Julian Nagelsmann wechselt zum FC Bayern München: Seine drei großen Aufgaben

Nino Duit
28. April 202111:55
Julian Nagelsmann soll junge Talente beim FC Bayern wieder verstärkt fördern.imago images
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Julian Nagelsmann übernimmt im Sommer das Traineramt beim FC Bayern München und unterschreibt einen Fünfjahresvertrag. Bei seinem neuen Arbeitgeber warten drei große Aufgaben auf den 33-Jährigen.

Aufgabe 1: Integration in die Strukturen

Was Julian Nagelsmanns Lebenstraum ist, wurde für Hansi Flick zuletzt zur nicht mehr erstrebenswerten Bürde: Trainer des FC Bayern München zu sein. Nur weil der aktuelle Trainer auf vorzeitige Vertragsauflösung pochte, bekam Nagelsmann den Posten. Die Hauptgründe für Flicks Aufgabe: Ein Zerwürfnis mit Sportvorstand Hasan Salihamidzic und unterschiedliche Auffassungen über die Aufgabenbereiche eines Trainers beim FC Bayern. Stichwort Kaderplanung.

"Das ist schwer zu bewerten und das steht mir auch nicht zu", sagte Nagelsmann bei der Pressekonferenz am Dienstag über Flicks Ende als Trainer des FC Bayern. Und dann erzählte er noch kurz aus seiner Kindheit, die bei einem Alter von 33 Jahren noch gar nicht so lange her ist: "Ich habe mal von meiner Mama gelernt: Wenn sich zwei Kinder im Kindergarten streiten, misch dich nicht ein."

Ab Sommer aber nimmt Nagelsmann als Flick-Nachfolger und Trainer eine entscheidende Rolle in diesem Kindergarten namens FC Bayern ein. Entscheidend für seinen Erfolg beim größten Klub des Landes wird sein, dass er trotz Einbringen eigener Ideen die dort herrschenden Strukturen schnell versteht und sich entsprechend integriert. Nagelsmann sollte tunlichst vermeiden, zwischen die Fronten oder gar in einen Streit zu geraten. Er weiß: "Ruhe ist für jeden Klub wichtig. Das wird mein Ziel in München sein."

Auf der Führungsebene ist der FC Bayern ein Klub im Umbruch: Karl-Heinz Rummenigge gibt den Posten des Vorstandsvorsitzenden zum Jahresende an Oliver Kahn ab, Salihamidzic wird immer mächtiger und weiß den Ehrenpräsidenten Uli Hoeneß hinter sich. Auf dem Platz verfügt der FC Bayern unterdessen über einen gewachsenen Führungszirkel mit meinungsstarken Anführern wie Manuel Neuer, Joshua Kimmich und Thomas Müller, die bis heute vollkommen hinter dem scheidenden und mit Salihamidzic zerstrittenen Flick stehen.

Nagelsmann muss wissen: Die Mannschaft legt Wert auf eine empathische Ansprache, eine schlüssige taktische Idee und fordernde Trainingsarbeit. Flick und Jupp Heynckes vereinten diese Aspekte und hatten Erfolg. Carlo Ancelotti und Niko Kovac ließen sie irgendwann vermissen und scheiterten letztlich auch daran, dass sich die Führungsspieler deshalb von ihnen abwendeten.

Bei der Zusammenarbeit mit Salihamidzic kommt es für Nagelsmann auf den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses und auf eine gemeinsame Linie bei Transfers sowie der generellen Kaderplanung an. Spieler sollten künftig besser nicht mehr in Lager eingeteilt werden können wie zuletzt zwischen Flick (Boateng, Alaba, etc.) und Salihamidzic (Nübel, Hernandez, Roca, etc.) geschehen.

Zu Gute kommen Nagelsmann bei seinem Einstieg in die Strukturen des FC Bayern die Umstände und finanziellen Rahmenbedingungen seines Wechsels. Eine Ablösesumme von rund 25 Millionen Euro sowie ein gut dotierter Fünfjahresvertrag lassen ihn aus einer Position der Sicherheit, aus einer Position der Macht agieren.

Aufgabe 2: Neubau und Stabilisierung der Defensive

In sportlicher Hinsicht sind Nagelsmanns vorrangige Aufgaben der Neubau und die Stabilisierung der aktuell äußerst anfälligen Defensive. Während die Offensive sowohl mannschaftlich als auch in Person von Robert Lewandowski individuell auf Rekordjagd und zumindest für die kurz- und mittelfristige Zukunft hervorragend aufgestellt ist, gilt es in der Defensive sofort große Probleme zu beheben.

Nach 31 Spieltagen hat der FC Bayern in der Bundesliga bereits 40 Gegentore kassiert, mehr waren es zu diesem Zeitpunkt zuletzt in der Saison 1991/92. Zur Einordnung: Das war die wohl verheerendste Saison der Klubgeschichte.

Und im Sommer verlassen den FC Bayern mit David Alaba und Jerome Boateng noch dazu die beiden besten Innenverteidiger. Auf dieser Position steht also ein gewaltiger personeller Umbruch an, der für Nagelsmann aber auch eine Chance sein kann. Statt jahrelang erprobte Veteranen soll er in der Innenverteidigung auf hungrige, jüngere Spieler setzen. Spieler, die etwas zu beweisen haben.

Niklas Süle (25) muss (sofern er bleibt) beweisen, dass er nach langer Verletzungspause und einer ziemlich verkorksten Saison doch noch der Abwehrchef der Zukunft werden kann. Lucas Hernandez (25), dass er seine Rekordablösesumme von 80 Millionen Euro wert ist. Neuzugang Dayot Upamecano (22), dass er auch bei einem absoluten Weltklasseklub Weltklasseleistungen bringen kann. Und Tanguy Nianzou (18), dass das Vorab-Lob von allen Seiten gerechtfertigt ist.

Auf den defensiven Außenbahnen gilt es mit Alphonso Davies und Benjamin Pavard zwei Spieler aufzubauen, die nach einer hervorragenden Triple-Saison in den vergangenen Monaten nachgelassen haben. Dazu kommen der bisher arg enttäuschende Rechtsverteidiger und potenzielle Abwanderungskandidat Bouna Sarr (29) sowie aller Voraussicht nach der schwer einschätzbare Linksverteidiger Omar Richards (23) vom englischen Zweitligisten FC Reading.

Für Nagelsmann geht es aber nicht nur um die personelle Besetzung der Defensivreihe, sondern auch um die Suche nach einem passenden System. Vertraut er auf die beim FC Bayern seit langem etablierte Viererkette oder experimentiert er mit seiner bei Leipzig gerne angewandten Dreierkette? Wie und wo soll gepresst werden? Wie steht es um die Höhe der Abwehrkette und im Umkehrschluss um die Tiefensicherung?

Zur Beantwortung dieser Fragen kommt Nagelsmann mit dem Wissen, in Leipzig die sicherste Defensive der Bundesliga gebaut zu haben. Während der FC Bayern bereits 40 Gegentore kassierte, steht Leipzig aktuell bei lediglich 25.

FC Bayern: Gegentore pro Bundesliga-Saison (seit 2010)

SaisonGegentore
2010/1140
2011/1222
2012/1318
2013/1423
2014/1518
2015/1617
2016/1722
2017/1828
2018/1932
2019/2032
2020/21*40

*noch drei Spiele ausstehend

Aufgabe 3: Einbau eigener Talente

David Alabas ablösefreier Abschied vom FC Bayern ist doppelt bitter: Mit ihm geht nicht nur ein hervorragender Abwehrspieler, sondern auch eine Identifikationsfigur. Der mittlerweile 28-jährige Österreicher ist bekanntlich bis heute der letzte Spieler, dem beim FC Bayern der Schritt von der eigenen Nachwuchsabteilung zu einem Stammplatz bei der Profimannschaft gelungen ist.

Alaba debütierte im Frühling 2010 und damit über sieben Jahre vor der Eröffnung des rund 70 Millionen Euro teuren FC Bayern Campus. Der Bau war die Reaktion der Klubführung auf die fehlende Durchlässigkeit von der Nachwuchsabteilung zu den Profis. Doch auch seit der Campus-Eröffnung 2017 setzte sich kein eigens ausgebildetes Talent nachhaltig durch.

Nagelsmann wird auch daran gemessen werden, dass sich das ändert. "Es ist natürlich der Anspruch, den recht neuen Campus zu integrieren. Das wird eine Aufgabe sein", sagte er bei der Pressekonferenz. Mit seiner Vergangenheit bei der TSG Hoffenheim und RB Leipzig hat er immerhin perfekte Vorerfahrungen für die Bearbeitung dieser Baustelle. Beide Klubs haben es schließlich zu ihrem Konzept gemacht, jungen Talenten früh zu vertrauen, sie zu fördern (und irgendwann zu verkaufen). Für Nagelsmann angenehm: Beim FC Bayern dürfte der dritte und letzte Schritt meist wegfallen.

Vor allem bei Leipzig handelte es sich bei den von Nagelsmann entwickelten Spielern aber hauptsächlich um sehr jung verpflichtete Profis und nicht langfristig selbst ausgebildete Talente. Spieler, wie auch der FC Bayern mit Nianzou (2020 von PSG gekommen) einen im Kader hat.

Erste Profierfahrungen sammelten beim FC Bayern in den vergangenen Monaten aber auch Talente, die zuvor zumindest kurzzeitig in den eigenen Nachwuchsmannschaften spielten: Christopher Scott (2020 von Bayer Leverkusen gekommen), Chris Richards (2018 vom FC Dallas gekommen, aktuell an Hoffenheim ausgeliehen) oder auch Jamal Musiala (2019 vom FC Chelsea).

Musiala (3. v. l.) mit seinem Jugendtrainer Simmonds und zwei Mitspielern.SPOX

Von Musialas Qualitäten durfte sich Nagelsmann bereits beim 3:3 gegen seine Leipziger im vergangenen Dezember vergewissern, als der damals 17-Jährige ein Tor schoss. "Mit ihm werden sie noch schöne Erlebnisse haben", sagte Nagelsmann anschließend und grinste verschmitzt. Jetzt weiß man: Sie werden diese schönen Erlebnisse vermutlich gemeinsam haben.

Diesen Auftritt von Musiala nutzte Nagelsmann damals übrigens auch, um dem FC Bayern generell zu "sehr guten Entscheidungen im Nachwuchs" zu gratulieren: "Sie haben auch ein paar gute Spieler von Hoffenheim verpflichtet, die sicherlich oben rauskommen können." Damit meinte er die beiden 18-jährigen Offensivspieler Armindo Sieb und Mamin Sanyang, die 2020 von Hoffenheim zum FC Bayern wechselten und aktuell für die U19 tätig sind. Zu Saisonbeginn spielten sie dort gemeinsam mit dem aktuell womöglich größten Campus-Talent Thorben Rhein (18, 2017 von Hertha BSC gekommen) zusammen, der mittlerweile aber fester Bestandteil der Reservemannschaft in der 3. Liga ist.

Vielversprechende Talente sind beim FC Bayern also durchaus vorhanden, ihr Einbau in die Profimannschaft liegt fortan an Nagelsmann.