Es gibt ja diese schönen Geschichten von ganz besonders Taktik-versessenen Fußballtrainern, die nicht einmal beim abendlichen Ausgehen ihre Leidenschaft ausblenden können. Statt über das Wetter oder die neuesten Corona-Maßnahmen zu parlieren, stellen sie dann mit Pfeffer- und Salzstreuern oder sonstigen Tisch-Utensilien Spielszenen nach. So soll es einst beispielsweise bei einem Treffen zwischen Pep Guardiola und Thomas Tuchel in der Bar Schumanns am Münchner Odeonsplatz abgelaufen sein.
Viele Jahre später saß Guardiolas Nach-Jupp-nach-nach-Nachfolger beim FC Bayern gemeinsam mit Tayfun Korkut in einem Pressekonferenzraum ganz tief im Bauch des Berliner Olympiastadions. Während Julian Nagelsmann die Ausrichtung seiner Mannschaft erklärte, warf Herthas Trainer Korkut versehentlich die aus Sponsoring-Gründen vor ihm platzierte Cola-Flasche um. Das passte ganz gut ins Bild, die Flasche symbolisiert in etwa Herthas Auftritt in den 90 Minuten davor.
Der FC Bayern hatte mit 4:1 in Berlin gewonnen, der Sieg hätte ob der Münchner Dominanz aber eigentlich deutlich höher ausfallen müssen. Beachtlich war das vor allem auch, weil Nagelsmann wegen der Abstinenz seines Stammlinksverteidigers Alphonso Davies eine neue taktische Ausrichtung testete.
Julian Nagelsmanns Umgang mit dem Davies-Ausfall
Davies ist ein Spieler, wie es ihn im Kader des FC Bayern nur einmal gibt: ein nomineller Außenverteidiger, der bei eigenem Ballbesitz zum Außenstürmer mutiert. Um seine Stärken perfekt auszunutzen, etablierte Nagelsmann in den vergangenen Monaten eine Art Dreieinhalberkette. Nun muss Davies wegen einer Herzmuskelentzündung auf unbestimmte Zeit passen.
"Unsere Idee hängt nicht von einem Spieler ab. Das wäre ein Armutszeugnis", stellte der Trainer zuletzt klar. Nagelsmann sieht so eine Situation eher als Herausforderung denn als Ärgernis. Schon bei seinen vorherigen Stationen TSG Hoffenheim und RB Leipzig erarbeitete er sich einen Ruf als leidenschaftlicher Taktiktüftler.
Gegen Borussia Mönchengladbach (1:2) und beim 1. FC Köln (4:0) versuchte Nagelsmann Davies' Ausfall mit zwei gelernten Mittelfeldspielern auf den Außenverteidigerpositionen abzufangen, die bei eigenem Ballbesitz gelegentlich ins Zentrum einrücken. Joshua Kommich kam damit auf rechts zwar ganz gut klar, Marcel Sabitzer auf links aber eher weniger. Problematisch war daran neben Sabitzers feherhaftem Auftreten vor allem auch der Umstand, dass Kimmich im Zentrum fehlte.
In Berlin testete Nagelsmann nun eine reine Dreierkette mit drei gelernten Innenverteidigern und gleichzeitig keinem einzigen Außenverteidiger auf dem Platz. Benjamin Pavard, Niklas Süle und Lucas Hernandez wurden weit vorne von den Flügelstürmern Serge Gnabry und Kingsley Coman flankiert, vor der Abwehr spielten der sehr umtriebige Kimmich und Corentin Tolisso.
FC Bayern: Die Dreierkette überzeugt in Berlin
Die neue Ausrichtung funktionierte deutlich besser als die Sabitzer-Variante, wobei die Hertha den FC Bayern auch weniger forderte als es zuletzt Gladbach oder Köln taten. Oder lag das gar nicht an der Hertha selbst, sondern an der neuen Ausrichtung? Abgesehen von wenigen Konterchancen Mitte der ersten Halbzeit und einer guten Gelegenheit von Vladimir Darida kurz nach der Pause versprühten die Gastgeber keine Gefahr.
Jurgen Ekkelenkamps Ehrentreffer zum 1:4 ermöglichte der eingewechselte Dayot Upamecano mit einem individuellen Fehler, wofür ihn Nagelsmann anschließend öffentlich kritisierte. Die drei Innenverteidiger aus der Startelf hätten ihren Dienst dafür "sehr gut und gewissenhaft" verrichtet. Pavard, Süle und Hernandez leisteten sich keine individuellen Aussetzer, verzeichneten starke Passquoten und gewann jeweils über 70 Prozent ihrer Zweikämpfe und sämtliche Kopfballduelle.
Julian Nagelsmann lobt die Umstellungs-Bereitschaft
"Ich bin sehr zufrieden und glücklich mit dem Spiel und auch mit dem Ergebnis. Es war wichtig, wenn Hertha tief verteidigt, dass wir wenige Konteraktionen daraus bekommen, konzentriert und scharf im Gegenpressing bleiben", analysierte Nagelsmann. "Und da waren unsere Spieler extrem scharf, haben sehr, sehr viel Druck gemacht, auch in der gegnerischen Hälfte."
Die stabile Defensivleistung hing nicht nur mit der Dreierkette zusammen, sondern auch mit der aktiv gegenpressenden restlichen Besetzung. Das war entscheidend für den Erfolg, bot Nagelsmann im Zuge seiner taktischen Umstellungen mit Gnabry, Coman, Leroy Sane, Thomas Müller und Robert Lewandowski doch erstmals in dieser Saison seine fünf besten Offensivspieler gleichzeitig auf. Hätten sie nicht aktiv mitgearbeitet, wäre die Dreierkette wohl hilflos gewesen.
"Wir werden variabler, das ist gut", sagte Nagelsmann nach dem Spiel und lobte die Bereitschaft seiner Spieler für taktische Umstellungen: "Es sitzt keiner drinnen und denkt sich: 'Was redet der da vorne? Wir sind Bayern und machen immer das Gleiche!' Die Jungs sind sehr bereit dafür und das ist entscheidend." Wichtig ist dem Trainer, dass etwaige Umstellungen aber keine Abkehr von der generellen Ausrichtung bedeuten: "Wir wollen immer dominant sein, immer nach vorne spielen, immer nach vorne verteidigen."