs Jahren zum lokalen VfL und erregte mit seinen herausragenden fußballerischen Leistungen früh regionales Aufsehen und bald auch nationales. 2010 berief ihn Stefan Böger in die deutsche U16-Nationalmannschaft. Knapp zehn Jahre später kann sich sein damaliger Trainer noch genau an den 15-jährigen Leon erinnern.

"Er führte die Gruppe an - was insofern bemerkenswert war, als dass er nicht von Bayern, Dortmund oder Schalke, sondern vom vergleichsweise kleinen VfL Bochum kam. Trotzdem war er vom ersten Tage an derjenige, dem alle anderen zuschauten und zuhörten", sagte Böger neulich im Interview mit SPOX und Goal. "Leon hatte einen korrekten Umgang, was sicher auch an der guten Erziehung seiner Eltern lag. Eine perfekte Mischung aus Leistung und Persönlichkeit. Aus dieser Rolle heraus ist er gegenüber dem Trainerteam aufgetreten und hat die Belange der Mannschaft vorgetragen. Das hat mir imponiert!"

Goretzka und der korrekte Umgang

Der korrekte Umgang des 15-jährigen Leons aus Bochum ging durch die Wechsel zum FC Schalke 04 und dann zum FC Bayern nicht verloren und ebenfalls nicht durch Nominierungen für die deutsche Nationalmannschaft. Auch der 25-jährige Goretzka lebt den korrekten Umgang und ist damit durchaus eine Ausnahme.

Sofern gerade keine Corona-Zwangspause herrscht, ist das allwöchentlich in den vom FC Bayern oder der Nationalmannschaft besuchten Mixed Zones der deutschen und europäischen Fußballstadien zu beobachten. Den Orten also, an denen nach Abpfiff Spieler auf Journalisten treffen. Kein Spieler hat dort die Pflicht zu sprechen, aber jeder darf zumindest angesprochen werden.

Manche Spieler reagieren darauf gar nicht, tun so, als hätten sie nichts gehört, starren geradeaus und schreiten einfach fort. Andere nutzen den sogenannten Handy-Trick und täuschen just im Moment des Fragens einen eingehenden Anruf vor. Und dann gibt es noch Spieler wie Goretzka. Spieler, die meist stehen bleiben und Auskunft geben, und wenn sie mal keine Lust oder Zeit haben, das immerhin freundlich mitteilen. Kurz: Die einen korrekten Umgang leben.

Wenn man dann in der Mixed Zone mit Goretzka spricht, dann geht es um Tore und Taktiken, um Ein- und Auswechslungen und vielleicht auch mal einen Bankplatz und die daraus resultierende Unzufriedenheit. Darüber kann man mit Goretzka wie mit jedem Fußballer reden, aber eben auch über anderes. Egal um was es geht: Er sagt, was er denkt und was ihm wichtig zu sein scheint.

Goretzka nutzt soziale Netzwerke für ihm wichtige Botschaften

Goretzka hat in diversen Interviews seine Bedenken über den zunehmenden Rassismus in Deutschland geäußert - und für zwei besonders schöne Sätze sogar Platz zwei bei der Wahl zum Fußballspruch des Jahres 2019 belegt: "Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets. Da antwortet man auf die Frage nach der Nationalität mit Schalke, Dortmund oder Bochum." Den Wählerzuwachs der AfD hat er deutlich wie kaum ein anderer Profifußballer kritisiert und die Bewegung "Fridays for Future" gelobt.

Seine sozialen Netzwerke nutzt Goretzka unterdessen weniger für Hochglanz-Imagefotos als für ihm wichtige Botschaften. So hat er auf diesem Weg in den vergangenen Monaten beispielsweise nicht nur zum Thema Nationalsozialismus sensibilisiert, sondern auch die Robert-Enke-Stiftung für ihren Einsatz beim Kampf gegen Depressionen gelobt und zum Blutspenden aufgerufen. Goretzka ist sogar das Gesicht einer Kampagne des Blutspendediensts des Bayerischen Roten Kreuzes.

"Ich kann meine Reichweite dazu nutzen, um eine gewisse Haltung zu vermitteln, sie im Optimalfall an junge Fußballfans weitergeben und so als Vorbild agieren", sagte Goretzka im Februar zu SPOX und DAZN. Damals, kurz bevor die Coronakrise den Fußballbetrieb weltweit lahmlegte.

Anschließend fungierte er mit #WeKickCorona vor allem als gesellschaftliches Vorbild. Dank der Wiederaufnahme der Bundesliga kann er künftig wieder Fußball spielen und auch seiner ursächlichen Bestimmung als sportliches Vorbild nachgehen. Dass sich dadurch etwas an seinem Verhalten abseits des Platzes ändern wird, erscheint jedoch ausgeschlossen.