Über einem unscheinbaren Matratzenladen, unweit des nicht sonderlich beschaulichen U-Bahnhofs Pankstraße prangen sie, drei via Graffiti an einer vormals grauen Hauswand angebrachte Köpfe. Die cartoonesken Antlitze der Boateng-Brüder Jerome, George und Kevin-Prince. "Gewachsen auf Beton", ist in riesigen gelben Lettern zu lesen. Eine Anspielung auf die Herkunft des Trios, das im rauen Berliner Stadtteil Wedding aufwuchs, sich ebenda auf unnachgiebigen Böden, grauem Beton, durchzusetzen lernte. Schmuddelige Fußballkäfige als Geburtsstätte für die Weltkarriere.
Torben Rhein kennt sie ebenfalls, die Bolzplätze der Hauptstadt. Nicht bloß das harte Pflaster, das im Falle der Boatengs sinnbildlich für den Bordstein-zur-Skyline-Aufstieg stehen soll, sondern auch die weniger spartanischen Spielstätten: Gummibelag, Tore, die nicht nur aus drei Metallstangen zusammengezimmert wurden. Im Park am Gleisdreieck, einer Großstadtidylle zwischen Schöneberg und Kreuzberg, wurde Rhein, der mittlerweile für den FC Bayern München kickt, neben der Ausbildung im Verein fußballerisch sozialisiert.
Rhein perfektionierte auf den Kleinfeldern seine Technik, eignete sich gegen zumeist deutlich ältere Kontrahenten Handlungsschnelligkeit an, lernte mehr und mehr, beide Füße in sein Spiel einzubeziehen. Das ungeschriebene Bolzplatz-Gesetz "Gewinner bleibt" befolgte der Berliner rigoros, musste mit seinen Jungs nur selten vor Sonnenuntergang die Platte räumen. Der Inbegriff des Bolzplatzkindes also? Nur teilweise.
Als Rhein auf den engen Gummi-Courts wirbelte, hatte er längst das geschafft, wovon viele Kinder träumen: Bereits im Alter von sieben Jahren verließ er seinen ersten Klub Stern Marienfelde und schloss sich der Berliner Hertha an, bei der er fortan sämtliche Jugendmannschaften durchlief. Rhein reifte bei der Alten Dame zum Leistungsträger, führte seine Teamkollegen jahrelang als Kapitän aufs Feld. Auf dem Rasen machte der Mittelfeldmann, dessen Spielweise gemeinhin mit der des jungen Toni Kroos verglichen wird, für Furore.
Torben Rhein: Barcelona und Arsenal fühlten bei Hertha vor
Bei internationalen Turnieren wurde Rhein regelmäßig zum besten Spieler gekürt, machte etliche Schwergewichte des Weltfußballs auf sich aufmerksam. Sowohl der FC Barcelona als auch der FC Arsenal wurden bei der Hertha vorstellig, wollten den Rohdiamanten aus Rudow nach Spanien respektive England lotsen. Rhein blieb, fühlte sich wohl in seiner Heimatstadt, in der er einerseits das professionelle Hertha-Umfeld, aber eben auch die unbekümmerten Nachmittage mit den Kumpels im Gleisdreieck-Park zu schätzen wusste. Rhein, ein Hybrid aus strebsamem NLZ-Schüler und Bolzplatz-Freigeist.
Eine Mischung, die auch nach Rheins Absagen an Barca und die Gunners Begehrlichkeiten weckte. Trainer-Urgestein Hermann Gerland höchstselbst sichtete den Youngster und überzeugte ihn im Sommer 2017 von einem Wechsel an den frisch eröffneten Campus, Bayerns Prestigeobjekt und kostspielige Drohgebärde an die internationale Konkurrenz. "Torben Rhein. Merkt Euch diesen Namen!", sagte der "Tiger", der ansonsten nicht für überschwängliche Prophezeiungen bekannt ist, im Rahmen einer Talkrunde im Deutschen Fußballmuseum, nachdem er den verheißungsvollen 14-Jährigen an die Isar geholt hatte.
Doch was zeichnet Rhein aus, warum gaben sich die Top-Klubs im Buhlen um ihn die metaphorische Klinke in die Hand? "Seine Spielintelligenz und seine Beidfüßigkeit gehören zu seinen größten Qualitäten", sagt U23-Trainer Holger Seitz, unter dem das Juwel jüngst sein Seniorendebüt in der 3. Liga feierte, im Gespräch mit SPOX und Goal. Der FCB-Coach führt aus: "Das macht ihn mit dem Ball am Fuß für den Gegner so unberechenbar und schwer zu verteidigen. Dazu ist er in allen Basistechniken sehr gut ausgebildet, egal ob Flugbälle oder beim ersten Ballkontakt. Außerdem hat er ein Gespür dafür, wo sich Räume auftun."
Torben Rheins Vorbild: Andres Iniesta
Rhein präferiert die Achterposition, die auch sein großes Vorbild Andres Iniesta einst erfolgreich bekleidete. Alternativ kann der Stratege zudem auf der Sechs oder Zehn agieren. Das Mittelfeldzentrum ist Rheins Habitat, die Kugel sein bester Freund. Das bestätigt auch Rheins Privattrainer Steffen Tepel.
Der ehemalige Nordische Kombinierer hat sich inzwischen als Neuro-Athletik-Trainer einen Namen gemacht und betreut Rhein seit der U15: "Er verfügt über hervorragende Beidfüßigkeit und Symmetrie der Bewegungstechnik im Schuss", erklärt Tepel im Gespräch mit SPOX und Goal. "Dies spricht für die Ausbalancierung beider Hirnhälften. Hierdurch erreicht er ein außergewöhnliches Maß an Präzision in Schuss und Pass."
Tepels Einschätzung spiegelt sich auch in den Zahlen wider. Seit Rhein das Trikot der Bayern trägt, stehen in insgesamt 52 Jugend-Einsätzen 18 Tore sowie zehn Vorlagen zu Buche, zuletzt brachte er sich sogar für die FCB-Amateure in die Scorerliste, steuerte beim 2:2 gegen Waldhof Mannheim eine sehenswerte Vorlage bei. "Sein peripheres Sehen ist sehr gut ausgeprägt, er kann also sehr gut wahrnehmen, was um ihn herum geschieht", weiß Tepel und ergänzt: "Hierdurch behält er die Übersicht, das gibt ihm die Fähigkeit, starke Pässe aus schwierigen Situationen zu schlagen."
U23-Trainer Seitz: "Das hat eine sehr hohe Bedeutung"
Rhein, seit Mitte Januar volljährig, soll in Zukunft regelmäßig Einsätze für die Zweitvertretung des Rekordmeisters sammeln. "Das wird ihm helfen, in allen Bereichen weitere Entwicklungsschritte zu machen, speziell im Bereich Gegenpressing. Das hat als Spieler beim FC Bayern eine sehr hohe Bedeutung", sagt Seitz.
Er traue Rhein "absolut zu", dass dieser sich mittelfristig in der U23 festspielt. "Das wäre der nächste Step. Dann wäre der folgende Schritt, am Training der Profis teilzunehmen." Dies werde jedoch "immer im Sinne der individuellen Entwicklung und Abstimmung mit den Verantwortlichen an der Säbener Straße entschieden."
Rhein, der im vergangenen Jahr mit der Fritz-Walter-Medaille in Silber ausgezeichnet wurde, will den von Seitz skizzierten Weg unbedingt beim FC Bayern gehen. "Ich will mich beim FC Bayern durchsetzen. Das ist mein klares Ziel. Wann, ist mir egal", sagte er unlängst in einem Interview mit Sport1. Obwohl zwischenzeitlich angeblich mit dem FC Chelsea abermals ein Verein von Rang und Namen angeklopft hatte, verlängerte er Ende Januar seinen Vertrag vorzeitig bis 2022.
Seitz: "Er hatte auch andere sportliche Möglichkeiten"
"Wir freuen uns alle sehr, dass er sich für einen weiteren gemeinsamen Weg mit uns entschieden hat", sagt Seitz. "Er hatte sicherlich auch andere sportliche Möglichkeiten. Dass er hier am Campus bleibt, spricht für unser Konzept, das wir ihm vorgelegt haben."
Rhein bringt sicherlich das optimale Rüstzeug mit, um sich beim FC Bayern zu etablieren. Wohin die Reise geht, bleibt- vor allem mit Blick auf sein Alter - freilich abzuwarten. Er selbst macht sich keinen Druck, will akribisch weiter an sich arbeiten, Spaß haben. Vielleicht schmückt dennoch sein Antlitz eines Tages eine der zahlreichen Graffiti-Wände im Gleisdreieck-Park. "Gewachsen auf Gummi" könnte in großen Lettern oben drüberstehen.
Torben Rhein vom FC Bayern München im Steckbrief
geboren | 12. Januar 2003 in Berlin |
Größe | 1,73 m |
Gewicht | 70 kg |
Position | zentrales Mittelfeld |
starker Fuß | beidfüßig |
Stationen | FC Stern Marienfelde 1912 (-2009), Hertha BSC (2009-2017), FC Bayern München (2017 - heute) |